Er gehört zu den fast vergessenen der deutschen Exil-Literatur: Emil Ludwig. Dabei zählte er in den 1920er Jahren zu den meistgelesenen Autoren Deutschlands. Seine dickbändigen Biografien über Bismarck, Rembrandt, Napoleon, Wilhelm II. lagen auf den Nachtschränken der Leserinnen und feierten auch international Erfolge. Schon 1932 ging er ins Exil. 1940 veröffentlichte er ein für ihn sehr schmales Buch, in dem sich der fast 60-Jährige über die wichtigsten Dinge im Leben Gedanken machte.
Das Büchlein könnte man doch wieder veröffentlichen, fand Thomas B. Schumann, der Verleger der Edition Memoria, in der er der Exil-Literatur nicht nur ein Zuhause gegeben hat, sondern auch Stimmen wieder hörbar und lesbar macht, die auch im Nachkriegsdeutschland kaum noch Gehör fanden. Es ist die große Tragik der Exil-Literatur, dass sie außerhalb Deutschlands erschien und damit für die Jahre der Hitler-Diktatur für den literarischen Diskurs in Deutschland selbst praktisch unsichtbar war, auch wenn die Autorinnen und Autoren vorher die Stars der großen deutschen Verlage gewesen waren.
Und nach dem Krieg gelang es nur wenigen dieser Autoren, mit ihren Buchtiteln wieder einen Platz im deutschen Literaturgeschehen zu finden. Viele konnten an ihre Erfolge vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht anknüpfen. Zu ihnen gehörte Emil Ludwig. Was auch damit zu tun haben könnte, dass seine Art zu schreiben von der Zeit überholt worden war.
Denn während die Nationalsozialisten versuchten, einen ganzen Kontinent zurückzubomben in eine imaginäre glorreiche Vergangenheit, die es so nie gegeben hatte, veränderte die Moderne nicht nur die Mode, die Technik und das Verhältnis von Männern und Frauen (man glaubt ja gar nicht, auf wie vielen Gebieten die Nazis letztlich gescheitert sind), sondern auch das Verständnis von Kunst und Literatur.
Der Schatten eines anderen, lebendigeren Deutschland
Auch das gehört zur Tragik der Exil-Literatur: Nach dem Krieg hungerten die Leserinnen und Leser in Deutschland vor allem nach den Neuerscheinungen der (westlichen) Weltliteratur, auf die sie zwölf Jahre lang verzichten mussten. Während sie die Romane amerikanischer Autoren nun mit Heißhunger verschlangen, fanden die schwergewichtigen Romane im Stil der 1920er Jahre kein Publikum mehr. Andere Themen beschäftigten die Leser. Und ein anderes Erzähltempo – moderner, schneller, innovativer – bestimmte die Nachkriegsliteratur.
Aber Ludwigs Gedanken über Glück und Liebe zeigen noch etwas Anderes. Obwohl sie sich, wären sie 1940 in Deutschland erschienen und nicht nur in der Schweiz, sicherlich modern und zeitgemäß gewirkt hätten. Natürlich in einem anderen Deutschland, in dem nicht ein gleichgeschalteter Kulturapparat all die Ideen von Emanzipation und sexueller Freiheit, die Ludwig thematisiert, unterdrückt hätte.
Man stutzt immer wieder, wenn Ludwig den Umgang von Männern und Frauen schildert, dass er ein modernes Deutschland vor Augen zu haben scheint, das es 1940 gar nicht gab, hatten doch die Nationalsozialisten alle emanzipatorischen Errungenschaften der Weimarer Republik zurückgedreht und ein verstaubtes, völkisches Familienbild zur Norm gemacht, das heute wieder die neuen Völkischen begeistert.
Und 1940 war es tatsächlich modern, nur halt nicht (mehr) in Deutschland. Gerade weil Ludwig die Faschisten nur an einer Stelle erwähnt („Ein Leben, das an Genüssen zunimmt, wächst zugleich an Gefahren. Das haben die Faschisten nicht erfunden, sie haben es nur missverstanden“), wird deutlich, dass er in Wirklichkeit über eine Zeit schreibt, die mit dem Aufstieg der Nazis zertrampelt wurde.
Konkret im Grunde über den Beginn seiner Liebe zu seiner späteren Frau Elga, wie Armin Fuhrer im Nachwort feststellen kann. 2021 hat Fuhrer ja die große Ludwig-Biografie vorgelegt, die dem fast Vergessenen noch einmal Aufmerksamkeit verschaffte.
Die Moderne, das Alte und der Krieg
Die Bekanntschaft mit Elga begann 1905. Es ist also auch nicht nur die sexuelle Befreiung und die zunehmende Emanzipation der Frau in der Weimarer Republik, die in Ludwigs Buch wetterleuchtet. Denn dieses moderne Verhältnis der Frauen und Männer zueinander hat seine Wurzeln im späten Kaiserreich, in jenem Aufglimmen einer explosiven Moderne, die scheinbar so gar nicht zum feudal-nationalistischen Brimborium der späten Kaiserzeit passt.
