Da ist Deutschland eines der reichsten Länder der Erde. Die Bundesbürger zahlen happige Anteile ihres Einkommens als Krankenkassenbeitrag. Und trotzdem wird die Versorgungslage für immer mehr Menschen immer schlechter, fehlen hunderte Ärzte, wurden hundertausende Pflegearbeitsplätze gestrichen und immer neue Runden gibt es in der Diskussion um Krankenhausschließungen. Auch in Sachsen.
Und als Ergebnis dieser Diskussion und eines Artikels, den wir am 17. April veröffentlichten, flatterte uns dieses Buch ins Haus, das 2022 erschien und die Misere unseres Gesundheitssystems aus der Insider-Perspektive eines Arztes erzählt, der acht Jahre lang auch als Chefarzt einer privatwirtschaftlich geführten Klinik arbeitete.
Man vergisst ja so leicht, dass das Krankenhaussystem aus unser aller Krankenkassenbeiträgen bezahlt wird. Nur scheint es in der Diskussion so, als wenn nur die privaten Konzerne es schaffen, daraus ein profitables Geschäft zu machen, während die Kommunen und anderen öffentlichen Träger Krankenhäuser haben, die immer tiefer in die roten Zahlen rutschen.
Selbst große und renommierte Einrichtungen wie das Universitätsklinikum Leipzig und das Städtische Klinikum St. Georg. Sind deren Verwaltungen einfach zu doof, mit dem Geld, das sie für ihre medizinische Versorgung bekommen, auszukommen? Verschwenden sie die Gelder?
Das Märchen von der Kostenexplosion
So klingt das ja meist, wenn dann marktverliebte Politiker die Diskussion befeuern, das Krankenhaus vor der Haustür entweder zu schließen oder zu verkaufen. An einen der großen Konzerne, die in Deutschland mittlerweile ganze Krankenhausketten betreiben. Über 40 Prozent der deutschen Kliniken sind inzwischen in Privathand.
Aber an der Gesundheitsversorgung hat das nichts gebessert. Im Gegenteil. Und das hat Gründe, die im falschen Denken von Politikern über „explodierende Kosten“ im Gesundheitswesen. Der Begriff stammt von CDU-Politiker Heiner Geißler (1930–2017) – und ist inzwischen über 50 Jahre alt.
Und er hat über die Zeit ein Denken befeuert, das den Bürgern Glauben machen will, dass „der Markt“ auch das deutsche Gesundheitssystem effizienter und besser machen würde. Daran glauben viele Gesundheitspolitiker noch heute, die sich nie wirklich mit den Praktiken beschäftigt haben, wie private Konzerne Kliniken zu Profitmaschinen machen.
Thomas Strohschneider schildert es in diesem Buch in allen ihm verfügbaren Details. Und er geht auch auf die Anfänge dieser Fehlentwicklung ein, die mit der Einführung der sogenannten Fallpauschalen, der Diagnosis Related Groups (DRG) 2003 begann, die die zuvor den Krankenhäusern gewährten Pauschalbeträge für jeden Patienten ablösten.
Eigentlich waren die DRG ursprünglich gar nicht dazu gedacht, jede einzelne medizinische Leistung in der Klinik mit einem Preisschild zu versehen und damit zur Ware zu machen. Aber nachdem Australien vorgeprescht war, zog Deutschland ohne viel nachzudenken nach und setzte das Projekt noch viel kompromissloser um, während die Australier das DRG-System in Teilen inzwischen wieder korrigiert haben.
Denn wenn DRGs bestimmen, welche medizinische Leistung eigentlich profitabel und welcher Patient mit diesem straffen Kostensystem überhaupt noch gewinnbringend behandelt werden kann, dann passiert genau das, was seit nunmehr 20 Jahren in Deutschland zu beobachten ist: Hunderte Krankenhäuser, die sich der Grundversorgung in ihrer Region verschrieben haben und auch alle Leistungen vorhalten, die das DRG-System schlecht oder gar nicht honoriert, rutschen in die roten Zahlen, werden zur Last für die Landkreise, die dann in der Regel vergeblich versuchen, die finanziellen Löcher zu stopfen.
