Jugend ist irgendwie schrecklich. Egal, wo man aufwächst. Völlig egal, ob Altmark oder Ruhrpott. Diese Welt ist nicht für Jugendliche gemacht. Schon mal gar nicht abseits der halbwegs aushaltbaren großen Städte, ob die nun Magdeburg oder Gelsenkirchen heißen. Wobei: Für Ben und seine Freunde ist auch Gelsenkirchen nicht wirklich der Traum vom großen Abenteuer. Woran vielleicht nicht gerade die Bee Gees schuld sind. Aber Pink Floyd und Jimi Hendrix auf jeden Fall.

Der Vergleich mit der Altmark liegt gar nicht so fern, auch wenn Domenico Müllensiefen in „Schnall dich an, es geht los“ eine Jugend in den 2010er Jahren schildert – in einer jener völlig vom Rest der Welt abgeklemmten Gegend, wie es sie im Osten seit 1990 hundertfach gibt. Gegenden, in denen die Depression und der stille Zorn auf all die verpassten Chancen mit Händen zu greifen sind. Selber schuld, wer da geblieben ist und sich das angetan hat, könnte man sagen.

Würden solche Regionen nicht ganz automatisch in einen wilden, ungehobelten und schwer alkoholisierten Extremismus der Frustrierten abgleiten. Und das ist eben nicht nur im Osten so. Es ist wie ein Déjà-vu, wenn man mit Andreas Heidtmanns drittem Jugend-Erinnerungsroman wieder in Bens Jugendzeit im Lippeland in den fernen 1970er Jahren eintaucht. Der erste Band erschien 2020 noch bei Steidl: „Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde“. Und berühmt wurde ABBA 1974 mit „Waterloo“.

2022 folgte dann „Plötzlich waren wir sterblich“, das bei Faber & Faber erschien. Und den dritten Band hat nun die Frankfurter Verlagsanstalt ins Programm genommen. Dabei gehören alle drei Bücher zusammen, erzählen Stück für Stück Bens Jugend in dem kleinen Nest Lippfeld, in dem eigentlich nur etwas passiert, wenn Bens Freunde und Kumpel mal über die Stränge schlagen. Oder ein musikbegabter Bursche wie Ben mit seinen Freunden eine Band namens Crazy Hearts gründet.

In falschen Träumen

Ansonsten leben hier die Überlebenden des sogenannten Wirtschaftswunders, die sich im Schatten rauchender Schlote ihren Traum vom Eigenheim verwirklicht haben. Wenn es jemals ihr Traum war. Die meisten Leute träumen ja die Träume aus dem Werbefernsehen und begreifen nicht, warum sie ein Leben lang nie wirklich glücklich werden.

Und Bens Vater ist garantiert kein glücklicher Mensch. Und was sich im Vorgängerband schon andeutete, ist jetzt passiert: Bens Mutter ist nach jahrelangem Medikamentenmissbrauch in der Klinik gelandet und der Familienbesuch bei ihr wird zu einem frustrierenden Stück kaputter Kommunikation.

Die vielleicht auch vorher nicht besser war. Wirkliche Kommunikationstalente sind Bens Verwandte alle nicht, von seinen Freunden ganz zu schweigen.

Heidtmanns Ausflug in die frustrierenden 1970er ist auch ein Ausflug in die Unfähigkeit ganzer deutscher Provinzen, klar und offen zu sprechen. Man zeigt keine Gefühle, keine Verletzlichkeit, will aber auch niemandem zu nahe treten. Also wird herumgeredet, abgelenkt, alles in Floskeln ertränkt. Ben könnte sein ganzes Tagebuch zuschreiben mit den Sprichwörtern, mit denen seine Mutter immer versucht hat, dem Leben seine Schärfe, Tragik und Betroffenheit zu nehmen.

Man ahnt durchaus, warum sie sich in die Medikamentensucht stürzte. Und warum Bens Vater lieber schweigend Runde um Runde durch den Garten stapft. Es ist, als würde man lauter Türen in die Wirklichkeit aller deutschen Provinzen öffnen, in denen jeder jeden auf dem Kieker hat und junge Menschen nur noch das Gefühl haben, dass hier die Welt zu Ende ist.

Auf Heldenreise

Nichts wie weg also. Und eigentlich ist Ben schon weg. Denn seit seine Mutter in der Klinik ist, lebt er im Internat des Franziskanerklosters – also „bei den minderen Brüdern“. Obwohl er mit dem Gekreuzigten an der Wand gar nichts anfangen kann und eigentlich lieber bei Rebecca in (West-)Berlin wäre, seiner Freundin, für die er selbst in der Silvesternacht einen Ritt auf der Bahn auf sich nimmt.

Eine der zutiefst bildhaft erzählten Szenen, mit denen Heidtmann zeigt, dass wir eigentlich alle einen Lebensroman erleben, in dem es überhaupt keine Helden, Cowboys, Ritter und sonstige Heldengestalten geben muss. Wir sind selbst die Helden unserer Heldenreise – manche mutig und zupackend, manche abenteuerlustig und neugierig – die meisten aber belastet mit all den Unsicherheiten, mit denen wir tatsächlich ins Leben fahren.