Auch so ein Problem, das viele Historiker einfach ausblenden, wenn sie über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs schreiben: Dass dieser Krieg auch eine Reaktion auf die gesellschaftliche Modernisierung in Deutschland selbst war. Das Alte versuchte noch einmal, mit einem vom Zaun gebrochenen Krieg sein altes Pathos zu bestätigen.
Da geht fast unter, dass sich zwischen 1900 und 1930 ein regelrechter Modernisierungsschub im Verhältnis der Geschlechter vollzog, den Ludwig in seinem Buch auch mehrfach benennt und beiläufig immer wieder an die kaum noch vorstellbaren verknöcherten Zustände „vor 50 Jahren“ erinnert.
Er schildert also etwas, was es im damaligen Nazi-Deutschland eigentlich nicht geben durfte. Aber in seinem Schweizer Exil konnte er noch nicht ahnen, dass diese Veränderung im Selbstverständnis der Geschlechter noch immer im Gange war und schon wenige Jahre später all seine Vorstellungen von freier und bewusst erlebter Liebe wie veraltet wirken lassen würde. Obwohl sie ihren Reiz haben. Aber der ist vor allem ein literarischer.
Es liest sich tatsächlich so: Ludwig wird sehr anschaulich, schildert markante Szenen, wird bildhaft und lässt seine Jünglinge und gereiften Männer, Mädchen und erfahrenen Frauen agieren, als zöge er die Strippen in einem großen Roman, in dem seine Heldinnen und Helden auftreten und exemplarische Szenen von Liebe, Treue, Untreue, Verkupplung, Versagen, Gewähren und Entsagen durchspielen.
Emanzipation und veraltete Rollenbilder
Aus Ludwigs Perspektive ist die Beziehung von Mann und Frau vor allem ein Kampf, in dem die Rollen klassisch verteilt sind, sonst funktioniert das nicht mit der Liebe. Der Mann ist der Eroberer und Verführer (und kann dabei jede Menge Fehler machen), die Frau ist die, die sich verführen lässt – aber auf ihre Weise das Spiel von Nähe und Verweigerung bestimmt.
Da und dort lässt Ludwig durchaus anklingen, dass er sich auch mit der großen Liebesliteratur der Welt beschäftigt hat. Goethe zitiert er mit seinen Sprüchen (auch denen zum Fremdgehen und zur Untreue) genau so gern, wie er sich intensiv auf Balzac und Stendhal bezieht. Während er indirekt – wie Fuhrer feststellt – die Thesen Sigmund Freuds über Liebe und Sexualität demontiert.
Was nicht überrascht, hat Freud ja seine Thesen genau zu jener Zeit aufgestellt, in der auch in Deutschland und Österreich noch gnadenlos altbackene Vorstellungen von Jungfräulichkeit, Sitte und Moral herrschten. All der provinzielle Mief, den eine wagemutige Literatur ab der Jahrhundertwende von den Bühnen kehrte. Das ganze martialische Auftrumpfen des Völkischen war auch eine direkte Reaktion auf diese gesellschaftliche Emanzipation. Und ist es bis heute. Und hat entsprechend tragische Folgen – bis hin zu der oft diskutierten häuslichen Gewalt und den Femiziden, mit denen überforderte Männer dann ihre Frauen töten.
Die sie ganz bestimmt nicht mehr geliebt haben. Mit dieser Illusion räumt Ludwig gründlich auf, der als fast 60-Jähriger eben auch rekapituliert, wie er selbst mit den vielen Phasen in seiner Ehe umgegangen ist, in denen die Liebe zu erlöschen schien, der Überdruss dominierte, die Entfremdung Raum griff und ein unleidlicher Umgang der beiden Eheleute Tür und Tor öffnete für Verdruss, Abschied und die Suche nach dem Glück anderswo.
Die Durststrecken der Liebe
Weshalb auch das Glück mit im Buch steckt – quasi als Ouvertüre, weil es nun einmal auch in der Liebe darum geht, das Glück im Gemeinsamen zu finden. Oder wiederzufinden. Denn kein Gefühl kocht ein Leben lang auf höchster Stufe. Den Tagen, Wochen und Monaten der großen Verzauberungen folgen die Jahres des Alltags, der Langeweile, der Flucht in die Arbeit (die auch Ludwig nur zu gut kannte), Momente der Verstörung, des Verlustes, der Entfremdung. All das schildert Ludwig so ausführlich, als wäre er ein Ehe-Doktor und würde jungen Paaren nun zeigen, was da alles für Gefährdungen und Durststecken auf sie zukommen.
Er macht sich Gedanken darüber, wie es überhaupt dazu kommt, dass sich zwei Menschen ineinander verlieben oder überhaupt erst aufmerksam aufeinander werden und dann ein reges Interesse für den Anderen oder die Andere entwickeln, wie der Reiz der Leidenschaft durch Verweigerung, Verzögerung und ein Spiel mit versteckten und offenen Signalen sich entfalten.
