„Aus politischen Gründen“ habe Ullstein die 2017 dort erschienene „Hillbilly-Elegie“ von J. D. Vance aus dem Programm genommen, erzählte der „Spiegel“ Ende Juli, auch den Lizenzvertrag mit J. D. Vance nicht mehr verlängert. Der Anlass dafür: Am 15. Juli wurde Vance von Donald Trump auf dem Parteitag der Republikanischen Partei zum Kandidaten für die Vizepräsidentschaft bei der Präsidentschaftswahl im November ernannt. Für viele Leser der „Hillbilly-Elegie“ ein geradezu grotesker Vorgang.
Die Gelegenheit nutzte der in München heimische Verlag Yes Publishing, um sich die deutschen Rechte an dem Buch zu sichern und es binnen kürzester Zeit auf den Markt zu bringen. Denn die Ullstein-Ausgabe von 2017 ist schon seit langem vergriffen. Damals war die „Hillbilly-Elegie“ ein Bestseller, gerade weil sie aus der Sicht eines Betroffenen schilderte, warum so viele weiße Amerikaner aus der Arbeiterschicht Donald Trump gewählt haben.
Seit J. D. Vance 2022 erfolgreich für die Republikaner für den US-Senat kandidierte und im Juli dann gar zu Trumps „Running Mate“ wurde, steht die „Hillbilly-Elegie“ wieder auf den Bestseller-Listen. Die Leser wollen jetzt erst recht wissen, wie dieser Mann von einem der deftigsten Trump-Kritiker zum Apologeten dieses Wüterichs des Populismus werden konnte.
Ein gewisser Peter Thiel
Möglicherweise hat dieser Seitenwechsel einen einzigen Grund und einen einzigen Namen: Peter Thiel. Der Milliardär hatte Vance schon mehrfach in dessen Karriere gefördert. In der Danksagung zur „Hillbilly-Elegie“ erwähnt ihn Vance auch. Thiel gehört zu den großen Strippenziehern in der konservativen Politik der USA.
Und da wird es eigentlich spannend, denn seit 2016 ist Vance auch geschäftlich immer wieder mit Thiel verbunden. Er lebt längst in einer Welt, die mit seiner Herkunft aus den einstigen Industrieregionen in den Appalachen nichts mehr zu tun hat. Ihm ist der Aufstieg gelungen.
Und im Grunde schildert er in „Hillbilly-Elegie“ eben nicht nur, wie eine ganze Bevölkerungsschicht in den einst industriell florierenden Bundesstaaten Alabama, Georgia und Ohio in Depression, Hoffnungslosigkeit, Armut und Drogensucht absackte, sondern eben auch, dass einer, dem es gelingt, dieser Welt zu entkommen, tatsächlich in eine völlig andere Welt mit anderen Manieren, Werten, Ansichten und Selbstverständlichkeiten kommt.
Da, wo die „Hillbilly-Elegie“ endet, beginnt die Lebensgeschichte des Juristen, Geschäftsmanns und republikanischen Politikers James David Vance. Und das ist eigentlich eine tragische Geschichte, die er vielleicht aufschreiben wird, wenn sein Trump-Abenteuer zu Ende ist. Denn dass er erzählen kann, beweist sein autobiografisches Buch „Hillbilly-Elegie“, in dem er schonungslos seine und die Geschichte seiner Familie erzählt. Und beiläufig eben auch die Geschichte all der Menschen, die seine Kindheit prägten. Und erzählt hat er das alles, nachdem er den Aufstieg geschafft hatte. Einen Aufstieg, den aus der Welt, in der er aufgewachsen ist, so gut wie niemand schafft.
Randgebiete
Man kann das Buch auch mit dem deutschen Blick lesen – aus der Perspektive unserer eigenen „Rust Belts“, wo einst tragende Industrien abgewandert sind und die Menschen oft nur berechtigt das Gefühl haben, abgehängt zu sein. Mit deutlichen Unterschieden zu den USA, wo solche Abbrüche in einstigen Industrieregionen viel radikaler vor sich gehen, während andere Bundesstaaten rücksichtslos die dreckigsten Industrien fördern und ansiedeln.
Aber die Phänomene, die Vance bei seinen Hillbillys beschreibt, kennt man auch aus Deutschland – eher freilich aus Randgebieten, „sozialen Brennpunkten“, wie sie genannt werden, wo die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist, der Drogenkonsum ebenso, gleichzeitig die Aufstiegschancen der Kinder radikal schlechter als in anderen Stadtquartieren. Und die „Hillbilly-Elegie“ feierte auch in Deutschland deshalb Furore (und beeindruckte sogar Olaf Scholz), weil sie ein Milieu schildert, das in der deutschen Belletristik so gut wie gar nicht vorkommt.
