Es geht bei der Demokratie nicht nur um Mehrheiten, die Minderheiten überstimmen. Wer das erzählt, hat es wirklich nicht begriffen. Oder will die Demokratie für andere Zwecke missbrauchen. So gesehen ist dieses Buch des Philosophen Martin Scherer ein hochaktuelles Buch. Denn es erinnert daran, dass es bei der „Erfindung“ der Demokratie nicht um rücksichtlose Machtambitionen ging, sondern um die Zähmung des nur zu leicht zu Aggression, Hass und Gewalt neigenden Menschen.
Ist denn der Mensch nicht – wie der niederländische Historiker Rutger Bregman feststellte – „Im Grunde gut“. Ist er. Sonst hätte er auf dieser Erde nicht überlebt. Aber er hat auch Hierarchien erfunden, in denen man keine Karriere macht, wenn man gut ist. Hierarchien, die vor allem gewaltbereite und rücksichtslose Männer befördern und bevorteilen. Und die deshalb für solche Männer auch attraktiv sind. Hier können sie „kämpfen“, zeigen, was sie für „Mannsbilder“ sind, was für Helden mit großer Geste und rücksichtslosem Mitteleinsatz sie sind. Sie zetteln Kriege an, prügeln auf Minderheiten ein, verbrennen die Welt.
Erstaunlich, dass noch niemand wirklich untersucht hat, warum das so ist.
Aber natürlich hat das auch damit zu tun, dass sich auch die Historiker nicht wirklich damit beschäftigt haben, warum Demokratien Formen des Respekts, der Kooperation, der Achtung und der Höflichkeit brauchen.
Überrascht, dass man das heute kaum noch zu sehen bekommt?
Respekt und Distanz
So ganz grundlos ist Scherer nicht auf die Idee gekommen, sich mit einer scheinbar so veralteten Tugend wie dem Takt zu beschäftigen. Und er geht weit zurück – bis in die italienische Renaissance und eine Feudalwelt, die eigentlich von permanenter Gewalt geprägt war. Konflikte wurden brutal und mit Waffengewalt gelöst und angefacht. Und dennoch bildete sich an den Höfen dieser Zeit etwas heraus, was bis heute überdauert hat. Exemplarisch dafür steht das 1528 veröffentlichte Buch „Il Libro del Cortegiano“, „Das Buch vom Hofmann“ von Baldassare Castiglione, in dem es nicht nur um Höflichkeit geht.
Die Unterschiede nimmt Scherer sehr genau unter die Lupe. Und er zitiert einige der wirklich klugen Autoren, die sich tatsächlich einmal mit der Rolle des Takts im menschlichen Miteinander beschäftigt haben. Denn er kommt überall dort zum Einsatz, wo Menschen auf engem Raum miteinander auskommen müssen, ohne sich die Schädel einzuschlagen. Das sollte er zumindest. Und an den Höfen der Renaissance war er überlebenswichtig – gerade für die niederen Chargen in der Hofhierarchie. Denn jeder Fehler, den man machte, jede Persönlichkeit, die man kränkte, konnten sich rächen. Neid und Missgunst verschwanden ja nicht einfach, wenn man höflich miteinander umging.
Aber die hohe Schule des Takts schafft mehr als pure Höflichkeit. Sie schafft das nötige Vertrauen im Moment, die Akzeptanz des jeweils Anderen, sodass ein Gespräch möglich ist, ohne zu verletzen. Und gleichzeitig schafft sie die kleine aber so wichtige Distanz, die man braucht, um einerseits die Basis für einen förmlichen Umgang miteinander zu schaffen, andererseits aber auch Übergriffigkeit zu verhindern – und dem Gegenüber trotzdem das Gefühl zu geben, dass er ein geachteter Mensch ist.
Taktlose Plattformen
Logisch, dass Scherer sich sehr ausgiebig mit Themen wie Schein und Sein, Lüge und Wahrheit beschäftigt. Wahrheit auch, wie sie heutige Apologeten gern verstehen, die keine Skrupel kennen, dem Gegenüber ohne Aufprallschutz ihre „Wahrheit“ ins Gesicht zu sagen. Gerade diese Typen kommen meist sehr scheinheilig um die Ecke und versuchen einem zu erklären, was Wahrheit ist. Nämlich ihre eigene – und nur ihre Sicht auf die Welt.