Und gleichzeitig stellt er fest, dass dieses Spiel mit verhüllten Reizen und Konventionen vielleicht doch schon zu seiner Zeit nicht mehr gilt, einer Zeit, in der die junge Generation mit dem Sport aufwächst und unverhüllte Körper das Normale sind. Und er merkt durchaus an, dass das ein Gewinn sein kann und die jungen Leute der Liebe wohl nüchterner und pragmatischer begegnen.
Es muss ihm schon im Moment des Niederschreibens bewusst gewesen sein, dass er über eine vergangene Epoche schrieb und gesellschaftliche Balzrituale beschrieb, die es so nur noch in Romanen und Liebesfilmen geben kann. Auch wenn selbst heutige Leserinnen durchaus nachempfinden können, wie es knistert, wenn man sich so noch ohne Rückversicherung und gegenseitiges Versichern begegnet.
Der Wille zum Glück
Aber während oberflächliche Filme den Fokus auf die so faszinierende Zeit der ersten Verliebtheit richten, weiß Ludwig, dass es im Leben um viel mehr geht und nicht nur um die wilden Momente der Verführung. Weshalb es in diesem Buch nicht nur um Glück und Liebe geht, sondern auch um Freiheit (die man einander lässt), um Toleranz, Freundschaft, Eifersucht, Takt und Vertrauen. Eben auch um Rezepte, wie man eine Partnerschaft auch dann am Leben erhält (und die Achtung voreinander behält), wenn die erste Glut des sexuellen Begehrens erloschen ist.
An einer Stelle zweifelt Emil Ludwig sogar an, dass Kinder eine Partnerschaft am Leben erhalten können oder dass es beim Verlangen tatsächlich um Kinder geht. Eins wird jedenfalls deutlich: Dass die ganze Sache mit dem Lieben wesentlich komplexer ist, als es in gewöhnlichen Liebesratgebern erzählt wird. Und dass es auch in der Partnerschaft, in der man durchaus geneigt ist, sich anzupassen, zu verlieren und aufzugeben, darum geht, die eigenen Vorstellungen vom Leben zu verwirklichen. Und der Partnerin oder dem Partner genau diese Freiheit auch zu lassen.
Was Ludwig freilich sehr auf die Untreue fokussiert. Man merkt schon, dass er den ganzen alten Kanon noch im Kopf hat – samt den Vorstellungen davon, wie Frauen eigentlich ticken, mit denen die Literatur des 19. Jahrhunderts regelrecht verstopft war. Die bürgerliche Literatur, muss man anfügen.
Die Unterscheidung ist Ludwig durchaus bewusst, dass „die reiche Ehe gefährdeter als die arme“ ist. Denn es sind die Töchter aus bürgerlichem Haus, die zuerst die Freiheit kennenlernen, in der Partnerschaft auch ihre Wünsche verwirklicht zu sehen. In armen Ehen – und das hat sich bis heute nicht geändert – sind beide Partner im Grunde so eingespannt ins simple Aufrechterhalten der kleinen Familie, dass sie sich eine Scheidung meist gar nicht leisten können.
Nach dem großen Furioso
Noch so eine Stelle, an der man merkt, dass Ludwig durchaus einen Blick für den doppelten Boden der Gesellschaft hat, die er hier eigentlich schildert. Die rafifnierten Spiele, die er gern in literarischer Pointierung beschreibt, sind die Spiele einer Gesellschaftsschicht, in der eben nicht Armut, Misslingen und gegenseitige Abhängigkeit die Grenzen setzen – und die Ursache echter Tragödien werden.
Am Ende liest sich das Buch ganz ähnlich wie die 100 Jahre früher erschienenen „Liebesratgeber“ von Stendhal oder Balzac: Als Sittenbild einer Zeit, die schon in dem Moment, in dem Ludwig sich hinsetzte und die 175 Seiten herunterschrieb, vergangen war, während längst schon die Zeichen einer neuen Etappe der Emanzipation sichtbar wurden.
Nur eins hat sich nicht geändert: Dass es nach dem großen Furioso der ersten Liebe immer weiter geht. Und man sich doch etwas anstrengen muss, wenn man den geliebten Menschen nicht wieder verlieren möchte. Auch wenn die Rezepte, die Ludwig dazu empfiehlt, wohl doch eher nur seine eigenen sind. Und ansonsten jeder und jede ihre eigenen Wege finden müssen, die Partnerschaft lebendig zu halten. Was es – man siehe das Kapitel Glück – allemal wert ist. Aber geschenkt wird einem nur die Liebe. Alles andere braucht Aufmerksamkeit, Ausdauer und viel Verständnis.
Emil Ludwig „Über das Glück und die Liebe“ Edition Memoria, Hürth bei Köln 2024, 28 Euro.
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