Was Gründe hat. Denn dazu muss man selbst aus diesem Milieu kommen und wissen, wie die Leute dort ticken und warum sie nie gelernt haben, Konflikte friedlich zu lösen. Warum sie ruppig und rücksichtslos mit Ihresgleichen und auch mit den Kindern umgehen. Und warum sie so oft scheitern. Das alles hat Gründe, die man – da hat Vance nun einmal recht – nicht alle ökonomisch erklären kann.
Und deshalb ist es nach wie vor lohnenswert, sein Buch zu lesen. Denn nichts daran ist falsch geworden. Gerade nicht der intensive Blick auf den unübersehbaren Stolz dieser Hillbillys, die „zögern, sich anderen zu öffnen, aus dem einfachen Grund, dass sie nicht von anderen verurteilt werden wollen.“ Wer das Gefühl kennt, weiß, worum es geht.
Und das betrifft nicht nur Außen- oder gar Höherstehenden, sondern auch die engsten Nachbarn und Verwandten. Es ist ein Klima, in dem über Persönliches und Verletzungen nicht gesprochen wird , aber viel über Ehre. In dem nach außen der schöne Schein gewahrt wird, selbst wenn in den Häusern die blanke Not herrscht – oder Alkohol, Drogen und die familiäre Gewalt.
Vorbilder
Berge von Büchern helfen Vance am Ende zu verstehen, warum sich das alles von Generation um Generation vererbt, warum seine Mutter eigentlich keine echte Chance hatte (und nie das Talent, einen verlässlichen Partner zu finden und eine stabile Familie aufzubauen), warum aber auch seine Großeltern und Tanten und Onkel allesamt solche Erfahrungen mit Gewalt, Alkohol und vererbter Hilflosigkeit gemacht haben.
Und warum er Glück hatte, weil sich seine Großeltern – die er liebevoll Mamaw und Papaw nennt – entschlossen, das Drama für sich zu beenden und wenigstens für den Enkel gute (Ersatz-)Eltern zu sein. Papaw gab rücksichtslos seine Sauferei auf und wurde für den kleinen J. D. im Grunde zum ersten väterlichen Vorbild, dem Bild eines Mannes, der zeigte, dass Väter sich ihren Aufgaben stellen und Kindern zeigen können, wie man im Leben besteht.
Und noch viel eindrucksvoller ist das Bild von Mamaw, die zwar ruppig und derb ist im Umgang mit der Welt, die dem Jungen aber vor allem eines beibringt, was in seinem Milieu ganz und gar nicht als Lebensmaxime gilt: Dass er alles schaffen kann, wenn er sich nur richtig reinkniet und die Dinge anpackt.
Man merkt schon: Hier steckt auch das unbedingte Leistungsprinzip einer Nation, die noch immer daran glaubt, dass es jeder vom Tellerwäscher zum Millionär bringen kann – wenn er nur richtig hart an sich arbeitet und nicht aufgibt. Ein Prinzip, das im Libertarismus eines Peter Thiel völlig pervertiert wird – vielleicht sogar pervertiert werden muss.
Denn wer es geschafft hat – wie am Ende auch J. D., der neigt ganz unübersehbar dazu, denen, diesich (scheinbar) nicht bemühen, vorzuwerfen, dass sie sich ihr Leben selbst versauen. Da ist es dann noch ein großer Schritt zur Arroganz deutscher Politiker, die dann von „sozialer Hängematte“ reden, die sie selbst nie kennengelernt haben, weil gerade diese Typen in der Regel aus reichen Familien stammen, in denen existenzielle Not ein Fremdwort ist.
Denn zur Stimmungslage der Hillbillys gehört nun einmal auch, dass sie tatsächlich fast alle am Rande der Armut leben. Einst sind sie dem Ruf der großen Fabriken gefolgt, die ihnen ein gutes Einkommen verschafften, auch wenn sie die rauen Umgangsweisen aus den Bergen mitbrachten und nie loswurden. Aber als die Fabriken schlossen, weil sich irgendwo anders in der Welt billiger produzieren ließ, blieben sie zurück, hatten nicht das Geld und den Mut, wieder weiterzuziehen. Und das Gefühl des Zurückgebliebenseins in einer Landschaft, in der man kaum noch gute Arbeit fand, verstärkte die Situation.
Die Verhaltensmuster der Kindheit
Kann man das mit dem deindustrialisierten Ostdeutschland vergleichen? Ist hier nicht auch so eine dauerhaft depressive Stimmung, welche die Leute dazu bringt, Populisten zu wählen?
