Wenn angelernte Verhaltensweisen schädlich, ja geradezu katastrophal sind, dann kann man sie sich nur abgewöhnen. Oder noch besser: abtrainieren. Verlernen, indem man ganz bewusst andere Verhaltensmuster in sein Leben einführt. Das wissen alle, die nach gesundheitlichen Rückschlägen ihre Ess-, Trink- und Bewegungsmuster ändern und merken: Auf einmal geht es ihnen deutlich besser. Und genauso ist es bei schädlichen Verhaltensweisen wie dem Patriarchat und der Zerstörung unseres Klimas.

Wie man aus den zerstörerischen Mustern des Patriarchats herauskommt – oder sie gar erst erkennt in ihrer ganzen dummen Alltäglichkeit – das haben zwei Autor/-innen-Kollektive schon in den Bänden „Unlearn Patriarchy“ und „Unlearn Patriarchy #2“ deutlich gemacht. Und dass „Unlearn CO2“ jetzt in gleicher Aufmachung erscheint, hat damit keineswegs überraschend zu tun.

Denn es sind Männer, die die Welt verbrennen. Es sind die Funktionsweisen des Patriarchats, die dazu führen, dass die Menschheit binnen weniger Jahrzehnte eine Welt zerstört, die die menschliche Zivilisation erst möglich gemacht hat. Beides gehört zusammen: ein ignorantes und unbelehrbares Patriarchat und die Zerstörung unserer Lebensgundlagen.

Die Privilegien einer winzigen Gruppe

Beim Umlernen geht es aber vor allem auch darum, im Kopf herauszukommen aus all den Alternativlosigkeiten, die die fossile Wirtschaft seit Jahrzehnten gepredigt und behauptet hat. Längst haben wir sämtliche Technologien, um uns endgültig vom Verbrennen fossiler Brennstoffe und falscher Ernähungsmythen zu verabschieden. Ein anderes Leben ist nicht nur möglich – es ist auch voller „Geschenke“ – und das gerade für all die Menschen, die heute unter dem Patriarchat genauso leiden wie unter den Folgen der Klimaerhitzung.

Es geht zusammen – im Kopf genauso wie in der Wirklichkeit. Denn das Verbrennen der Welt stützt nur die Privilegien einer winzigen Gruppe stinkreicher Männer an der Spitze der Wohlstandspyramide. Oder mit den Worten der Psychologin Katharina von Bronswijk: „Es sind nun mal (weiße) Männer, die in unserer Gesellschaft auch die meisten Privilegien genießen, und deshalb haben sie auch am meisten zu verlieren. Die nötige Veränderung unserer Lebensweise und auch die Umwälzungen der letzten Jahrzehnte bedrohen diese Privilegien.“

Und deshalb wehren sie sich auch mit allen ihren Möglichkeiten – falschen Werbeversprechen, massivem Lobbyismus, Lügenmärchen, Angstmacherei usw. Sie sind es, die die große Thinktanks finanzieren, die mit Millionenbudgets den Klimawandel leugnen oder verharmlosen, die den Menschen einreden, es käme nicht so schlimm und man könne bedenkenlos an den alten fossilen Technologien festhalten. Sie bestechen Politiker und finanzieren Parteien, die ihre Lügenmärchen zu Politik machen. Und sie bekämpfen jede Regierung, die auch nur zaghaft versucht, dem fossilen Unsinn ein Ende zu bereiten.

Es geht um pure Physik

Die Autor/-innen des Buches räumen mit vielen dieser Lügen und Vorurteile auf, die natürlich in den Köpfen der Menschen sitzen. Sie wurden mit diesem Versprechen eines falschen Wohlstands seit Jahrzehnten geködert und sind natürlich alle leicht in Panik zu versetzen, wenn man ihnen permanent vom Niedergang, von der Zerstörung ihres Wohlstands erzählt. Und es stimmt ja: Die Märchen vom alten, fossilen Wohlstand und eines völlig entgrenzten Kapitalismus sitzen fest in unseren Köpfen. Die meisten Menschen können sich gar nicht vorstellen, wieviel sie tatsächlich gewinnen, wenn mit dieser Verheizung der Welt endlich aufgehört wird.

Obwohl es diese Alternativen längst gibt. Wir hatten ja alle über 30 Jahre Zeit, es einfach mal anders auszuprobieren. Manche ignorieren die katastrophalen Folgen der Klimaerhitzung noch heute. Aber ganz bestimmt kein ernst zu nehmender Wissenschaftler. Im Gegenteil. Auch die Wissenschaftswelt war entsetzt, dass ihnen einer ihrer Kollegen – der NASA-Klimaforscher James Hansen – 1988 deutlich ins Stammbuch schrieb: „Die globale Erwärmung hat begonnen“. So stand es in der „New York Times“. Klipp und klar.

Die Erwärmung war nicht mehr nur das Ergebnis von Berechnungen, mit denen die Kimaforscher die Folgen des ungebremsten fossilen Wachstums aufzeigten. Ab da war die Erhitzung der Atmosphäre nachweisbar, das Drama in allen Messreihen sichtbar.

