Mit seinem Buch โKrรผppelpassionโ hat Jan Kuhlbrodt 2023 nicht nur die Herzen der Jury fรผr den Alfred-Dรถblin-Preis erobert. Er hat einmal mehr gezeigt, dass man das Leben โ egal wie es einen beutelt โ ohne Aufregung und รbertreibung zeichnen kann โ und trotzdem wird deutlich, wie intensiv es ist. Tatsรคchlich ist โKrรผppelpassionโ der erste Teil einer Trilogie, in der der Leipziger Autor sein Leben erzรคhlt. So, wie er es sieht. Oder es erinnert.
Denn unsere Erinnerungen sind gefรคrbt durch alles, was wir seither erlebten, meist auch durch das, was uns andere erzรคhlen รผber die Zeit, als wir noch Kind waren. Erst recht, wenn wir nicht rechtzeitig genug nachfragen und die Geschichten der Alten hinterfragen. Oder die Familienarchive zerfleddert sind oder gar entsorgt, weil manche Leute lieber alles dem Vergessen anheimgeben, als sich erinnern zu mรผssen. Lieber verklรคrt man da die Vergangenheit, wie das so viele tun.
Aber was bleibt von der Kindheit? Woran erinnert man sich vor allem aus den ersten sechs Jahren, der Zeit, bevor man in der Schule Lesen und Schreiben lernte und die Welt anders zu definieren begann?
Darum geht es in โVor der Schriftโ, dem eigentlich ersten Band der โChemnitzer Trilogieโ, wie sie Jan Kuhlbrodt genannt hat. Denn wรคhrend die โKrรผppelpassionโ fast ausschlieรlich in Leipzig handelt, wo Jan Kuhlbrodt heute lebt, schildert das erste Buch seine Kindheit in Chemnitz, das damals โ 1966 bis 1972 โ natรผrlich noch Karl-Marx-Stadt hieร und genauso ruinรถs war wie alle anderen Stรคdte im Osten.
Und natรผrlich sieht das ein Kind. Was in den ersten sechs Jahren passiert, das sind die Erlebnisse, die einen prรคgen. Das sind Bilder, die einen durchs Leben begleiten, mit Emotionen und Plastizitรคt aufgeladen, wie sie spรคtere Erinnerungsschichten nicht mehr haben.
Geheimnisvolle Botschaften
Vielleicht deshalb nicht haben, weil wir Lesen gelernt haben und nun die ganzen vorher so geheimnisvollen Worte entschlรผsseln kรถnnen, die uns รผberall begegnen โ als Aufschrift an Hauswรคnden, als Etikett auf Konserven, als Warnhinweis an Bussen. Das gleicht einer Entzauberung der Welt.
Und wir mรผssen uns schon sehr bemรผhen, um die Bilder, Gerรผche und Stimmungen unserer Kindheit wieder lebendig werden zu lassen. Und wenn wir es tun โ wie es Jan Kuhlbrodt hier vormacht โ dann erscheint eine vergangene Welt, die es so im heute nicht mehr gibt. Mit Menschen darin, die schon lange nicht mehr unter uns weilen, die auch der Autor nicht mehr besuchen kann.
Das Buch hรคtte auch so schรถne Titel tragen kรถnnen wie โDie Suche nach der verlorenen Zeitโ oder โDie Welt, wie sie Jan sahโ. Denn Kuhlbrodt schafft es so zu erzรคhlen, dass man das Chemnitz dieser Zeit durch die Augen des Jungen sieht, der instinktiv wahrnimmt, wie auch in dieser Kindheit noch die alten Standesunterschiede quer durch die Stadt laufen, auch wenn die Reichen aus ihren Nobelvierteln schon lange vertrieben sind und dort inzwischen sozialistische Behรถrden eingezogen sind.
Aber da ist die Eigenheimgegend, in der die Groรeltern leben, die ihren alten Selbststรคndigenstolz bewahrt haben. Und da ist die herrschaftliche Etagenwohnung der Urgroรeltern, in der der Junge einen Teil seiner Kindheit verbringt, nachdem im Krankenhaus bei ihm Tuberkulose festgestellt wurde und der Arzt deutlich sagte, dass das Kind nicht mehr in der heruntergekommenen und nassen Altbauwohnung bleiben kann, in der die kleine Familie Obdach gefunden hat.
Eine Wohnung, die sich trotzdem mit starken Eindrรผcken in die Erinnerung des Autors eingegraben hat: โIm Wohnzimmer der Wohnung meiner Eltern rieselte mรผrber Putz von der Decke auf einen groรen Kachelofen. Dort mischte er sich mit gewรถhnlichem Haustaub und bildete eine Dreckschicht, die meine Mutter mit dem Handbesen nur mรผhsam entfernen konnte.โ
Ein Bild, das dem Autor viel spรคter wieder begegnen wird, als er zum Studium in Leipzig eine รคhnlich heruntergekommene Wohnung bezieht.