Irgendwie ja, aber auch irgendwie nein. Denn den begabten jungen Leuten fällt es hier viel leichter, ihre Koffer zu packen und wegzuziehen, dorthin, wo es gute Jobs gibt oder gute Studienangebote. Außerdem müssen sie fürs Studieren – anders als in den USA – nicht bezahlen. Vance profitierte davon, dass er an der Yale-Universität ein Stipendium für Kinder aus armen Familie bekam und sich so auch das Jura-Studium dort leisten konnte. Und ganz sicher spielen auch seine vier Jahre bei den Marines eine Rolle, in denen er lernte, sein Leben zu organisieren. Auf die harte Tour des Militärs.
Aber Vance setzt sich nicht grundlos so intensiv mit seiner Familie und all dem auseinander, was er als Kind beobachten konnte. Denn als Kind lernt man alle Verhaltensmuster, die einen durchs Leben begleiten. Auch die falschen, schädlichen und tödlichen. Viele Eltern wissen nicht einmal, was für schlimme Vorbilder sie sind. Ein ganz entscheidender Punkt ist da Vertrauen. Wer nicht lernt zu vertrauen, wird ein Leben lang die Schuld an allem immer bei Anderen suchen.
Und auch wenn der deutsche Osten nie so geschliffen wurde wie die Bundesstaaten in den Appalachen oder im „Rust Belt“: Die Stimmung ähnelt sich, weil auch sie psychologische Gründe hat.
„Bis heute setze ich die Möglichkeit, jemanden ‚ausnutzen‘ zu können, mit der Tatsache gleich, dass man Eltern hat“, schreibt Vance. „Lindsay (seiner Schwester, d.Red.) und mir saß die Angst, jemandem zur Last zu fallen, immer im Nacken; sie verseuchte sogar die Nahrung, die wir zu uns nahmen. (…) Wir waren konditioniert worden zu glauben, dass wir uns auf Menschen nicht verlassen konnten, dass es – selbst für uns Kinder – ein Luxus war, jemanden um eine Mahlzeit zu bitten …“
Fehlende Helden
Dieses Ur-Vertrauen lernt man nun einmal in der Familie. Aber eben nicht in Familien, in denen Väter abwesend sind und Mütter mit den simpelsten Dingen des Alltags überfordert, so wie es J.D. Vance erlebte. Erst Mamaw und Papaw zeigten ihm, wie Erwachsene zu jenen stabilisierenden Personen werden können, bei denen Kinder Zuflucht und Vertrauen finden und lernen, dass das Sich-auf-Andere-verlassen-Können kein Ausnutzen ist. Und die eigene Anstrengung, seine Chancen im Leben tatsächlich zu nutzen, kein Verrat an einer Umgebung, in der das als unmännlich gilt.
Natürlich hat Vance recht, wenn er darin einen der wichtigsten Gründe sieht, dass Kinder aus solchen „benachteiligen“ Milieus den Sprung nicht schaffen aus Armut und prekären Verhältnissen. Und wie beiläufig erwähnt Vance dann etwas, was auch für Deutschland und seine abgehängten Milieus gilt: „Uns Hillbillys fehlen die Helden – ganz bestimmt auch im politischen Bereich.“
Menschen, die trotz allem den Aufstieg geschafft haben, die gezeigt haben, wie es geht und was man drauf hat. Wenn ganze Milieus dabei gar nicht zum Zug kommen, hat das ganze Land ein Problem. Dann greifen auch all die Erzählungen über Eliten und Verschwörungen, mit denen Populisten ihre Wähler fangen. Dann sind „die da oben“ an allem Schuld.
Und in der „Hillbilly-Elegie“ merkt das Vance durchaus noch kritisch an, denn er wusste ja, wie seine Landsleute mit solchen Sprüchen geködert werden konnten und nur zu bereitwillig einen Trump wählten, weil sie sich von den Demokraten (die hier einst ihre Hochburgen hatten) nicht mehr gesehen und verstanden fühlten.
Es ist auch ein verzwicktes Buch, weil es zeigt, dass der Triumph der Populisten genau in solchen Gefühlen des Vergessenwerdens seine Wurzeln hat. Auch wenn sie keine Rezepte haben, die Leute aus ihrer Lethargie und ihrer Verlorenheit herauszuholen. Denn dazu muss man alte politische Denkgewohnheiten aufgeben und verstehen, dass die „Verlorenen“ nicht nur in falschen Emotionen baden, sondern tatsächlich auch das soziale Kapital nicht besitzen, mit dem sie oder ihre Kinder den Aufstieg schaffen könnten.
