Oft, beinahe inflationär wird in der Öffentlichkeit und der veröffentlichten Meinung von „Spaltung des Landes“ gesprochen, ist von einer „gespaltenen Gesellschaft“ die Rede. Seit der Zunahme einer krisenhaften Entwicklung in Deutschland und der Welt in den letzten zwei Jahrzehnten haben sie sich kontinuierlich verstärkt.

Nachdem der greise amerikanische Präsident Joseph Biden in seiner Rede zum Amtsantritt als 46. US-Präsident davon sprach und die Illusion hegte, die verfeindeten Sympathisanten aus dem demokratischen und republikanischen Lager wieder zusammenzubringen, wurde es auch dem Letzten klar, dass es mit dem optimistischen Nachwende-Slogan der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts „One World – one future“ nicht mehr weit her sein konnte. Der Herausforderer heißt wieder Donald Trump, und er wirkt entschlossener, kämpferischer als je zuvor.

Wenn man ehrlich ist, bemerkte man in den Biden-Amtsjahren auch kaum einen Wechsel hin zu einer sozialeren und vor allem friedensfreundlicheren Haltung der US-Regierung. Nur alles etwas langsamer, bedächtiger aber keineswegs kompromissbreiter gegenüber den weltwirtschaftlichen Konkurrenten. Amerika blieb und bleibt nun mal „great“ und „first“, egal, wer nun aus den Airforce One – Maschinen steigt.

Man unterschätzte offenbar den Willen der westlichen Sieger an der Schwelle des neuen Jahrtausends, mit dem Gewinnen aufhören zu wollen. Es trat ein, was der frühere SPD-Kanzler Willy Brandt in seinen Erinnerungen mit dem neuen Nord-Süd-Gegensatz beschrieb: die siegreiche Überlegenheit des Westens, gepaart mit teils schamloser Geschichtsvergessenheit gegenüber dem nachkolonialen Süden machte auch vor den Resten des früheren Ostblocks nicht halt.

Vor allem die weltpolitischen Auswirkungen des zusammenbrechenden Sowjet-Imperiums wurden allseits unterschätzt, ein neuer (östlicher) Dauerkrisenherd gefördert und somit ein Kalter Krieg 2.0 eröffnet. Wir sagen: Schuld sind die anderen, natürlich die Russen.

Diskussionen verschärfen sich

Die Auseinandersetzungen auf der großen weltpolitischen Bühne und in den mikrosozialen Netzen werden immer schärfer. Auch in Deutschland muss man befürchten, dass Gewalt für viele Menschen eine praktikable Lösung der aufgestauten sozialen Probleme darstellt, einkalkuliert wird. Nach Michael Andrick, dem Berliner Journalisten und Sachbuchschreiber („Im Moralgefängnis“) liegt es an der Unfähigkeit zum toleranten Diskurs, des Rechtshaben-Wollens um jeden Preis, am „spalterischen Handeln“, wobei die verfeindeten Lager jeweils nur ihr politisches Deutungskonstrukt als das wirklich legitime und wahrhaftige ansehen.

Hier wird von Verteidigung von Freiheit und Demokratie gesprochen und alle wirtschaftlichen Belastungen und Zwänge in den Dienst der „wehrhaften Demokratie“ gestellt, und da spricht die Opposition von Vernunft und Gerechtigkeit, entweder ohne wirkliche Gestaltungsoption oder wie im Falle der AfD nur mit demagogischen Versprechungen von Frieden bei gleichzeitiger nationaler Aufrüstung …

Die etablierten politischen Parteien der „Mitte“ (weiß keiner so genau, was das und wo die ist) sind weder links und wenig liberal. Stimmt, da muss man Andrick recht geben. Und sie verteidigen ihren Machtanspruch zäh aber mit „freiheitlicher“ Ideologie. Packen uns dabei ins „Moralgefängnis“. Für die Erhaltung von Freiheit und Menschlichkeit einzutreten – wer kann da schon etwas dagegen haben wollen?

Und so kommen sie uns mit „Fakten“ und „Faktenchecks“ (Andrick, S. 121) sind „Hart aber fair“, die Mehrheitsdemokraten bei „Maischberger“ oder „Markus Lanz“. Fakten werden hingebogen, wie es passt, sind, wie Andrick richtig beschreibt, etwas bewusst Hergestelltes. Wer die Fakten setzt, übt Macht über den Diskurs aus, ja, er strukturiert regelrecht den Diskursraum.“

Konnte man zuletzt bei „Illner“ live verfolgen, wie sich Wagenknecht und eine regierungsnahe Politik- und Militärwissenschaftlerin darüber stritten, ob die Bundesrepublik nun 70 oder 90 Milliarden für Rüstung und Rüstungsexporte ausgegeben hat. Natürlich wird dann von letzterer behauptet – sie hatte es ganz bestimmt „gehört“ – dass der „russische Diktator“ (glänzende Rhetorik, um in Friedensverhandlungen zu treten) die alte Sowjetunion wieder herstellen, ja eigentlich bis nach Lissabon marschieren will.

