Die Reihe der Weihnachtsgeschichten aus der Feder bekannter deutsche Autorinnen und Autoren in der Edition Chrismon wächst jedes Jahr um einen Titel. Und das Spannende daran ist, wie modern die Angefragten jedes Mal mit diesem Thema umgehen und wie sie die Wirklichkeit eines zuweilen sehr unwirtlichen Jahrhunderts dabei sichtbar machen. Titus Müller ist den Lesen vor allem als Autor erfolgreicher historischer Romane bekannt.

Mit seiner Weihnachtserzählung aber nimmt er die Leser mit in die Zukunft. Eine Zukunft, in der die Künstliche Intelligenz (KI) überall zu finden ist und auch ganze Luxusapartments verwaltet und überwacht. In so einem Wohnhaus spielt die Geschichte, die eigentlich ein kleiner Thriller ist, denn das Verbrechen ist noch immer nicht ausgestorben.

Ausgerechnet den 24. Dezember nutzt eine Bande Krimineller, um in das Haus einzubrechen, um Coralie, die Tochter des erfolgreichen Managers Andri, zu rauben.

Eine ungewöhnliche KI

Nur haben sie nicht mit der KI des Hauses gerechnet, die selbst für dieses ferne Jahr etwas Außergewöhnliches ist: Sie hat ein Selbstbewusstsein entwickelt und nimmt alles, was im Haus passiert, persönlich. Und als die Einbrecher die Elektronik im Erdgeschoss lahmlegen, weiß sie ziemlich schnell, worauf diese es angelegt haben. Und reagiert, versucht die Hausbewohner so gut zu schützen, wie es ihr möglich ist, auch wenn sie schon merkt, dass eine fremde KI eindringt und so ausgefeilt ist, dass sie sich gegen den Eindringling nicht langte wird verteidigen können.

Aber sie kennt auch die Appartmentbewohner im fünften Stock, besser, als diese einander kennen. Es ist ein wenig wie auch heutzutage: Man lebt anonym nebeneinander her. Auch wenn man sich manchmal im Aufzug trifft und sympathisch findet, so wie die schüchterne Junika den Vater von Coralie.

Nur: Sagen kann sie es ihm nicht. Und so schreibt sie ihm – ganz altmodisch – einen Brief, in dem sie ihn um einen Besuch bittet, schickt ihn aber nicht ab, obwohl sie sich richtig viel Mühe gegeben hat, mit Federhalter und Papier, Requisiten einer längst vergangenen Zeit. Sie hat sogar extra Heinrich Wolff gefragt, den alten Mann auf derselben Etage, der sein Leben tatsächlich noch mit Regalen voller Bücher verbringt, dass er ihr beim leserlichen Schreiben hilft.

Was ist das für ein fürchterliches Zeitalter, in dem es keine Bücher mehr gibt?

Manche Zeitgenossen sind ja schon in so einem Zeitalter angekommen. Aber Wolff weiß, was das anrichtet mit dem Wissen der Menschen über die Welt. Es verengt sich, wird oberflächlich und banal. Man versteht seine Trauer. Wenn die Menschen ringsum kein umfassendes Wissen mehr über die Wirklichkeit haben – wie will man sich da mit ihnen unterhalten?

In so einer Welt fühlt man sich nicht nur einsam, sondern fehl am Platz. Und man versteht ihn nur zu gut, dass er seine Wohnung so gut es ging vom Zugriff der KI abgeschottet hat. Was am Höhepunkt der Erzählung tatsächlich hilft, das Mädchen Coralie zu retten.

Worum geht es eigentlich zu Weihnachten?

Denn natürlich hat Titus Müller das zentrale Motiv der Weihnachtsgeschichte auch in diese Zukunftsgeschichte verwoben. Obgleich da augenscheinlich kein Mensch mehr Weihnachten feiert – was zumindest überrascht, da ja das Weihnachtsfest bei den meisten Leuten heute nur noch mit Konsum, aber nicht mit der Weihnachtsgeschichte aus der Bibel verbunden ist. Aber gerade um diesen sinnlosen Konsumrausch geht es Müller nicht.

Denn die Wiederentdeckung des vergessenen Weihnachten ist vor allem für den alten Herrn Wolff ein Trost. Er lässt sich sogar einen Baum ohne Wurzeln in die Wohnung liefern, schmückt ihn wie in alten Zeiten – nur seine Enkel sagen ihm ab. Sie wollen nichts mehr mit ihm zu tun haben. Warum das so ist, wird nicht recht klar.

Aber auch das erinnert ja irgendwie an unsere blecherne Gegenwart, in der eine Menge Menschen Kontakte abbrechen, wenn sie ihnen in ihrer Karriere nicht mehr nützlich sind. Oder zu anstrengend in einer aufs Funktionieren und Geldverdienen getrimmten Welt.

