Junge Frauen wissen oft gar nicht, welche Macht sie haben, ältere Männer um den kleinen Finger zu wickeln. Und auszunehmen wie Weihnachtsgänse. Auch dann, wenn sie sich wie Dr. Georg Zinnbeck überlegen fühlen, lebenserfahren und altklug. Eigentlich wartet man in Thomas Persdorfs neuem historischen Roman nur darauf, dass Dr. Zinnbeck ordentlich ausgenommen wird. Liebe kann so herrlich blind machen. Und macht ältere Männer nur zu leicht zu Narren.

Dabei geht es mit Thomas Persdorf einmal mehr in die Geschichte, eins jener Kapitel, von denen man sicher sein kann, dass die meisten Leute wenig bis nichts darüber wissen, irgendwas gehört haben. Aber ansonsten so herrlich unbeleckt sind, dass sie auch keine Lehre für die Gegenwart draus ziehen. Geschichte wiederholt sich als Farce und als Farce der Farce auch deshalb, weil Ahnungslosigkeit der Normalzustand des grummelnden Staatsbürgers ist.

Und bei Dr. Zinnbeck ist es so, dass er durch einen Zufallsfund mitten hineingestoßen wird in ein Kapitel der Französischen Revolution. Nur in Sachen junge Frauen lernt er nicht wirklich dazu. Auch wenn ihn die schöne Marlies, die gleich anfangs von einem ihrer Liebhaber fast krankenhausreif geprügelt wird, des öfteren versetzt, warten und vor sich hin köcheln lässt, während sie mit anderen Männern ihre Abenteuer erlebt.

Ein Karrierist der Revolution

Grund genug für den vormaligen Lektor, der als Mitbesitzer eines Mehrfamilienhauses vorzeitig in Ruhestand gegangen ist und sich nun seiner Liebe zu Antiquitäten widmet, sich irgendwie anderweitig abzulenken. Im Speziellen: mit einer Louis-Quince-Uhr, die er in einem Auktionskatalog findet, fast 300 Jahre alt, ziemlich ramponiert, also eher ein Liebhaberstück, an dem er seine eigenen Restaurierer-Talente ausprobieren kann. Und mit dem er Überraschungen erlebt – angefangen mit Hinweisen auf ihren Vorbesitzer, der zu den einschlägig bekannten Köpfen der Französischen Revolution gehörte: Bertrand Barère de Vieuzac, ein Jurist aus der Provinz, der sich in der Revolution bei den radikalen Kräften etabliert und der an dem Tag, als es zur Abstimmung über das Todesurteil für König Ludwig XVI. kam, den Nationalkonvent leitete. Eine denkbar knappe Abstimmung.

Und auch im Juli 1793 fiel er ein weiteres Mal auf, als er den Vorschlag machte, alle Königsgräber von Saint-Denis zu öffnen und zu zerstören und die Metalle aus den Gräbern und das Blei der Sarkophage für die Waffenversorgung der Truppen zu benutzen. Ein belegter Vorgang, den Persdorf nutzt, eins der Schmuckstücke aus den Gräbern – eine Brosche der Königin Anna von Österreich, Gemahlin von Ludwig XIII., unverhofft wieder auftauchen zu lassen. Ein echter historischer Kriminalfall, den Dr. Georg Zinnbeck in nächtelangen Recherchen versucht zu lösen.

Und natürlich ist so eine Brosche eine Menge Geld wert, wenn sie auf den Markt kommt. Und Zinnbeck scheint ein Narr der besonderen Güte zu sein: Ungehemmt plaudert er alles, was er herausfindet, aus. Auch die horrenden Preise, die ihm geboten werden, als er ein Auktionshaus kontaktiert – und sich fast ein zweites Mal verliebt. Vielleicht diesmal in die Richtige.

Liebe macht blind

Aber wer weiß das schon? Erst recht, wenn die fesche Marlies von ihrer Freundin Marion da so einiges Verdächtiges gehört hat, denn die ist wiederum mit einem Ex-Polizisten zusammen, der natürlich ganz geheime Quellen hat. Da schüttelt man beim Lesen nur den Kopf über den armen Herrn Doktor, wie er sich hinhalten, nasführen und austricksen lässt. Und gleichzeitig weiß man: Wenn es ganz verrückt kommt, kann einem das genauso passieren. Liebe und Verliebtheit machen blind und dumm.

Da hilft dann nur die große historische Distanz. Denn was Bertrand Barère de Vieuzac getrieben hat, das lässt sich ja in historischen Dokumenten und historischen Abhandlungen alles nachverfolgen. Das ist vielleicht ein bisschen trocken und auch Dr. Zinnbeck ist es zu trocken, weshalb er dem, was er da herausfindet, die Form kleiner Kurzgeschichten gibt, mit denen die Atmosphäre dieser Zeit lebendig wird.

Eine nicht sehr angenehme Zeit. Eine Zeit der Teuerung und der Hungersnot. Revolutionen beginnen nicht, weil irgendein Revolutionär meint, jetzt sei es Zeit für einen Aufstand. Sie beginnen mitten in der größten Not, wenn die Menschen sowieso schon nicht mehr wissen, wie sie über die nächsten Tage kommen sollen sollen und einen Kanten Brot herbekommen. Weshalb sie in der Regel irrational und gewalttätig sind. Friedliche Revolutionen sind die Ausnahme.

Dr. Zinnbeck im Glück

Und deshalb fressen Revolutionen in der Regel am Ende ihre Kinder – also die berühmtesten Feuerköpfe. Und Opportunisten vom Schlage eines Barère überleben, windige Köpfe, die sich mitten im wilden Galopp anpassen und eifrig Karriere machen. Und sich vielleicht auch noch ein bisschen bereichern. Für Dr. Zinnbeck die Entdeckung seines Lebens, die er unbedingt mit jemandem teilen muss. Und wer wäre da näher als die anschmiegsame Marlies, die sich von seinen Erzählungen regelrecht beeindrucken lässt?

Und die dann auf einmal verschwindet, scheinbar wieder beleidigt von einem Liebhaber, der mit ihr falsch umgegangen ist. Und dabei muss sich Dr. Zinnbeck schon von seine Mutter jedes Mal den Kopf waschen lassen, wenn er sie trifft. Denn seine Liaison mit der flatterhaften jungen Frau beschäftigt die Gerüchteküche im Haus. Und manchmal sehen eben auch strenge Mütter besser, wie der doch eigentlich erwachsene Sohn offenen Auges in sein Verderben läuft.

Am Ende ist zwar nicht so recht klar, welche Rolle die fesche Marlies genau beim Verschwinden der kostbaren Brosche gespielt hat. Aber für den gealterten Junggesellen ist das Ganze wohl auch heilsam gewesen. Er hat eine Menge gelernt – auch über das harte Leben der Uhrenbauer zur Zeit des Sonnenkönigs. Daran lässt Persdorf seine Leser teilhaben. Und allein bleibt der Pensionär Zinnbeck am Ende auch nicht, auch wenn er ganz froh ist, dass der ganze Trubel mit der umtriebigen Marlies und ihren oft genug seltsamen Liebhabern vorbei ist.

Thomas Persdorf „Zinnbecks Leidenschaften“, Shaker Media, Düren 2024, 26,90 Euro

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