Relikte der Kindheit
Und Kuhlbrodt baut einen doppelten Boden ein, blendet immer wieder einmal in eine Gegenwart, in der er selbst schon Vater ist und bei seinen Tรถchtern ganz รคhnliche Verhaltensweisen entdeckt, wie er sie aus seiner Kindheit kennt, dieselbe Geschรคftigkeit, mit der sie die Erwachsenen nachahmen, aber trotzdem nicht erwachsen werden wollen.
Denn wenn man Kind ist, lebt man in einer anderen Welt. โKinder haben keine Vorstellung von Erziehungโ, schreibt Kuhlbrodt in einer dieser Blenden. โUnd auch nicht von der Angst und Unsicherheit ihrer Eltern. Deshalb, scheint mir, ist Zรผchtigung vollkommen widersinnig, und ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie es bei mir nie versucht haben. Allerdings stehe ich heute manchmal recht ratlos in der Gegend herum, wenn meine eigenen Kinder hartnรคckig ein Verbot ignorieren. Solche Ratlosigkeit gilt es wohl auszuhalten. Kinder erfahren das meiste ohnehin als Kommando und nehmen es ebenso auf.โ
Vielleicht trรผgt da auch die Erinnerung. Denn an lange Gesprรคche und Erklรคrungen aus der Zeit โvor der Schriftโ erinnert er sich nicht. Eher an kurze Sรคtze, Anweisungen. Arbeitet unser Gehirn da nicht auch selektiv und merkt sich nur die Momente, in denen wir aufgeschreckt wurden?
Denn auch die hier erzรคhlte Kindheit ist voller Geschichten. Geschichten von einem Groรvater, der seine kรผnstlichen Zรคhne sogar auf einer Betriebsfeier vergaร, von Spielen mit der Nachbarstochter Betty auf dem Hinterhof, wo noch die Metallรผberbleibsel eines verschwundenen Handwerksbetriebes herumliegen, Geschichten von der stolzen Singer-Nรคhmaschine im Wohnzimmer, die keine der Frauen benutzt, auch wenn sie kaputte Wรคschestรผcke sammeln, um sie spรคter zu reparieren.
Was aber augenscheinlich nie geschah. Das Kind merkt schnell, dass sich auch die Erwachsenen Geschichten erzรคhlen, die eine Scheinwelt vorgaukeln. Und dass sie auch etwas zu verbergen haben. Aber auch Geschichten erzรคhlen, in denen eigentlich das Kind selbst die Hauptfigur ist, das sich beim besten Willen nicht daran erinnern kann, dabei gewesen zu sein. Erwachsene merken nicht wirklich, in welcher Welt das Kind tatsรคchlich lebt, was es sieht und verinnerlicht. Oder fรผrchtet โ so wie die oberen Etagen des alten Hauses. Oder den Keller, in den der Groรvater verschwindet, um an seiner Hobelbank zu arbeiten.
Familien-Verhรคltnisse
Dabei sieht es seinen Vater noch am Kรผchentisch sitzen und Epithesen herstellen, die er als Optiker an Brillengestellen fรผr seine Kunden anbringt. Erinnerung an eine Zeit, als noch viele รคltere Menschen mit den Lรคdierungen des Krieges herumliefen und die Transplantationschirurgie noch nicht so weit war. Die Mรคnner, die die Kohlen in den Keller tragen, prรคgen sich ein โ besonders ihre blutroten Mรผnder, die sich zum Lรคcheln und Scherzen รถffnen.
Letztlich ist es eine behรผtete Kindheit, die Jan Kuhlbrodt erzรคhlt, mit einer gar nicht so kleinen Familie, in der selbst die Verwandtschaftsverhรคltnisse durcheinandergeraten, weil die Urgroรmutter den Unfalltod ihrer jรผngsten Tochter im Krieg nicht verwunden hat und quasi รผber den Kopf ihrer Tochter hinweg die Mutter des Knaben in Beschlag nimmt. Eine Verwirrnis, die der erwachsene Autor versucht zu sortieren, mit all den kleinen Abhรคngigkeiten und stillschweigenden Regeln, die seine Kindheit bestimmten.
Noch endete seine Welt an den Straรen ringsum. Das Chemnitz seiner Kindheit ist รผberschaubar, so, wie Kinderwelten immer sehr รผberschaubar sind. Kinder finden ihre Abenteuer dort, wo Erwachsene nicht einmal sehen, dass es Abenteuer gibt.
Kindheit ist voller Geheimnisse, selbst wenn es nur Dinge sind, die Erwachsene fรผr selbstverstรคndlich halten, aber nie erklรคren, warum es so ist. Auch daran erinnert so ein Buch: Wie selbstverstรคndlich wir Groรen eigentlich so viele Dinge nehmen, die es gar nicht sind. Lieber tun wir so, als ginge uns das nichts an, als wรคre es unwichtig. So wie der Schalter im Treppenhaus in dem Neubau, in den die kleine Familie am Ende โ wieder vereint โ ziehen kann. Was passiert, wenn man diesen Schalter betรคtigt?