Mit Filetstückchen ordentlich Profit machen
Und dabei ist genug Geld im System. Nur: Davon profitieren die Krankenhäuser der Allgemeinversorgung nicht. Denn besonders lukrativ sind medizinische Behandlungen, die vom DRG-System mit hohen Preisschildern versehen sind und auf die sich Kliniken dann spezialisieren können, wenn sie in Privathand sind. Auch wenn das anfangs nicht so aussieht und das ärztliche Personal davon ausgehen kann, dass es auch hier nur um erstklassige medizinische Versorgung geht.
Aber spätestens, wenn ihre Abteilung Leistungsbilanzen vorlegen muss und von der Geschäftsleitung vorgerechnet bekommt, dass sie die erwartete Gewinnmarge von 15 Prozent nicht erreicht haben, beginnt das Problem.
Denn ihre Gewinnmargen drücken Konzerne, wie sie in den vergangenen 20 Jahren entstanden sind, gnadenlos durch – mit Boni, wenn die Chefärzte es schaffen, so profitabel zu operieren, wie es von der Konzernleitung erwartet wird. Oder mit entsprechenden „Bestrafungen“, die nicht nur gestrichene Boni beinhalten, sondern auch Drohungen, Assistenzärztestellen nicht zu besetzen oder die unprofitable Abteilung zu schließen. Andere „Sparmaßnahmen“, die am Ende dazu dienen, den Gewinn zu sichern, werden ganz selbstverständlich durchgeführt.
Dazu gehört das Outsourcen ganzer Betriebseinheiten, das Verringern des Pflegepersonals und das Unterlassen von Modernisierungen, die zwar die Qualität der ärztlichen Arbeit verbessern würden, aber nicht sofort einen Effekt in mehr „lukrativen Kunden“ haben.
All das hat nicht nur dazu geführt, dass über 100.000 Arbeitsplätze für Pflegekräfte „verschwunden“ sind, sondern auch dazu, dass sich private Kliniken all der „teuren“ Abteilungen entledigt haben, die niemals Profit abwerfen werden – dazu gehören unter anderem die Kinderabteilungen und Geburtenstationen.
Und es führte natürlich dazu, dass Ärzte in einen tiefen Konflikt geschleudert wurden: Erfüllen sie noch ihr ärztliches Ethos und versorgen die Patienten nach bestem Wissen oder verinnerlichen sie den Druck der Konzernleitung, dass ihre Abteilung und das Krankenhaus zwingend Gewinn erwirtschaften müssen? Was ja dazu führt, dass „komplizierte“ Patienten von vornherein nicht mehr angenommen werden und Behandlungen nicht mehr all das umfassen, was der Arzt für nötig hält, sondern sich nur noch nach den Abrechnungspunkten des DRG richten.
Kassenbeiträge für Konzernprofite
Man darf durchaus erschüttert sein, wenn man sich durch Strohschneiders Buch liest. Denn man schaut ja regelrecht dabei zu, wie profitorientiertes Denken gerade die Grundlagen unserer Gesundheitsversorgung zerstört. Und zwar immer wieder unter markanten medialen Druck der entsprechenden Lobbyorganisationen, die mit hochwissenschaftlich klingenden Argumenten erklären, warum auch die Dienstleistungen für die Allgemeinheit in privater Hand besser funktionieren.
Wofür es nach 20 Jahren Fehlentwicklung keinen Nachweis gibt. Im Gegenteil. Während die Privatkliniken ihre Gewinne an ihre Konzernleitungen abgeben, die daraus Ausschüttungen für ihre Aktionäre generieren, bleiben gerade kommunale Krankenhäuser, die noch den voll umfassenden Versorgungsauftrag erfüllen, auf den Mehrkosten sitzen, die ihnen von den Krankenkassen nicht erstattet werden.
Im Gegenteil: Das DRG-System hat sogar dazu geführt, dass die Krankenkassen allesamt ein personell gut ausgestattetes Kontrollsystem aufgebaut haben – mit vor allem medizinisch ausgebildetem Personal, – das jetzt nichts anderes zu tun hat, als die Abrechnungen der Krankenhäuser penibel darauf zu prüfen, ob die einzelnen Behandlungspunkte korrekt abgerechnet wurden oder die Patienten gar Behandlungen bekommen haben, die über die DRG-Normen hinausgehen.
