Die Südostvorstadt? Da werden auch die meisten Leipziger erst einmal rätseln: Wo ist das? Die Südvorstadt ist berühmt. Bei der Westvorstadt weiß man auch irgendwie, wo sie liegt. Die Nordvorstadt haben Heinz Peter Brogiato und Katja Haß gerade in einem „Leipziger Spaziergang“ in der Reihe des Lehmstedt Verlags erkundet. Ihre Erkundung der Südostvorstadt startet Sabine Knopf am Europahaus am Augustusplatz. Und gleichzeitig im 17. Jahrhundert.

Denn da begann diese Außensiedlung der alten Stadt Leipzig zu entstehen. Anfangs als eine der Armensiedlungen vor den Toren der Stadt. Nicht ganz grundlos passierte hier das Drama um den Mörder Woyzeck. Nur noch in Grundzügen ist im heutigen Seeburgviertel zu erahnen, dass hier einmal ein Hotspot der Leipziger Armut war.

Ein großer Teil des Quartiers wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Und die Erinnerung, dass hier einmal einer der größten und beliebtesten Gärten lag – der Großbosische Garten – ist fast ausgelöscht. Obwohl das barocke Gartenhaus des Apothekers Johann Heinrich Linck aus dem 18. Jahrhundert noch existiert – von der Straße aus aber kaum noch zu sehen ist.

Es ist Station 12 auf der Route (mit insgesamt 48 Stationen), die Sabine Knopf gewählt hat, um die Spaziergänger an einen durchaus spannenden Stadtbezirk heranzuführen, der aus lauter Teilstücken besteht, die irgendwie alle nichts miteinander zu tun haben, aber jedes für sich einen Besuch lohnen.

Das geht mit dem ältesten erhaltenen Kopfbahnhof Deutschlands, dem Bayerischen Bahnhof, los, führt die Spaziergänger dann ins heutige Klinikviertel rund um die Liebigstraße, das einst auch unter dem Namen Akademisches Viertel bekannt war, und endet noch lange nicht im Johannistal, das eigentlich mal die große Sandgrube Leipzigs war, bevor hier 1832 die älteste Kleingartenanlage Leipzigs entstand – und bereits 1814 der erste jüdische Friedhof. Darüber gibt es ja ein eigenes Buch aus dem Lehmstedt Verlag.

Friedenspark, Deutscher Platz, Alte Messe

Es ist nicht der einzige verschwundene Friedhof auf dieser Route, denn wenn Sabine Knopf den Friedenspark betritt, betritt sie eben auch das Gelände des ehemaligen Neuen Johannisfriedhofs, auf dem im 19. Jahrhundert reihenweise beerdigt wurde, was in Leipzig damals Rang und Name hatte. Vorher konnte sie den Botanischen Garten betreten, dessen Vorläufer bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. Die Russische Gedächtniskirche taucht auf und man merkt: Das ist ja alles historisches Pflaster.

Auch wenn die als Magistrale geplante Straße des 18. Oktober so nicht aussieht und sich am Deutschen Platz im Grunde die Zeitalter begegnen – das Jahr 1913 mit der Deutschen Nationalbibliothek, die hier als Deutsche Bücherei entstand und demnächst ihren fünften Anbau bekommen wird, und die nobelpreisverdächtige Gegenwart mit dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, wo der Medizinnobelpreisträger Svante Pääbo forscht.

Der bald 100 Jahre alte „Kohlrabizirkus“ (1927/1930) wird gestreift. Und das große Finale gibt es dann auf dem Gelände der Alten Messe, wo das Bio-Cluster der Stadt mit Biocity, Biocube, iDiV, c-LEcta und dem Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie längst Gestalt angenommen hat – und weiter wächst. In aller Stille, könnte man sagen. Wer an Leipziger Wirtschaft denkt, denkt immer noch nicht an die Bio-Wissenschaften.

Dabei sind neben den eindrucksvollen Neubauten auch noch die Zeugnisse der einstigen Technischen Messe zu sehen, die hier vor über 100 Jahren entstand und bis in die 1990er Jahre das Messepublikum anzog. Ein einziges letztes Doppel-M nach dem Signetentwurf von Erich Gruner ist noch an der Prager Straße zu bewundern. Aus dem einstigen Sowjetischen Pavillon ist längst das neue Leipziger Stadtarchiv geworden.

Die Maßlosigkeit der Planer

Unterwegs wurden da und dort sogar Relikte des einstigen Grafischen Viertels berührt, das sich einst weit über die Ostvorstadt hinaus bis zum Bayerischen Bahnhof erstreckte. Die Wertpapierdruckerei Giesecke & Devrient liegt ja auf dem Weg, genauso wie die beiden berühmten Musikverlage Edition Peters und (ehemalig) Breitkopf & Härtel. Auch Felix Mendelssohn Bartholdys letzte Wohnung liegt in der Südostvorstadt.

Karl Marx stieg im Hotel Hochstein ab. Der Mägdebrunnen steht zwar ziemlich einsam am Rossplatz (ungefähr so einsam wie die Brunnenszene im „Faust“). Aber das liegt dann eher an der „Nationalen Bautradition“, mit der hier in den frühen 1950er Jahren sozialistische Vorzeigearchitektur geschaffen wurde. Bis das Geld alle war.

Diese Architektur freilich verbaut den Blick auf die dahinterliegenden Viertel. Was eben dazu beiträgt, dass die Südostvorstadt kaum wahrgenommen wird. Wozu gerade mit dem Verweis auf den Rossplatz, von dem ein Teil seit diesem Jahr Hinrich-Lehmann-Grube-Platz heißt, auch noch hinzukommt, dass die einst platzprägenden Gebäude im Zweiten Weltkrieg sämtlich zerstört wurden. Und seither tobt ja der Streit der Planer und Architekten, in welchen Strukturen die Stadt (wieder) aufgebaut werden sollte.

Zum Glück wurden nicht alle diese kolossalen Pläne umgesetzt. In seinem Buch „Das ungebaute Leipzig“ schildert Arnold Bartetzky ja, vor welchem Größenwahn Leipzig – zumeist aus simplen pekuniären Gründen – zum Glück verschont wurde. Und dazu gehört ganz explizit die Südostvorstadt.

Auch das einer der Gründe, warum hier vieles so zusammenhanglos und unfertig wirkt. Und dennoch einen ausgedehnten Spaziergang lohnt, auf dem es – wie man mit Sabine Knopf erfährt – eine Menge zu entdecken gibt.

Sabine Knopf „Leipziger Spaziergänge. Südostvorstadt“, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2024, 7 Euro.

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