„Beim Thema soziales Kapital lerne ich noch immer dazu“, schreibt Vance fast zum Schluss, nachdem er geschildert hat, wie ihm dann völlig andere Netzwerke an der Yale-Universität dabei halfen, gut dotierte Anstellungen und nützliche Verbindungen zu bekommen, die er „ausnutzen“ konnte, um weiterzukommen.
Verlorene Heimat
Verbindungen, die seine Landsleute in den Bergen allesamt nicht haben – und noch nicht einmal wissen, dass es sie gibt. Im Grunde hätte Vance dem Buch schon viel früher eines folgen lassen können, das beschreibt, wie Eliten sich ihre Netzwerke schaffen und wie diese Netzwerke funktionieren und dafür sorgen, dass soziales Kapital da bleibt, wo es schon ist – bei den Arrivierten und Erfolgreichen.
Er ist richtig stolz darauf, dass er es – gegen alle Statistiken – geschafft hat, auch wenn er weiß, dass ihn die angelegten Verhaltensweisen aus der Kindheit immer noch begleiten. Aber am Ende liest sich eben auch die „Hillbilly-Elegie“ wie ein Abschied von einer Herkunft und einem Milieu, das dem Autor – so intensiv er sich damit noch einmal beschäftigt hat – am Ende fremd geworden ist. Er hat dort keine Heimat mehr.
Und vielleicht erklärt das schon alles, was nach diesem Buch aus J. D. Vance geworden ist. Und es erklärt möglicherweise auch, warum nicht nur die Wähler populistischer Parteien das Gefühl haben, dass die politischen Entscheidungsträger völlig abgehoben sind und nicht mehr verstehen, wie es den Leuten geht. Offensichtlich fehlen tatsächlich die Rückkopplungen.
Und oft genug auch die Erfahrungen, wie es wirklich ist, in einer wirklich kaputten Familie in einem völlig depressiven Milieu aufzuwachsen und sich dann gegen die eigenen Mutlosigkeiten durchzuboxen nach oben. Denn wenn man nicht weiß, wie es sich „da unten“ wirklich lebt, kann man eigentlich auch keine Politik machen, die den Leuten das Gefühl gibt, verstanden und gesehen zu werden.
Und vor allem auch belohnt zu werden für Anstrengung, Fleiß und die harte Arbeit daran, aus wirklich miserablen Verhältnissen zu entkommen. Ein Traum, den auch in Deutschland viele junge Menschen träumen. Nur eben das Buch über unsere eigene „Hillbillys“ (die so natürlich nicht heißen) fehlt noch. Aber wie gesagt: Das kann nur einer schreiben, der das alles selbst erlebt hat.
J. D. Vance „Hillbilly-Elegie” Yes Publishing, München 2024, 18 Euro.
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Danke für die gelungene Rezension und auch die kleine Verleger-Geschichte vorab. Dass Ullstein das Buch “aus politischen Gründen” nicht neu aufgelegt hat, ist tatsächlich grotesk und zeigt genau das Problem. Da gibt es eben welche, die können sich die Moral leisten, sitzen auf dem hohen Ross und schauen auf die anderen herab – sei es auf die Leser, die (vorgeblich) ungebildeten Massen etc.pp. Im Grunde ist der Ullstein-Verlag für die deutsche Kulturwelt das, was Hillary Clinton fürs politische Amerika ist – die eine verlor gegen Trump, der anderen verliert Kunden. Aber klar, Ullstein hat noch genug andere Autoren und offenbar auch noch genug Geld, um sich seine hoh(l)e Moral leisten zu können. Dass man auch(!) damit die Leute von sich weg und (nach rechts) in die Hände anderer treibt, scheint man nicht zu sehen oder es ist den Verantwortlichen egal. Wer oben ist oder sich oben fühlt, will und muss nicht mehr aufsteigen. Ein J. D. Vance wollte es. Yes-Publishing offenbar auch. Genau daran mangelt es meiner Meinung nach hierzulande vielen, weil es eben auch nicht vorgelebt wird. Moral geht zunehmend über Leistung, Selbstverantwortung wird klein geschrieben und bei jedem Problem nach dem Staat gebrüllt. Saturiertheit ist die Folge. Wer aufsteigen will, wird oft abschätzig betrachtet. Wer ein Unternehmen führt, schnell in die Ausbeuterecke gesteckt. Der politisch-links-kulturelle-Komplex hat ein ganzes Feld den Rechten und Libertären überlassen. Das ist mindestens schade, tatsächlich aber eine Schande.