„Seit Jahrzehnten verläuft der Temperaturanstieg genau so, wie es von Klimawisssenschaftler/-innen schon in den 1970er und 1980er-Jahren vorhergesagt wurde“, schreibt der Klimafolgenforscher Stefan Rahmstorf. „Und wir kennen die Ursache.“

Das heißt: Wir haben es mit einem simplen physikalischen Vorgang zu tun, dessen Mechanismus die Forscher schon im 19. Jahrhundert entschlüsselt haben. Seit den Forschungen von Svante Arrhenius
ist die Wirkweise von Kohlendioxid in der Atmoshäre bekannt.

Wie man Menschen ein schlechtes Gewissen macht

Aber es geht ja in der Debatte nicht um Rationalität, sondern um Gier und Bequemlichkeit. Und um Abhängigkeiten, worauf mehrere Autor/-innen in diesem Band eingehen. Denn mit dem „CO2-Fußabdruck“ ist den großen Fossilkonzernen (allen voran Exxon-Mobile) etwas gelungen, was bei kleinen Konsumenten als Scham- und Versagensgefühl ankommt. Als wäre jeder Einzelne für den enormen CO2-Fußabdruck verantwortlich, den seine Lebensweise erzeugt.

Was aber nur zu einem kleinen Teil stimmt – dem Teil, an dem jeder tatsächlich etwas ändern kann. Aber den großen CO2-Rucksack bekommen wir alle, weil unsere gesamte Gesellschaft auf fossilen Strukturen und fossilen Gewinnmodellen aufgebaut ist. Und damit der enormen Marktmacht von Konzernen, die jedes Jahr Milliardengewinne machen und überhaupt nicht gewillt sind, ihr umweltzerstörerisches Geschäftemachen zu ändern.

Das steckt unter anderem auch in dem völlig falschen Wachstum-Denken, mit dem selbst die Abendnachrichten den Menschen Angst und schlechtes Gewissen machen. Als wären sie alle nicht fleißig genug. Obwohl die übliche Messung von Wachstum und Wohlstand nichts über die tatsächliche Lebensqualität der Menschen aussagt. Und auch nichts über Reichtum, Armut und gerechte Verteilung.

Auch diese Themen werden berührt. Genauso wie die dramatischen Folgen der Klimaerhitzung und der zunehmenden Wetterextreme für unsere Gesundheit. Und auch hier leiden vor allem die Menschen, die nicht reich sind und sowieso schon unter prekären Bedingungen arbeiten und wohnen müssen.

Raus aus den (falschen) Zwängen

Aber genau an der Stelle wird deutlich, wie sich unsere Gesellschaft auch von innen her ändern kann, wenn Menschen sich dafür entscheiden, den irren Vorstellungen einer entfesselten Produktionsgesellschaft nicht mehr genügen zu wollen und sich andere, menschlichere Formen des Arbeitens wünschen und einfordern. Oder wenn sie anfangen, beim Einkauf von Produkten auf faire Produktionsbedingungen, Langlebigkeit (Qualität) und Reparaturfähigkeit zu achten. Oder wenn sie sich dem Zwang, unbedingt ein Auto fahren zu müssen, um jederzeit für drängelnde Chefs verfügbar zu sein, widersetzen und auf die Freiheit einer selbstgewählten Mobilität setzen.

Aber man merkt eben auch, wie sehr das alte fossile Denken im Sinne rücksichtsloser Konzerne Teil der Gesetzgebung ist. Was jeder merkt, der auch nur versucht, Umweltrechte gegen Besitz- und Zerstörungsrechte in Stellung zu bringen. Auch das wird thematisiert, genauso wie die Frage, wie solidarisch und selbstbestimmt  eigentlich Energieerzeugung sein kann – und wie man sich aus der Abhängigkeit von Öl und Gas lösen kann.

Aber insbesondere die Journalisten Julien Gupta und Manuel Kronenberg gehen eben auch darauf ein, wie die Medien selbst über Jahrzehnte dazu beigetragen haben, dass die Menschen gar nicht mehr sehen konnten, wie ihnen eine fossile Lobbyindustrie die Lüge vom falschen Wohlstand erzählte und ihnen einredete, diese weltvernichtende Produktionsweise sei alternativlos – mit herzlichen Grüßen an Margaret Thatcher und Angela Merkel.

Was natürlich die Vorstellung immer wieder verstärkt hat, man könne am wilden Rennen um noch mehr Ressourcenvernichtung nichts ändern. Ganz zu schweigen davon, dass dumme Medienmacher sogar bekannte „Klimaleugner“ und „Klimaskeptiker“ zu Wort kommen ließen, weil ihnen irgendjemand  beigebracht hat, das sei journalistische Ausgewogenheit. Ist es aber nicht.