Auch mit jenem frustrierten Blick in die Welt, der in der Jugend alles so zäh und zermürbend machen kann. Gleichzeitig aber die Landschaften unserer Erinnerung färbt – bis heute.

Denn wären nicht haufenweise auch lauter schwermütige Gefühle dabei gewesen, würden wir uns gar nicht mehr an den Kirmesbesuch mit der Freundin erinnern, nicht an die bedrückenden Weihnachten mit den Eltern, die von sich selbst nie reden, nicht an die Krankenhausbesuche mit der Cousine und auch nicht an die Kämpfe mit Pater Albert am Eingang zum Kloster um die kostbaren fünf Minuten am Telefon.

Und das alles reich gespickt mit Eindrücken, Farben, Gerüchen. Und Spannung – was eigentlich überrascht. Denn so Mancher würde sein Leben in so einer Zeit erzählen, als wäre gar nichts passiert. Als wären da lauter unbeschriebene Blätter in der Erinnerung. Heidtmann aber zeigt, dass das nicht stimmt. Dass diese Zeit auch für seinen Ben voller Aufregung war, auch wenn er sich selbst im Erzählen abgeklärt und verdrossen gibt, als wäre ihm das alles sowieso zu lächerlich, fremd und unsinnig.

Er hat ja sein Klavierspiel und findet mit dem Feurich-Flügel im Obergeschoss des Internats einen Ort, an dem er sich so richtig austoben kann, auch wenn ihm die Klopper aus dem Internat die rechte Hand demolieren. Idioten, wie man sie in jeder Jugend antrifft – die Vollpfosten, die ihr ganzes Selbstbewusstsein nur daraus generieren, dass sie andere einschüchtern und schikanieren.

Wie es uns geschieht

Und Ben sieht gar nicht ein, warum er das dann auch noch zeigen soll. Also versucht er, seine kaputte Linke zu überspielen. So wie er alle verwirrenden Gefühle irgendwie cool zu überspielen versucht. Und es ist nicht der geplante Abriss des Klosters, der in diesem Teil der Geschichte zum Kulminationspunkt wird – auch wenn die Crazy Hearts am Ende zum Abriss des Klosters die Musik machen.

Es ist der Tod von Bens Mutter, für den er nicht wirklich Worte findet. Nur Bilder, sprechende Bilder wie die unbeweglich auf den Bäumen des Friedhofs sitzenden Krähen.

Eigentlich ist am Ende klar: Diese Geschichte wird weitergehen. Diese Jugend ist nicht aus-, sondern bestenfalls anerzählt – mit großer bildnerischer Freude am Erzählen, voller kleiner Ereignisse, die erst in ihrer Dichte ahnen lassen, dass so eine Jugend alles andere ist als langweilig oder gar ereignislos. Man muss nur hinschauen und die Dinge nicht kleinreden.

Vorkommnisse, die das Leben zum Abenteuer machen, auch wenn wir bei den Ereignissen selten die Helden oder gar die Macher sind, oft einfach nur Opfer der Geschehnisse, mitgerissen und umgehauen wie bei der Party bei Bens „bestem Freund“ Mick, in der sich Ben aus lauter Überforderung sinnlos betrinkt an billigem Rotwein. Und damit sogar seine Liebe zu Rebecca riskiert.

So eine Jugend ist im Nachhinein voller Ereignisse, für die man sich in Grund und Boden schämen möchte. Aber genau das hat uns geprägt, hat die Heldengeschichte Stück für Stück entstehen lassen, in der wir manchmal die Handelnden waren und oft genug die Mitgerissenen. Und natürlich steht am Ende die Frage: Wie sehr haben wir das selbst so gewollt und geschafft? Oder war doch alles Glück, Zufall und Verwirrnis?

Manche halten sich ja an dieser Interpretation ihres Lebens fest. Und andere erzählen es dann einfach, wohl wissend wie Andreas Heidtmann, dass genau daraus der unverwechselbare Stoff unseres Lebens gewebt ist. Und wir nichts davon einfach streichen können. Und gerade weil Heidtmann es so intensiv erzählt, merkt man: So eine Jugend – selbst in der lippeschen Provinz – ist keine Kurzgeschichte und passt eigentlich auch in keinen Roman. Es müssen schon mehrere sein, von denen jeder für sich stehen kann.

Lauter Abenteuer eines Lebens, in dem sich eigentlich das ganze Land wie eine einzige leere Provinz anfühlt und jeder in seinem eigenen „Scheinkosmos“ lebt – auch Bens Lieblingsonkel Bertram, der sich genauso um klare Worte und eindeutige Botschaften herumdrückt wie die ganze Familie. Da dürften sich viele Traumtänzer aus älteren und jüngeren Provinzen ertappt fühlen. Ein bisschen erschrecken und vielleicht bedauern, dass sie damals ihre Koffer nicht gepackt haben, um Lippfeld endlich hinter sich zu lassen.

Andreas Heidtmann„Bei den minderen Brüdern“ Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2024, 24 Euro.

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