Seit einigen Jahren bringen es ja einige Kassen fertig, sogar regelmäßig von Abrechnungsbetrug zu sprechen. Strohschneider geht sehr wohl darauf ein, wie wenig an diesen Vorwürfen dran ist, dass es dafür aber längst eine regelrechte Misstrauens-Industrie gibt, denn auch die Kliniken müssen so ein geschultes Kontrollpersonal vorhalten, um zu verhindern, dass die Krankenkassen reihenweise Behandlungen im Haus einfach nicht bezahlen.
Der „Markt“ produziert Misstrauen und Bürokratie
Genau das ist der Markt, von dem die Narren in der Politik immer reden: Er schafft Ungleichheiten, schürt massives Misstrauen und sorgt dafür, dass ein ganz elementares Recht – das Recht nämlich auf eine gesicherte Grundversorgung im Gesundheitswesen – nicht mehr gesichert ist. Stattdessen fliegen berechtigterweise besorgten Landräten die Koste ihrer Krankenhäuser um die Ohren. Was noch einen zusätzlichen Grund hat.
Denn für die Investitionen in die Substanz der Krankenhäuser sind eigentlich die Länder verantwortlich. Doch auch der Freistaat Sachsen hat bei diesem Thema lieber gespart und wichtige Investitionen in den sächsischen Kliniken unterlassen. Auch das ist Teil des neoliberalen Denkens, das einfach behauptet, der Staat solle sich möglichst zurückhalten mit dem Geldausgeben – es wäre sowieso nur Verschwendung. Genau so ticken ja Sachsens Finanzminister.
Aber bis heute hat sich auch kein Gesundheitsminister gefunden, der das völlig aus dem Ruder gelaufene System wieder repariert hätte. Stattdessen droht man den Versicherten damit, entweder Leistungen zu streichen oder ihre Kassenbeiträge immer weiter zu erhöhen. Ein Unding, wie Strohschneider feststellt: „Mit dem Argument der Kostenexplosion kann man aber von Versicherten nicht Leistungskürzungen abverlangen, solange sich auf der anderen Seite Konzerne und Aktionäre wie bei einem Selbstbedienungsladen aus dem Topf der Sozialkassen bedienen. Das Gesundheitswesen ist ein Kernstück unseres Sozialsystems und kann nicht nach den Regeln der freien Marktwirtschaft funktionieren.“
Strohschneider weist auch auf eine Tatsache hin, die die Verfechter der Privatisierung gern ausblenden. Denn Deutschland ist – bei allem Geunke der Querdenker und ähnlicher Luftikusse – relativ gut durch die Corona-Pandemie gekommen mit einer im Vergleich zu vielen anderen Ländern recht niedrigen Sterblichkeitsrate.
Und das geht eben nicht auf das Konto der privaten Kliniken, sondern auf den zum Glück noch immer existierenden Anteil von Kliniken in öffentlicher Hand, die nicht nur die entsprechende ärztliche Kompetenz vorhalten, sondern auch die nötige Zahl von Intensivbetten bereitstellen konnten. Intensivbetten, die für gewöhnlich nur Kosten verursachen, wenn sie leer stehen.
Strohschneider zieht auch den sehr logischen Vergleich mit der Feuerwehr, die auch nur Geld kostet, wenn es nicht brennt. Aber kein vernünftiger Mensch denkt daran, die Feuerwehr einfach abzuschaffen, weil sie nur einmal im Jahr zum Großbrand ausrücken muss. Und genauso funktionieren auch die Krankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft, die aus einer oft Jahrhunderte langen Erfahrung wissen, welche Ressourcen vorgehalten werden müssen, um in einer Notlage schnell die ärztliche Versorgung für viele Patienten zu sichern.
Dieses System produziert Opfer
Strohschneider geht auch noch auf einige andere makabre Punkte im DRG-System ein, die schlichtweg dazu führen, dass Ärzte ihre Patienten nicht mehr ganzheitlich betrachten (Zeit zum Gespräch haben sie sowieso keine mehr), sondern regelrecht dazu gedrängt werden, sie schnellstmöglich wieder aus der Klinik zu entfernen, wenn sie anfangen, Mehrkosten zu verursachen.