Wir müssen auf Null – und zwar so schnell wie möglich

Wissenschaftler streiten zwar gern und aus guten Gründen über ihre Thesen und Erkenntnisse. Aber die Klimaerhitzung mit all ihren Folgen ist so gut belegt, dass man die Leugner nicht auch noch in die Talkshow einladen muss. Da gehören diese Leute schlicht nicht hin. Genauso wenig wie die Lobbyisten der fossilen Konzerne, denen die Zukunft der Menschheit völlig egal ist. Und diese Zukunft wird grauenhaft. Das zeigen schon die Wetterextreme dieser Tage.

Und Rahmstorf betont es zu recht: Das ist eine Physik. Jeder, der in der Schule in Physik auch nur ein bisschen aufgepasst hat, versteht den Prozess, mit dem wir nun seit 150 Jahren systematisch CO2 in die Atmosphäre blasen, wo sich immer mehr Energie ansammelt, die Meere und Landmassen aufheizt, neue Superzyklone auslöst, riesige Wassermassen verdampfen und über dem Land niederprasseln lässt. Selbst in dieser Situation tönen die Heuchler ja, das hätte nichts mit der Klimaerhitzung zu tun. Und Klimaerwärmung hätte es in der Erdgeschichte schon immer gegeben.

Nur gab es die letzte derartige Erwärmung vor 125.000 Jahren. Da lebten die Menschen noch als Jäger und Sammler in Afrika. Unsere Zivilisation entstand erst vor rund 11.000 Jahren. Und sie konnte nur entstehen, weil es seitdem ein relativ stabiles und ausgeglichenes Klima gab. Und diese Zivilisation steht zur Disposition, wenn riesige Landstriche zu Wüsten werden, die Wälder verbrennen und Sturzregen, Orkane und Extremhitze zum neuen „normal“ werden. Obwohl nichts daran normal ist.

Und so steht natürlich die Aufgabe vor uns, so schnell wie möglich unseren CO2-Ausstoß zu reduzierten. Die Marke von 1,5 Grad Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter haben wir jetzt gerissen. Auch Deutschland hat seine Hausaufgaben nicht gemacht, weil die Bremser nicht nur in den Fossilkonzernen sitzen, sondern auch in der Regierung.

Ein anderes Denken ist möglich

Aber das Buch entlastet seine Leser auch, indem es ihnen das eingeredete schlechte Gewissen nimmt, wenn sie dem wilden Rennen und Verbrennen nicht mehr zur Verfügung stehen wollen, sondern ihr Leben selbst wieder reich und menschengerecht gestalten wollen. Dafür kann (und muss) sich unsere Arbeitswelt genauso ändern wie unser Freizeitverhalten, unser Komsumverhalten, unser Sinn für das Haltbare, Regionale und Nachhaltige.

Das alles ist möglich. Und es wird viel schneller zum neuen Normal, je mehr mitmachen und je mehr für sich entdecken, was wir in Wirklichkeit (ständig) verlieren, so lange wir dem fossilen Treiben nachzujagen versuchen: eine intakte und erlebbare Natur – möglichst direkt in Wohnortnähe, saubere Luft, lebendige Aufenthaltsräume in der Stadt, eine gesunde Ernährung (ein Thema, mit dem sich besonders Sophia Hoffmann beschäftigt), damit mehr Gesundheit, mehr Bewegung, weniger Angst und Gefahr in einer übermotorisierten Stadt, bessere Kleidung usw.

Und natürlich ändern sich dann auch politische Schwerpunkte. Deswegen haben sich ja sämtliche fossilen Parteien von CDU bis AfD zusammengetan, um ein konzertiertes Grünen-Bashing zu veranstalten. Denn genau da bremst man Klimapoliik aus in Deutschland. Das ist seit 2005 die Erfahrung. Diesen Parteien ist es völlig egal, ob die Wähler ein gutes und reiches Leben leben, ob es sozial gerecht zugeht und die Regionen gestärkt werden. Das interessiert sie alle nicht. Dazu hängen sie viel zu sehr am Rockzipfel der großen Fossilkonzerne und Fossil-Diktaturen.

Das Buch ermutigt dazu, sich tatsächlich Gedanken zu machen über ein Leben ohne die Lasten eines völlig sinnlos gewordenen „Wachstums“, das der Mehrheit der Gesellschaft gar nicht mehr zugute kommt. Und über ein gesünderes, menschenwürdiges Leben, in dem es nicht mehr um Status und Konsum geht, sondern um echte Nähe zu Menschen, reiche Beziehungen und letztlich eben auch ein Verbundensein mit einer unersetzlich reichen Natur, die eben leider auch vor die Hunde geht.

Es gibt etwas (zurück-)zugewinnen, wenn wir unser Denken über die falschen Segnungen des fossilen Kapitalismus ablegen und das wieder in den Mittelpunkt stellen, was wirklich wichtig ist.

Claudia Kemfert, Julien Gupta, Manuel Kronenberg (Hrsg.) „Unlearn CO2“, Ullstein, Berlin 2924, 22,99 Euro

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