„Perfekt zum Vorlesen!“, meint der Verlag zu diesem nunmehr dritten Buch über die Schicksale der kleinen Nina, einem schwedischen Mädchen, das im letzten Band in die Schule kam. Jetzt startet sie schon in ihr zweites Schuljahr. Eigentlich hat sie auch prima Freundinnen. Aber trotzdem nagt da etwas an ihr gewaltig, kratzt am Selbstbewusstsein der Siebenjährigen. Und wer da vorliest, wird wohl genauso zwischen Lachen und Weinen hin und her geschleudert. Das Leben kann so schrecklich sein.
Gerade für kleine Schwestern, die nicht mehr immer nur die kleine Schwester sein wollen. Immer nur die Klamotten der großen Schwester auftragen, nie selbst was Neues bekommen. Und immer merken, dass man kleiner ist und noch nicht so viel weiß. Es ist fürchterlich.
Aber wer sich das Kind in sich bewahrt hat, der wird sich wiedererkennen in diesem kleinen, aufgeweckten Mädchen. Denn Sensibilität fängt immer mit der Frage an: Wie sehen mich eigentlich die Anderen? Mögen die mich überhaupt? Oder ist etwas ganz Furchtbares passiert, und sie werden nun nie wieder mit einem spielen? Ingrid, Nour und Jim?
Wenn einen keiner mehr mag
Irgendetwas berappelt sich in diesem siebenten Lebensjahr. Vorlese-Eltern wissen das spätestens, wenn sie beim Vorlesen lachend unter den Tisch rutschen. Denn darin dürfte sie so manches ihrer Kinder wiedererkennen. All diese Ungewitter, die so plötzlich aus scheinbar heiterem Himmel aufgezogen sind. Nur weil man etwas Unüberlegtes gesagt hat, irgendetwas Gedankenloses.
Aber die Kleine hat nur darauf gewartet, hat alle Antennen aufgespannt, um ja mitzukriegen, dass Mama oder Papa sie gar nicht mehr gern haben, dass sie Andere viel lieber haben. Und dass die Welt sowieso nur fürchterlich ist, weshalb man seinen Rucksack schnappen muss mit der Notverpflegung und nichts wie weg. Sollen sie doch mal sehen, wie das ist, wenn Nina weg ist. Richtig weg.
Nur dass Nina in diesem Fall mit einem unschlagbaren Argument noch einmal abgebracht wird von ihrer Flucht in die große weite Welt. So geht die Geschichte los. Oder die ganze Reihe von Geschichten, die Nina in diesem Schuljahresbeginn zustoßen. Denn sie ist dünnhäutig. Was ihr da zu Hause passiert ist, das passiert ihr auch mit ihren besten Freundinnen und Freunden in der Schule, die auf einmal mit anderen zusammenstehen und tuscheln. Was tuscheln sie? Haben sie sich verbündet? Ist Nina also nicht mehr ihre Freundin?
Scheinbar sind das lauter kleine Geschichten aus einer Zeit, die alle irgendwie hinter sich gelassen haben, wenn sie größer geworden sind. Manche Eltern erinnern sich noch dran und gehen voller Verständnis auf die Kleine ein, so wie das Ninas Eltern machen. Sogar ein richtiges Flamingokleid bekommt sie von Papa. Aber das ändert gar nichts daran, dass ein hingesagtes Wort, ein bisschen Nichthinhören genügen, und schon ist das ganze schwere Gefühl wieder da: dass einen die allerliebsten Menschen nicht mehr gern haben, gar nicht kennen wollen, auf einmal gefühlt so weit entfernt sind wie der Mond.
Und man ist ganz allein auf der Welt.
Die Macht der Gefühle
In Ninas Alter ist das irgendwie sogar normal. Später merkt sie, dass es ihrer besten Freundin Ingrid eigentlich genauso geht. Aber das sagt einem ja keiner, wenn man nicht den Mut hat zu fragen. Und man sieht es auch keinem an, erst recht nicht, wenn alle vertieft sind in ihr Spiel und es ihnen richtig gut geht damit.
Nur Nina nicht.
Oder Ingrid.
Es ist ganz schwer zu lernen, dass man den plötzlich aufschwappenden Gefühlen nicht wirklich immer trauen kann. Dazu sind sie viel zu stark. Und so mächtig, dass sie bei manchen Leuten das ganze Leben bestimmen. Das weiß man als großer Mensch eigentlich – und stolpert doch selbst immer wieder in diese Falle, wenn die Liebsten einen nicht immerzu mit Liebe überschütten. Dann brechen auch bei großen Leuten auf einmal ganze Welten zusammen.