Als Kind will man das wissen. Es lรคsst einen nicht ruhen. Aber Erwachsene packen รผberall solche Schalter hin. Wer in Leipzig Straรenbahn fรคhrt, weiร das. Und hat seinen Spaร, wenn Kinder immer wieder auf den leuchtenden Knopf drรผcken und die Straรenbahn nicht weiterfahren kann. Erwachsene sind oft blind fรผr die Weltsicht der kleinen Welteroberer.
Und nehmen ihnen Abenteuer weg, die den Kleinen einmal das Gefรผhl gegeben haben, in eine spannenden und aufregenden Welt zu leben โ so wie die offenen alten Straรenbahnwaggons, von denen man kurz vorm Stopp noch abspringen konnte โ so wie die Cowboys und Indianer im wilden Westen, die mit den Gummi-Indianern, die um ein Spielzeug-Fort kรคmpfen, nur rudimentรคren Ersatz finden.
Die Intensitรคt der Erinnerung
Und dann taucht im langweiligen Park vor dem Haus der Groรeltern bei einem Pressefest tatsรคchlich eine Gruppe echter Indianer auf. Manchmal braucht man gar nicht das Familienalbum oder die alte Schachtel mit unsortierten Fotos oder den an mehreren Stellen geflickten Schwarz-Weiร-Film. Unsere Erinnerung ist voller Bilder an eine Kindheit, die uns niemand nehmen kann. Die vielleicht nicht gut sortiert ist und manchmal nur fragmentarisch.
Aber in Kuhlbrodts Text spรผrt man die Intensitรคt dieser Erinnerung. Und natรผrlich die zugrunde liegende Frage, was wir tatsรคchlich erinnern aus einer Zeit, in der wir noch nicht lesen konnten, in der also alles Erlebte sich tatsรคchlich als dichtes Gespinst aus Farben, Lauten und Gerรผchen im Gedรคchtnis verfangen hat. Unklassifiziert und unetikettiert.
Aber eben nicht nur das. Denn das alles lehrte uns ja zu sehen, unserem scheinbar so wundersamen und unendlichen Da-Sein einen Sinn und eine Struktur zu geben. Und damit letztlich das zu werden, was wir innerlich geworden sind.
Man sieht uns dieses Kind nur nicht mehr an. Und wer uns kennt, kรคme nie auf die Idee, dieses Kind in uns zu suchen. Obwohl es immer da ist und unser Leben bestimmt โ mit kindlicher Neugier und einer Ernsthaftigkeit, die Erwachsene meist gar nicht mehr kennen wollen. Das ist der Snobismus alt gewordener Leute, die Neugier fรผr kindisch halten. Und sich nicht mal mehr darรผber wundern, dass ihnen ihr oberflรคchlich gewordenes Leben so langweilig und frustrierend vorkommt.
Die Dinge leuchten
Und dabei haben wir die Schรคtze unserer Kindheit alle im Kopf, eingepackt in Worte, die leuchten und wรคrmen, wenn wir sie wieder hervorholen.
โWorte bezeichneten die Dinge wie Namen die Menschen und jedes neue Wort war eine Taufe. Ich lebte mit einem Wissen, das Erkenntnis nicht kannte, nicht brauchte. Wissen, das einem zuflog, ohne dass man hรคtte lang forschen mรผssen. Die Dinge leuchteten, sie leuchteten unmittelbar aus sich heraus, und sie leuchteten mir ein. Die Fragen betrafen das Wann und das Wo, doch niemals das Was, Wie oder Warum.โ
Gut mรถglich, dass sich tatsรคchlich nur Schriftsteller so erinnern und zumindest eine Ahnung haben, woher die Intensitรคt des Erinnerns kommt. Und wie stark diese Erinnerung ist, wenn man ihr nicht mit einem Warum kommt und alles erklรคren will. Sondern die Welt wieder mit den Augen des Kindes sieht: Alles ist. Und das ist atemberaubend genug.
Die Kindheit ist ein besonderes Paradies: โIch hรคtte als Kind sagen kรถnnen, es lebt, und hรคtte damit alles gemeint, was mich umgibt, ohne zu wissen, woraus โesโ das Leben bezรถge. Aber es war mir egal. Das Dasein war da sein, und nichts, was sich dahinter hรคtte verbergen kรถnnen.โ
So intensiv verbunden mit allem ist man spรคter im Leben nie wieder. Mancher weiร das zu bedauern, andere vergessen es einfach und tun dann so, als hรคtten sie nichts erlebt. Schatten ihrer selbst, die nicht einmal mehr ahnen, wie prรคsent alles sein kann, wenn man das groรe Es so nimmt, wie man es sieht und riecht und fรผhlt. Eine Welt, die man (noch) nicht lesen muss und die deshalb auch noch Tiefe und Geheimnis hat.
Man kann gespannt sein, wie das im zweiten Buch der Trilogie dann wird. Denn das wird ja dann zwangslรคufig die Welt nach der Schrift sein. Oder mit der Schrift. Ohne die es dann den Autor Kuhlbrodt nicht gegeben hรคtte.
Jan Kuhlbrodt โVor der Schriftโ Gans Verlag, Berlin 2024, 26 Euro.
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