Obwohl alle wissen, dass keine zwei Menschen dieselbe Sicht auf die Welt haben und „Wahrheit“ stets eine sehr subjektive Perspektive hat. Da kann man dann natürlich anfangen, den ach so unverständigen Gegenüber „aufzuklären“ und ihm mit gesteigerter Penetranz klarzumachen, dass er falsch liegt, dumm und bescheuert ist. So, wie das heute oft genug im realen Leben, in Talkshows und selbst Parlamenten zu sehen ist. Denn Rücksichtslosigkeit steckt an.
Wenn alle das Gefühl haben, dass man nur noch Erfolg hat, wenn man den Anderen fertigmacht, dann bekommt man genau das, was der Takt verhindern soll: ein Hauen und Stechen, Brüllen, Pöbeln und Beleidigen. Was – da erzählt ja Scherer nichts Neues – durch die sogenannten „social media“ massiv befördert wird. Deren Algorithmen belohnen Rücksicht, Takt und aufeinander eingehen nicht, sondern all das, bei dem die Gemüter überkochen, gezürnt, gebrüllt, gelogen und verächtlich gemacht wird.
Schon deshalb gehören diese riesigen Plattformen eigentlich abgeschafft, da ja deren Inhaber nicht einmal zu begreifen scheinen, was sie mit der Demokratie anstellen, wie sie regelrecht die Zündschnur anlegen, weil sie Demokratie mit rücksichtslosem Übertrumpfen verwechseln.
Die Leidtragenden sind vor allem die Schwächeren. Sie werden ausgegrenzt, markiert, diskriminiert, mit Hass und Bosheit überschüttet.
Eine 100 Jahre alte Lehre
Bei Helmuth Plessner fand Scherer eine Definition von Takt, die das Ganze sehr schön auf den Punkt bringt: „Die erzwungene Ferne von Mensch zu Mensch wird zur Distanz geadelt, die beleidigende Indifferenz, Kälte und Rohheit des Aneinandervorbeilebens durch die Formen der Höflichkeit, Ehrerbietung und Aufmerksamkeit unwirksam gemacht und einer zu großen Nähe durch Reserviertheit entgegenwirkt.“ Das schrieb Plessner 1924 in seinem Buch „Grenzen der Gemeinschaft“. In einer Zeit, da sich schon andeutete, dass die junge Weimarer Republik durch die Rücksichtslosigkeit der Extremisten beschädigt und am Ende gar zerstört werden würde.
Das Buch ist hochaktuell. Wir sind wieder da. Wieder brüllen sich Parteien zu Wahlsiegen, die in der Entfesselung von Hass und Verachtung ihre Chance sehen, die Demokratie zu zerstören und – wie die Nazis 1933 – nach der Macht zu greifen. Denn sie agieren in einem Kosmos, in dem es nur um Macht geht, nicht um Kooperation, gemeinsame Lösungen, den friedlichen Diskurs. Egal, ob es ihre Parlamentsauftritte sind oder ihre Beitragsflut in den Netzen: Sie hämmern den Wahlbürgern ein, dass es in der Welt wieder nur darum geht, wer der Stärkste ist, wer am rücksichtslosesten ist und wer „nicht dazugehört“, wer also deportiert, entrechtet und ausgegrenzt werden soll.
Und so ist Scherers Buch im Grunde auch ein kleiner Appell an die Bürger selbst: Wollen sie das wirklich? Wollen sie das friedliche Projekt Demokratie tatsächlich wieder durch ein System der Rücksichtslosigkeit, des Machtmissbrauchs und der unterdrückten Minderheiten ersetzen? Ist das wirklich eine neu entdeckte Lust, fröhlich auf Menschen – zumindest verbal – herumzutrampeln, die sich gegen den Hass nicht wehren können?
Entfesselter Hass
Vergessen (oder nie gelernt) die simple Tatsache, dass die Demokratie tatsächlich „erfunden“ wurde, um genau das zu unterbinden und auch den Schwachen und Machtlosen Schutz und Frieden zu geben, einen Ort in einer Gemeinschaft, in der der respektvoller Umgang miteinander genau das ermöglicht, wozu Autokratien nicht in der Lage sind: Das Gemeinsame als ein Projekt zu erleben, an dem alle mitarbeiten und mitgestalten können. Auch wenn man einander nicht mag und lieber Distanz hält zu seinen Mitmenschen.
