Die DDR wäre gern ein modernes und wettbewerbsfähiges Land gewesen. Das ließ man sich auch eine Stange Geld kosten. Auch im Bereich Digitalisierung. Doch wer heute mit digitalen Geräten aufwächst, hat keine Vorstellung davon, wie das damals war, als tatsächlich noch Fernseher (aus russischer Produktion) als Computerbildschirme herhalten mussten und IT-Begeisterte im Ländchen Programme und Spiele selbst entwickelten. René Meyer taucht mit diesem Buch tief hinein in die Computer-Geschichte der DDR.

Auch in die ganz frühe Geschichte, als die Kybernetik weltweit in den Kinderschuhen steckte und die ersten namhaften Rechner noch ganze Werkhallen füllten. Und der „Große Bruder“ in Moskaus die Kybernetik zeitweilig für eine Verschwörung hielt, bevor man auch dort auf den Trichter kam, dass das Tempo der modernen Gesellschaft künftig von Rechenkapazitäten bestimmt werden würde. Und zwar in einer Geschwindigkeit, das sich frühere Generationen gar nicht vorstellen konnten.

Und da die DDR auch hochwertige Maschinen exportieren wollte, blieb dem Ländchen gar nichts anderes übrig, als eine eigene Computer-Industrie aufzubauen. Denn die neue Technologie war ja auch geeignet, in modernen Waffensystemen eingesetzt zu werden. Also unterlag der komplette Ostblock – und damit auch die DDR – einem Embargo für die westliche IT und die notwendigen Speicherchips.

Ein Rennen, das nicht gewonnen werden konnte

Während die Geschichte vom durch die Stasi im Westen geklauten 1-MB-Speicherchip bis heute immer wieder gern nacherzählt wird, geht dabei die Tatsache unter, dass die DDR tatsächlich eine eigene Speicherchip-Produktion besaß, die zeitweilig durchaus Weltniveau hatte.

Aber wie das so ist mit einem kleinen Land, das alles selbst entwickeln will und nur für einen kleinen Markt produziert: Das Kosten-Nutzen-Verhältnis klaffte gegenüber den Tech-Giganten des Westens gewaltig auseinander. Letztendlich war der groß angelegte Versuch der DDR, eine eigene Computer-Industrie zu schaffen, auch einer der Gründe, warum das Land dann Ende der 1980er Jahre ökonomisch in die Knie ging.

Aber trotzdem waren da längst wesentliche Teile der DDR-Wirtschaft computerisiert. Meyer schildert auch akribisch, wie die im Land gefertigten Bauteile und Klein-Computer die Herzen der jungen Tüftler höher schlagen ließen. Technik-Zeitschriften berichteten über die Szene. Selbst über die Messe der Meister von Morgen wurden Talente gesucht, die die Entwicklung neuer Programme und Spiele vorantrieben. In dieser Szene junger Talente wurde der 1970 geborene Autor groß. Und seine Begeisterung für die Computer dieser frühen Jahre hat er sich bis heute bewahrt.

Wohl wissend, dass sich die Entwicklung in West und Ost lange Zeit kaum unterschied. Auch im Westen gab es die ersten markttauglichen Personal-Computer erst in den 1980er Jahren. Doch sie wurden viel schneller leistungsfähiger als ihre Pendants in der DDR. Weshalb sie sehr schnell zu begehrten Mitbringseln aus dem Westen wurden. Doch ein Unterschied wurde noch kurz vor der „Wende“ deutlich: Im Osten war eine regelrechte freie Programmierer-Szene entstanden.

Was noch forciert werden sollte durch die Einführung des Computer-Unterrichts in den Schulen. Auch das gab es ganz am Ende noch, wenn auch erst einmal nur punktuell. Mit René Meyer lernt man die großen Unternehmen – wie Robotron – kennen, die für die Computerisierung der DDR eine zentrale Rolle spielten. Man lernt die Entwickler-Kollektive kennen und etliche der Enthusiasten, die sich im ganzen Land vernetzten und ihre Software miteinander tauschten.

Ein kleines Land im Chip-Zeitalter

Es ist im Grunde ein Buch, das auch diesen geradezu wahnwitzigen Versuch eines kleinen, rohstoffarmen Landes feiert, beim Rennen um die Digitalisierung der Welt mitzuhalten. „Letztendlich entstehen aus eigener Kraft nützliche Produkte, deren Selbstkosten aber ein Mehrfaches des Weltmarktpreises betragen“, schreibt Meyer. „Geschaffen von Menschen mit pfiffigen Ideen, in einem Land, das sich auf allen denkbaren Kanälen dem Chip-Zeitalter zuwendet. Und vielleicht trägt die enorme Kraftanstrengung, eine Computer-Industrie aufzubauen, die alles besser machen soll, zum Ende des Staates bei.“

Vielleicht.

Vielleicht gilt das für alle Großversuche der DDR, bei der Produktion moderner Technologien das Tempo des Westens mitzuhalten und über den Export der Produkte die notwendigen Einnahmen für ein Land zu generieren, das immer über zu wenige Devisen verfügte. Und das alle wesentlichen Rohstoffe auf dem Weltmarkt oder gleich beim großen Bruder teuer einkaufen musste.