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Andrick: „Der Debattenraum zu diesem Thema wird sehr unterschiedlich strukturiert, je nachdem, welche Version sich allgemein oder doch im Großen und Ganzen durchsetzt. Diese unterschiedlichen Urteile ziehen aus demselben realen Geschehen zwei unterschiedliche Fakten (Angriffskrieg oder Befreiungsakt), die sich nun im Kampf um die Deutungshoheit befinden.“ (S. 122)

Anmerkung in eigener Sache: Mir sind Friedenswahrung und Wahrung gemeinsamer Sicherheitsinteressen dabei allemal lieber, als wieder anzufangen, Deutschland als Vorposten von Atomraketen auszubauen, mit einem Weltkrieg zu spielen, einer kruden Abschreckungslogik zu folgen, um dann alle Kürzungen im so bedürftigen sozialen Sektor mit dem Monster aus dem Kreml, der ja „alles erobern“ will, zu begründen.

Andricks Ausführungen sind dabei sehr aktuell und von seiner Seite wirklich vernunftbegabt zu lesen und zu verstehen. Für die Vorstellung – die auch im zweiten Teil nur unvollständig sein kann – seines „Moralgefängnisses“ sei an dieser Stelle nur noch ein weiteres, dafür sehr aufschlussreiches Kapitel vorgestellt. Und zwar, wenn es sich um „Hass und Hetze“ dreht – ein durchaus gängiger alliterativer Topos auf linken und grünen Plakaten.

Fragwürdige Maßnahmen des Bundes

Und wieder: Wen kann es als aufrichtigen Antifaschisten stören, dass nazistischen Rhetorikinstrumenten in einer aufgeklärten Gesellschaft etwas entgegenzusetzen ist? Nur sollte bei der Wahl der Abwehrinstrumente darauf geachtet werden, dass man nicht mit einem Meinungsdiktat („Putin will nun mal Krieg, er ist ein Aggressor von Hause aus.“) eine „Äußerungsangst“ und einen „Denunziationsgeist“ (Andrick) fördert, der dazu führt, dass mittlerweile gut ein Drittel der Deutschen glaubt, die Meinungsfreiheit in unserem Lande sei gefährdet.

Alles Spinner und Nazis, denen man nur die regierende Politik „besser erklären“ (Scholz) muss? Mitnichten. Wieder Andrick: „Durch moralisierendes Diskussionsverhalten erzeugen wir dieses Elend gemeinsam mit den Offiziellen und Journalisten der Republik und beitreiben das Regime des Moralismus so lange weiter, wie wir es nicht durchschauen und hinter uns lassen.“ (S. 125)

Die Innenministerin reagierte gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen in der Bundesregierung mit Initiativen und Demokratiefördermaßnahmen, oftmals vom Bund auch bezuschusst – bspw. „no hate speech“ – um eine Festigung der „demokratischen Grundlagen“ der Gesellschaft zu erreichen. „Hass“ wird dabei zu einem politischen Kampfbegriff, wertet die Äußerung von Fremden und Fremdem grundsätzlich ohne Diskussion ab, führt überdies in Ermangelung aufklärender Gespräche ohne vorher festgelegte Deutungshoheit zu einem als repressiv empfundenen Erlaubnis-Klima.

Schlecht, wenn man dabei mit doppelten moralischen Maßstäben zu Werke geht. Die Zerstörung von zivilen Krankenhäusern ist in Kiew offenbar eher meldungs- und verurteilungs- „wert“ als im Gaza-Streifen. „Hass und Hetze“ sind also durchaus subjektiv interpretierbar und werden auch nach ihrer politischen Opportunität unterschiedlich betrachtet. Denkt man dabei nur politisch instrumentell, werden schnell die Glaubwürdigkeit, die Aufgabe der politischen Führung durch die regierende Führung eines Landes unterhöhlt, Gräben und „Spaltungen“ vertieft.

Gesinnungsvorgaben werden zur etikettierten moralischen Korrektheit, Fortschritt und „Wege zu Freiheit und Frieden“ können dann schnell als diktatorisch empfunden werden, wenn die geistigen Väter und Mütter zu ähnlichen Methoden bei der Durchsetzung greifen, die sie ihren politischen Gegnern unterstellen. Das erinnert irgendwie an frühere Zeiten, als sich ein System beim Volk zu delegitimieren begann. Aber vielleicht ist das auch ein „falscher“ moralischer Vergleich und ich bin nur nicht auf der richtigen Linie. Wer weiß.

Michael Andrick, Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden, Westend-Verlag 2024, 160 S.

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