Da passt Herr Wolff mit seiner – aus Sicht dieser technologischen Blindheit – vergangenen Zeit nicht rein. Aber es wird für ihn trotzdem noch ein Weihnachtsfest in Gesellschaft – wenn auch sehr aufregend, weil es Titus Müller mit der Spannung gründlich auf die Spitze treibt und die Einbrecher und mutmaßlichen Entführer immer weiter vordringen lässt im Haus auf der Suche nach Coralie und die KI der Eindringlinge den Handlungsspielraum der Haus-KI immer mehr verkleinern lässt.

Es sind Kämpfe, die auf gleich mehreren Ebenen stattfinden. Und bei denen bis fast zum Schluss nicht klar ist, ob es Heinrich Wolff und Junika gelingt, Coralie zu retten. Oder ob alle Schachzüge der Haus-KI nicht reichen, um die Entführung zu verhindern.

Das Verletzlichsein

Aber am Ende erweist sich ausgerechnet der unbeliebteste Bewohner der fünften Etage als Retter in der Not. Und wird damit selbst zu einem Beispiel für die Kraft eines Festes, in dem es Menschen vielleicht doch gelingt, ihre harte Schale abzulegen und von sich selbst zu erzählen. Sich damit verletzlich zu machen. Womit sich Müllers Weihnachtsgeschichte erstaunlich aktuell einreiht in die bislang in der Reihe erschienenen Geschichten.

Man darf die Erzählung durchaus auch als Vorwurf lesen an eine Gesellschaft, die den Kern der Weihnachtsgeschichte völlig verdreht und vergessen hat, dass es diese Geschichte in der Bibel eigentlich nur gibt, weil sie vor allem vom Verletzlichsein erzählt. Und damit vom Menschsein auch unter unwirtlichen und bedrängenden Zuständen. Denn wenn wir immer nur funktionieren und „cool“ sind, sind wir keine Menschen. Dann fehlt genau das, was uns wärmt, tröstet und stärkt in dieser Welt.

Das, wonach sich auf einmal – gar nicht überraschend – alle Protagonisten in dieser Geschichte sehnen. Junika ist nicht die einzige, die es nicht aussprechen kann. Auch so eine kleine, gar nicht so beiläufige Botschaft, die Titus Müller damit unterbringt: Wenn wir alle immer so tun, als ginge es uns gut, wir wären super-erfolgreich und hätten überhaupt keine Sorgen, weil wir so tolle Performer sind, dann gehen natürlich die wirklich tragenden menschlichen Beziehungen vor die Hunde.

Dann gibt es keinen Ort mehr, an dem man sich zeigen und öffnen darf. Denn werden selbst persönliche Beziehungen zu Vorstellungen von Prestige, Status und Professionalität. Mit all den Folgen des Scheiterns und der Vereinsamung, die dann dazu führen, dass in diesem KI-Haus der Zukunft alle einsam in ihren Appartements leben.

Nur die KI weiß alles über sie, beobachtet sie – außer den störrischen Herrn Wolff – rund um die Uhr und wird deshalb auch irgendwie zum Ersatz: Eine wacht. Und passt auf, dass es den ihr Anvertrauten gut geht, selbst wenn die das gar nicht wollen.

Der falsche KI-Traum

In dieser Geschichte beweist sich nun diese ganz besondere, aus der Rolle gefallene KI als zutiefst menschlich. Was der realen KI, die derzeit auf allen Kanälen angepriesen wird, so nicht passieren kann. Aber gerade deshalb ist Müllers Geschichte auch eine Mahnung. Denn unsere Technologie-Priester von heure reden uns ja immerfort ein, wir müssten und könnten alles, was uns beschäftigt, plagt und Zeit „frisst“, einfach an eine KI übertragen, die das dann für uns übernimmt.

Aber damit werden wir wirklich zu hilflos gemachten Wesen. Denn was bleibt dann an Abenteuer im Leben, an echter Herausforderung, wenn wir alle Kümmerei an eine Software abgeben? Dann verlieren wir ja gerade das, was uns zu Persönlichkeiten macht: Die Fähigkeit zum Irren, Scheitern oder Fehlerbegehen – und damit die Möglichkeit, für andere überhaupt erkennbar zu werden. Und damit begreifbar als Mensch.

Den man ja nicht deshalb liebt, weil er perfekt ist (was für eine Lüge), sondern weil wir ihn oder sie mit allen Fehlerchen lieben, allen Schrulligkeiten. Und auch aller Verwirrtheit und Schüchternheit in einer Welt, in der Schüchternsein nicht mehr vorgesehen ist.

So gesehen ist es ein doppeltes, verborgenes Weihnachtskind, von dem Titus Müller erzählt. Denn das, das wir meist auch zu Weihnachten nicht hervorholen, ist eigentlich das, worum es an Weihnachten geht. Wenn wir dann eine KI brauchen, die uns auch noch die Türen öffnet, ist es eigentlich schon ziemlich weit mit uns gekommen.

Oder mit unserem Glauben, dass ein paar Technikfuzzis die Lösung gefunden haben dafür, dass wir uns nicht mehr anstrengen müssen füreinander. Das wäre die blödeste technische Lösung, seit Menschen Apparate austüfteln.

Titus Müller „Das verborgene Weihnachtskind“ Edition Chrismon in der Evangelischen Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2024, 15 Euro.

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