Eine Distanz, die eben auch schützt. Die jenen Freiraum sichert, in dem man normalerweise agieren kann, ohne dass einen jemand anpöbelt, beleidigt und aggressiv angeht. Doch genau diese Distanz unterhöhlen die Populisten derzeit „mit aller Macht“, rücksichtslos. Als wäre das menschliche Miteinander ein Krieg, in dem man sich nur brutal durchsetzen kann.
„Distanz und Diskretion mögen für den hass- und hämeaffinen Zeitgeist heute die wohl fremdesten Worte sein“, schreibt Scherer.
Die Entfesseler der Hasssprache greifen genau an dieser Stelle alles an, was der Demokratie überhaupt eine Grundlage gibt. Zielgerichtet, systematisch und nie nachlassend. Es wird gelogen, unterstellt, verzerrt und beleidigt, wo immer es nur geht. Und das Schlimme ist: Viele, viel zu viele Wähler lassen sich anstecken davon, glauben sich gemeint und nun wieder zugehörig zu einem Abstraktum, das sich mal wieder Volk nennt. Nur dass zu diesem „Volk“ eine Menge anderer Leute auf einmal nicht mehr dazugehören.
Es sind dieselben Mechanismen, die Plessner schon in den 1920er Jahren beobachtet hat – und am Ende vergeblich gegen die Entfesselung des Hasses anschrieb. Er sah, was passierte, wie die deutschen Parlamente zu Orten der rücksichtslosen Auseinandersetzung wurden – ein Spiegel der Straße, wo die extremen Parteien meinten, mit Gewalt ihre Interessen durchsetzen zu können.
Eine Frage der Würde
Und das Tragische scheint zu sein, dass eine Menge Wahlbürger nicht begriffen haben, wie das heute wieder vonstattengeht und der Lärm der Rücksichtslosen alles übertönt. Das setzt sich bis in die Privatbereiche fort, wo dann nur noch gewütet wird miteinander, nicht mehr gesprochen. Und so mancher fühlt sich in der Rolle des Wüterichs, der jede Party crasht, auch noch sauwohl, fühlt sich stark und unbesiegbar und völlig im Recht, wenn er die Anderen zum Schweigen bringt und taktlos jedes freundliche Gespräch demoliert.
Muss man es noch betonen? Es zielt direkt auf die menschliche Würde. Die so gern beschworen wir heutzutage mit Verweis auf das Grundgesetz. Aber was passiert, wenn eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen gerade darin ihren Sport sieht, andere Menschen ihrer Würde zu berauben? Auf nichts Rücksicht zu nehmen und wie Bulldozer jedes Gespräch zu zermalmen?
Und dann besonders die Menschen auch noch verachten, die darauf selbst nicht mit Rüpelei und Lautstärke reagieren. Sondern mit – distanzierter Höflichkeit. Das wird ihnen als Schwäche ausgelegt und postwendend missbraucht. Gegen niemanden wüten die Wüteriche in diesem Land so sehr wie gegen die tatsächlich Schwächeren und die Rücksichsvollen.
Die aber eben eines die ganze Zeit auch mit jeder Menge Energie in Bewegung setzen: die Möglichkeit zum taktvollen Umgang miteinander. Wohl wissend, dass sonst die ganze Gesellschaft in wütendem Chaos versinkt. Oder mit den Worten von Martin Scherer: „Ihr Augenmerk galt vielmehr der Möglichkeit von Würde. Zu diesem Zweck bedürfte es einer Formgebung, die das innere Raubtier so zu kaschieren versteht, dass es sich möglicherweise sogar zähmen lässt.“
Eine Formfrage, von der die Beteiligten in der Regel wissen, dass es vor allem um die Form geht, wie man – auch auf schwierigem Terrain – achtungsvoll miteinander umgeht. Es wirkt wie ein Tanz, dient aber vor allem dazu, einander zu schonen und den Umgang miteinander zu erleichtern und manchmal auch erst möglich zu machen. Ohne zerdeppertes Geschirr und wütendes Gebrüll. Scherer: „Das könnte eine Anregung für die Heutigen enthalten …“
Mehr Grazie. Weniger blutige Gemetzel. Denn die Demokratie lebt vom Gespräch und vom Respekt voreinander. Alles andere führt in jene Abgründe, die Plessner 1924 schon so deutlich sich abzeichnen sah.
Martin Scherer „Takt“, zu Klampen Verlag, Springe 2024, 14 Euro
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