Manche werden dann wütend, eifersüchtig, boshaft, verletzend. Also viel schlimmer, als es Nina geht, die sich eher völlig alleingelassen fühlt. Bei ihr kratzt das am Selbstgefühl. Und im Grunde lernt sie in dieser Zeit vor Weihnachen etwas, was man fürs ganze Leben braucht: Dass Gefühle einen sehr hilflos machen, wenn man sich von ihnen wegschwemmen lässt. Oder gleich davonläuft, weil man glaubt, dass einen keiner mehr mag.
Denn wenn das alle täten, würden ja alle immerzu weglaufen.
Was – wenn man es so bedenkt – Viele ja tatsächlich tun. Das ist immer leichter, als sich seiner Angst zu stellen, dass einen keiner mag. Dass man vielleicht auch mal Entschuldigung sagen sollte und nachfragen, wie es den Anderen geht. Auch das lernt Nina. Denn weil man es den Anderen nicht ansieht, wie es ihnen inwendig geht, muss man fragen. Wirklich fragen und auch zuhören.
Wie geht es dir?
Es ist schon erstaunlich, was so einfache Geschichten aus dem Leben eines siebenjährigen Mädchens tatsächlich über uns alle erzählen.
Und wie berührend das ist, auch wenn man beim Vorlesen manchmal vor Lachen unter den Tisch rutscht, weil man das alles ja von sich selber kennt und sich selbst wiedererkennt in der oft erlebten Ratlosigkeit. Und das war immer dann, wenn wir es erlebt haben, ja auch fürchterlich peinlich, vollgepackt mit Missverständnissen. Die Rettung war dann meistens, dass doch jemand kam und fragte, wie es uns geht.
Nicht, was mit uns los ist.
Das fragen die Erwachsenen, die gar nichts begriffen haben und wollen, dass Kinder einfach nur funktionieren.
Aber so sind Ninas Eltern nicht. Und gerade Ninas Mama weiß, wie viel Geduld man mit diesem kleinen, so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringenden Menschlein haben muss. Denn die Gefühle sind immer stärker. Jedenfalls in dem Moment. Sie lassen nicht zu, dass einem der eigene Kopf sagt: Es ist doch ganz anders!
Also braucht es Zeit und Geduld, sich da aus dem riesengroßen wütenden Gefühl wieder herauszuarbeiten. Und das Vertrauen zurückzugewinnen, dass einen die Anderen doch noch mögen. Genau so, wie man ist.
Warum vergisst man das als Großer?
Was ja ganz offensichtlich bei viele Großgewordenen nicht funktioniert. Als hätten sie alle noch etwas abzumachen mit der Vergangenheit. Als würden sie aus ihrem Wüten, dass keiner sie mag, nicht mehr herausfinden können.
Da fragt man sich schon, wie so ein Buch auf Väter und Mütter wirkt, die darüber noch nie nachgedacht haben und nun einem Kindheitsgefühl begegnen, das sie eigentlich tief in sich verschlossen haben. Vielleicht merken sie es auch gar nicht. Es sei denn, ihre Kinder sagen dann einfach: Mir geht es genauso wie Nina.
Das kann Eltern zutiefst verunsichern. Aber gerade deshalb muss es erzählt werden. Mit dieser riesengroßen Liebe zu den Kleinen, wie sie die Texte von Emi Gunér ausstrahlen, die Maike Barth genauso lebendig ins Deutsche übertragen hat. Und auch Anne-Kathrin Behl hatte ganz offensichtlich ihren Spaß, als sie die Nina-Abenteuer illustrierte.
Wenn dann beim Vorlesen auch mal die Kinder vor Lachen vom Sofa rutschen, dann weiß man: Das ist das wilde Leben, das einen immerzu heimsucht. Und vor dem man sich zwar verstecken kann. Aber wer sich versteckt, merkt einfach nicht, wie das ist, wenn man sich mit seinen Freunden und Freundinnen wieder verträgt und merkt, dass es uns allen so geht. Immer wieder.
Auch später noch, wenn wir alle glauben, keine Siebenjährigen mehr zu sein.
Emi Gunér „Nina. Kopfüber ins neue Schuljahr“ Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2024, 15 Euro.
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