Eigentlich ist der in Markkleeberg lebende Autor U. S. Levin für seine Satiren bekannt – über das Eheleben, Arztbesuche, das Leben als Künstler. Doch der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat etwas ausgelöst in ihm, das mit humorvollen Kurztexten nicht mehr einzufangen war. Denn dieser brutale Krieg erinnerte ihn an den Krieg der Großväter und Urgroßväter. Und an ihr Schweigen über die Gräuel, die sie im Krieg erlebt haben. Was Folgen hat – bis heute.

Und es steckt natürlich ein großes Stück U. S. Levin in seinem Helden Ulf Becker, den nicht nur der Überfall Russlands auf die Ukraine erschüttert, sondern auch die Diagnose seiner Ärztin, die ihm eine beginnende Demenz attestiert. Dabei ist er noch gar nicht alt, knapp über 60. Da denkt man eigentlich noch nicht daran, sich aufzugeben und darauf zu warten, dass der Vorhang fällt. Und so ist Ulf auch nicht erzogen. Denn wenn er von seinem Vater Hartmut etwas mitbekommen hat, dann ist es der Wille, sich durchzubeißen und eben nicht aufzugeben. Auch wenn ihm das im Lauf der Geschichte nur langsam klar wird.

Denn eigentlich ist das Verhältnis von Vater und Sohn heillos zerrüttet. Und das liegt nicht an Ulf, der sich an eine traumatische Kindheit erinnert, in der ihn sein Vater zum Leistungssportler prügeln wollte. So wie Hartmut Becker selbst einst ein erfolgreicher Sportler in der blutjungen DDR war. Außerdem ein Vorzeige-Parteimitglied und Ingenieur, dem der junge Staat ermöglicht hatte, das Abitur nachzuholen und zu studieren. Also jene junge Generation, von der die SED-Funktionäre hofften, dass sie mit brausendem Elan den Sozialismus aufbauen würde.

Die Väter im Krieg

Doch sein Sohn Ulf wäre beinah an diesem Drill zerbrochen. Erst in der Welt der Bücher und des Schreibens findet er seine Zuflucht und die Rettung aus den gnadenlosen Erwartungen seines Vaters.

Und nun will er sich auch endlich versöhnen mit dem 94-jährigen. Eine Versöhnung, die der unerbittliche Alte gnadenlos torpediert. Auch auf ihn trifft der Buchtitel „Das Schweigen der Väter“ zu, auch wenn vor allem Urgroßvater Paul, der den Ersten Weltkrieg an der Somme erlebte, und Großvater Hermann, der den Zweiten Weltkrieg als Sanitäter erlebte und nach der Niederlage bei Stalingrad vier Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft verbrachte, diejenigen sind, die über ihre Kriegserlebnisse schwiegen.

So wie Millionen deutscher Männer darüber schwiegen, denn das Reden darüber war viele Jahrzehnte lang tabuisiert.

Kein Buch wurde von den Mitläufern der Kriegstreiber so sehr attackiert wie Remarques „Im Westen nichts Neues“, das als erstes Buch dieser Art über die traumatisierenden Erlebnisse der Weltkriegssoldaten erzählte.

Bis heute werden Kriege und Kriegstreiber heroisiert. Auch wenn in den letzten Jahren endlich so etwas wie ein Bewusstsein davon entstand, dass im Grunde die meisten Soldaten mit einem tief sitzenden Trauma aus dem Krieg zurückkehren – auch diejenigen, die nicht verstümmelt wurden.

Manche bewältigen es so wie Paul und Hermann und verdrängen die Erinnerungen ein Leben lang, um ihre Familie nicht zu belasten, versuchen lieber, ihren Kindern ein guter Vater zu sein. Doch meistens werden sie dennoch zu große Schweigern, verschließen ihre Gefühle und wirken unnahbar, weil die Erinnerungen an das Unsägliche eben nicht verschwinden.

Es wenigstens einmal erzählen

Nur hat Hermann, der seine Familie stets „verschont“ hat, am Ende das Gefühl, dass er das Erlebte doch jemandem erzählen muss. Und dafür kommt für ihn nur Ulf infrage, der als Schriftsteller seine ersten Veröffentlichungen feiern konnte. Es ist kurz nach der deutschen Einheit. Klärchen, die die Kinder in den acht Jahren, in denen Hermann in Krieg und Gefangenschaft war, allein versorgte, ist gestorben. Wenn also alles erzählt werden muss, dann jetzt.

Und Hermann hat viel zu erzählen. In Levins Roman wird das zu vielen erschütternden Kapiteln, in denen vor allem Hermanns Erlebnisse im Kessel von Stalingrad, auf den mörderischen Märschen ins Gefangenenlager und im Gefangenenlager selbst erzählt werden. Erzählungen, die die ganze dreckige Brutalität des Krieges zeigen. An diesem Krieg war nichts Heroisches.

Und letztlich war es nur Pauls Ankündigung, dass Hermann diesen Krieg überleben würde, der ihn aushalten und durchhalten ließ.

Als Ulf sich Hermanns Leben diktieren ließ, war nicht absehbar, dass es 30 Jahre später diesen brutalen Überfall der russischen Truppen auf die Ukraine geben würde. Die Aufzeichnungen liegen irgendwo versteckt in einem Schrank auf dem Boden. Doch Ulf ist klar: Er braucht jetzt ein großes Projekt, um sich nicht immerzu den Kopf über die diagnostizierte beginnende Demenz zu zerbrechen. Und das Schweigen der Väter ist für ihn jetzt genau das richtige Thema.