So betrachtet ist gerade die Computer-Industrie der DDR auch ein Beispiel dafür, dass ein Land mit so wenigen Ressourcen letztlich immer im Hintertreffen gegenüber einer hoch beschleunigten Entwicklung im Westen war. Eine Entwicklung, die gerade in der IT einen entscheidenden Entwicklungsabstand von Jahren ausmachte.

Weshalb die deutsche Einheit dann auch zwangsläufig das Ende der DDR-Computerindustrie bedeutete und einen Siegeszug der westlichen Computer auch im Osten. Und dennoch hat die damals entstandene Tüftler-Szene im Osten ihre Faszination bis heute nicht verloren. Selbst die Computer-Modelle aus DDR-Produktion stehen heute noch in einschlägigen Museen oder werden von ihren Besitzen liebevoll gepflegt.

Ein Traum von DDR 2.0

Auch weil damit ein Traum verbunden war, den zumindest ein Teil der DDR-Gesellschaft tatsächlich träumte. Bis zuletzt. Der Traum von einem technologisch hochmodernen Land, das auch in der Lage wäre, seine eigenen Technologien zu entwickeln, die zumindest in einschlägigen Filmen und SF-Romanen eine Art DDR 2.0 ergaben – mit stolzen Ingenieuren, Raumfahrern und Weltreisenden, die die Botschaft in die fernste Ecke des Universums trugen, wie bravourös der Sozialismus die technologische Revolution gemeistert hat.

Und dass die Möglichkeiten der modernen Computertechnik auch in Kunst und Musik erlebbar waren, schildert Meyer natürlich auch – erinnert etwa an die legendären Computer-Musiken von Reinhard Lakomy, Pond und Sterncombo Meißen. Die Alben begeistern noch heute ihre Hörer. Und sie gaben den jungen Leuten in der späten DDR durchaus das Gefühl, dass dieses Ländchen vielleicht doch mithalten könnte bei den Entwicklungen, die im Westen stattfanden. Manchmal halt auch nur, weil man sich ein bisschen Technik aus dem Westen besorgte. Oder besorgen ließ.

Aber es entsteht eben doch ein großes, sehr detailliertes Zeitbild, das René Meyer hier ins Buch gebracht hat. Und damit auch eine ziemlich komplette Übersicht über all das, was zur Computer-Entwicklung in der DDR dingfest zu machen ist. Noch 1989 entstand mit „Zwei schräge Vögel“ ein Film über richtige Computer-Verrückte in Leipzig. Ein Film, der vorausweisen sollte in neue digitale Zeiten und der gleichzeitig zum Abgesang wurde für ein spezielles Kapitel Ostgeschichte, das mit der deutschen Einheit radikal zu Ende ging.

Aber vielleicht ist es gerade deshalb wichtig, an diese durchaus enthusiastischen Zeiten zu erinnern, die all denen, die sich anstecken ließen, eben auch das Gefühl gaben, selbst etwas schaffen und Wirklichkeit werden zu lassen, das vor aller Augen auch funktionierte. Ein Gefühl, das man nicht hat, wenn man seinen Computer samt Software einfach im Laden kaufen kann.

Vielleicht ist es genau dieses Gefühl, das vielen heute fehlt: Dass der eigene Erfindergeist und die eigene Lust am Umsetzen auch gefragt sind. Nichts macht Menschen so hilflos wie das Gefühl, dass niemand von einem wirklich etwas Außergewöhnliches erwartet.

René Meyer „Von Robotron bis Poly-Play. Computer und Videospiele in der DDR“ Das Neue Berlin, Berlin 2024, 20 Euro.

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Meine Cousine 2. Grades, Jg. 1919 und 2019 mit fast 100 gestorben, erzählte mir noch vor 10 Jahren nicht nur, wie sie 1939 zum Skilaufen in Norwegen war, sondern auch, wie sie Mitte der Siebziger in Halle/Saale in der Volkshochschule Computerkurse besuchte. Aus eigenem Interesse, ohne beruflichen Auftrag. Ob sie da, sagen wir, Fortran lernte und Lochkarten stanzte, wer weiß,

Und das war zudem die Zeit, als in THs der DDR Ingenieurs-Studiengänge das funkelnde Wort Kybernetik im Namen trugen, so auch in den Achtzigern in meinem Fall. Und gut erinnere ich mich an einen Besuch bei “meiner” Patenbrigade bei ORSTA Hydraulik in zweietagigen Baracken am hiesigen Zoo, die führten der ganzen Klasse auf riesigen Computern mit nur textfähigen monochromen Bildröhren und mit markanten Magnetbandspulen die damals so populäre Mondlandungssimulation vor. Was haben wir gestaunt. Tempi passati.

Ihrem Schlußsatz “Nichts macht Menschen so hilflos wie das Gefühl, daß niemand von einem wirklich etwas außergewöhnliches erwartet.” möchte ich – vielleicht etwas abgeschwächt – beipflichten.

Der verdienstvolle Professor, dessen Vorlesungen “Algorithmen und Programmierung” ich weiland in Ilmenau besuchte, war ein gewisser Günter Bräuning: https://zs.thulb.uni-jena.de/servlets/MCRFileNodeServlet/jportal_derivate_00163149/IUN_38_1995_03_S12_001.pdf

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