„Wir verlieren so immer mehr den Blick auf den Menschen in seiner Gesamtsituation. Grenzverweildauern – ein Instrument einer grenzwertigen Medizin“, schreibt er. „Vielleicht müsste man das Ampel-System ergänzen um die Farbe Schwarz für jene Patienten, die Opfer dieses Systems geworden sind.“
Denn die Opfer gibt es längst. Meist sind es jene armen Menschen, die sowieso mit lauter multiplen Erkrankungen zu kämpfen haben, die sich aber im DRG-System in einen einzigen „Fall“ verwandeln, der möglichst schnell durchs System geschleust werden muss. Sonst springt die in einigen Kliniken üblich gewordene Ampel zum Aufenthalt der Patienten von Grün (Alles im Rahmen) auf Gelb (Der Patient sollte schnellstmöglich entlassen werden) auf Rot (Der Patient wird zum Zuschussgeschäft.)
Und Strohschneider blendet auch seine Kollegen nicht aus, die in diesem System verheizt werden – Chefarzt-Kollegen, die verzweifeln, wenn das Profitdenken des Konzerns ihre ärztliche Verantwortung völlig außer Kraft setzt, angehende Assistenzärzte, die nicht mehr ordentlich ausgebildet werden, weil sich ihre Ausbildungszeit im Klinik-Budget nicht „rechnet“, Bettenschieber, die outgesourct wurden und in immer engeren Zeittakten die Patienten zur OP karren müssen.
Und ausgebildete Schwestern, die lieber zu einer Leiharbeitsfirma gehen, um dem unaushaltbaren Druck in der Klinik zu entkommen, wo das Pflegepersonal so heruntergespart wurde, dass es seine Aufgabe gegenüber den Patienten eigentlich nicht mehr erfüllen kann. Oder nur noch mit Überstunden, die aber auch nicht honoriert werden.
Misstrauen erzeugt gigantische Bürokratien
Und ein Aspekt dieser Ökonomisierung des Krankenhauswesens streift Strohschneider natürlich auch: Denn wo derart viel Misstrauen und Kontrolle implementiert wurden, weil dumme Politiker den Ärzten im Land einfach nicht zutrauen, die Patienten nach bestem Wissen und mit sparsamem Ressourceneinsatz zu versorgen, wuchert genau das, was die Verfechter dieser Ideologie immer abschaffen wollen: Bürokratie.
Bürokratie, die natürlich im Zeitbudget der Krankenhausärzte auch nicht eingeplant ist, sodass sie sich nach langen Schichten oft auch noch die Nächte um die Ohren schlagen müssen, um all die schriftlichen Anforderungen der Kassen zu erfüllen. Und wehe, sie tun es nicht: Jeder Behandlungsschritt, den sie vergessen zu protokollieren, wird nicht bezahlt.
Den Profit streichen dabei nur die großen Krankenhauskonzerne ein. Die nicht bezahlten Behandlungskosten müssen am Ende die Kommunen ausgleichen – wenn sie es noch können und ihr Bundesland sie nicht sowieso schon so heruntergespart hat, dass sie nur noch an einen Verkauf ihrer Klinik denken können. Sie bezahlen bitter für eine völlig verfehlte Steuerung im Gesundheitswesen.
Ein völlig verzerrtes System
Oder mit Strohschneiders Worten: „Die Einführung des DRG-Fallpauschalensystems unterstützt diese Negativentwicklung durch die Entwicklung weg von transparenten Budgetfindungsmitteln hin zu einem administrativen Bezahlsystem. Fallpauschalen sind nichts anderes als Preissysteme und heben letztendlich die Zielkongruenz von qualitativ guter Krankenversorgung und Wirtschaftlichkeit mehr und mehr auf.“
Denn während die kommunalen Kliniken in die roten Zahlen rutschen, werden in den meist privaten Spezialkliniken immer mehr Operationen gemacht, die völlig überflüssig sind, aber im DRG-System richtig viel Geld bringen. Sodass die Deutschen im internationalen Vergleich längst viel kränker und gebrechlicher aussehen, als sie sind, weil sie viel öfter solche Operationen verpasst bekommen.
Wirtschaftlich ist das System schon lange nicht mehr. Es kostet längst schon seine Opfer – von Patienten, die nicht mehr die Behandlung bekommen, die sie brauchen, bis zu Ärzten und Pflegekräften, die ausbrennen und desillusioniert ihren Wunschberuf verlassen. Das Buch ist eine Mahnung. Und nichts sieht danach aus, dass auch nur ein verantwortlicher Politiker begriffen hätte, worum es tatsächlich geht.
Thomas Strohschneider Krankenhaus im Ausverkauf, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2022, 18 Euro.
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