Jetzt hat er noch Zeit, die Familiengeschichte zusammenzutragen. Und er ahnt nicht, dass er auch die Geschichte seines Vaters Hartmut in den letzten Kriegstagen noch erfahren würde. Wobei Hartmut nicht durch seine Erlebnisse als Kindersoldat geprägt wurde, sondern durch die brutalen Übergriffe seines eigenen Vaters, der nicht einmal Erziehungsideale hatte, als er die eigenen Kinder nachts aus den Betten holte und brutal verprügelte.

Auch so ein Thema, das zum Schweigen der Väter gehört.

Harte Männer

Im Grunde ist Levins Roman ein sehr intensiver und aufmerksamer Blick in ein 20. Jahrhundert der Männer, in dem Männer dazu erzogen wurden, niemals eine Schwäche zu zeigen, sich einzufügen und auszuhalten, ohne zu klagen. Egal, was die gerade Mächtigen befahlen. Auf so einer Grundlage funktionieren Autokratien und Diktaturen. Auf den Schultern von Männern, denen eingebläut wurde, alle Zumutungen zu ertragen, immer Härte zu zeigen und nicht zu widersprechen.

Was wohl auch erklärt, warum Hartmut so gnadenlos reagiert, als sein Sohn rebelliert und nicht mehr parieren will. Das greift das Selbstverständnis „harter Männer“ an. Und auch das lernt unsere Gesellschaft ja gerade erst mit ziemlich viel Erschrecken: Dass auch die Brutalität den Kindern gegenüber Generationen geprägt hat und in vielen Familien heute noch dafür sorgt, dass Kinder gebrochen und ihr Lebenswille zerstört wird.

Aber Erlösung finden sie erst, wenn sie es den gewalttätigen Vätern ins Gesicht sagen können. Das ist dann die Szene, mit der Levin seinen ersten Roman versöhnlich ausklingen lässt. Einen Roman, in dem er sich gleichzeitig Gedanken über das Romanschreiben macht und die Suche nach dem Stoff, aus dem eine Generationenerzählung werden kann. In diesem Fall mit klarem Fokus auf die Männer in dieser Geschichte und ihren Umgang mit Krieg und Gewalt.

Vielleicht müssen es tatsächlich Autorinnen übernehmen, die weibliche Seite dieser Generationentragik zu erzählen. Das wird an Rosa deutlich, Ulfs Mutter, die am Sterbebett ihres Mannes überhaupt erst einmal begreift, wie traumatisch der Junge die Kindheit mit seinem prügelnden Vater erlebt haben muss.

Auch in diese Rolle wurden junge Frauen lange Zeit gedrängt – Rollen des Funktionierens, der Unterordnung unter die „väterliche“ Gewalt, Rollen des Wogenglättens und des Herstellens heiler Familienidyllen. Man redete nicht darüber. Und auch äußere Instanzen wie Schule und Jugendämter hatten dafür kein Instrumentarium.

Der lange Schatten der Kindheit

Die Kinder erlebten in der Regel eine Welt, in der niemand ihre Verletzungen und Erniedrigungen sehen wollte. Und so etwas prägt Geschichte. Denn wenn es nicht erzählt und benannt wird, lebt es weiter im irrationalen Verhalten der Väter. Aber nicht nur dort. Denn diese Männer prägen genau so auch die Funktionen, die sie in der Gesellschaft einnehmen – als Offizier, Polizist, Richter, Lehrer, Funktionär …

Die DDR war in weiten Teilen genau deshalb ignorant und martialisch, weil es von Anfang an nicht opportun war, die Traumata des Krieges und der Gewaltherrschaft der Nazis und der tödlichen Gefangenschaft in Russland aufzuarbeiten. Verbrecher waren immer nur die Anderen. Man externalisierte einfach ein komplettes Stück deutscher Geschichte und tat so, als ginge das die stolzen Erbauer des Sozialismus gar nichts an.

Und so ist es der Enkel, der die eigene Familiengeschichte in einen Roman verwandelt und das Schweigen der Männer wenigstens ein Stück weit auflöst – mithilfe von Opa Hermanns Diktaten und den Tagebuchaufzeichnungen von Vater Hartmut, die der nie wollte, dass sie in die Hände des Sohnes gerieten.

Eben weil sie etwas über seine eigene Kindheit erzählen, was er ein Leben lang hinter Härte und Leistungsdenken versteckt hat. Man darf den Männern tatsächlich misstrauen, wenn sie immerfort von Disziplin, Leistungsbereitschaft und Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber reden. Dann stimmt etwas nicht.

Dann leben sie in den Schatten ihrer Vergangenheit und verkaufen das den Jüngeren nur zu gern als Allheilmittel für alle Probleme. Was aber schiefgeht. Und gerade der immer weiter schwelende Krieg in der Ukraine macht Ulf klar, dass die Traumata der Vergangenheit endlich benannt werden müssen. Seinem Großvater Hermann hat es das Sterben erleichtert. Und auch am Sterbebett von Hartmut wird klar, dass es eine Menge ändert, wenn einer endlich deutlich ausspricht, was vorher nicht ausgesprochen werden sollte.

Es ist zwar eine geradezu persönliche Familiengeschichte, die Levin da erzählt. Aber sie gilt wohl für viele, sehr viele Familien, in denen das Schweigen der Väter von Generation zu Generation weitergereicht wird. Mit traumatischen Folgen für die Kinder, die nicht wissen, warum die Albträume sie durch ihr Leben begleiten.

Uwe S. Levin „Das Schweigen der Väter“ Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024, 24 Euro.

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