Man muss keine Geschichte erfinden. Das Leben ist abenteuerlich genug. Es haut einem die Beine weg, schmettert einen zu Boden und lässt einen auch manchmal auf Zehenspitzen tanzen vor Freude. Selbst wenn es richtig hart zuschlägt, gibt es die kleinen Momente des Glücks. Auch in diesem manchmal so freudlosen Leipzig. Zwei können davon nicht nur erzählen. Sie haben sogar Bücher darüber geschrieben.
Das erste haben wir an dieser Stelle schon vorgestellt: Jan Kuhlbrodts „Krüppelpassion“. Darin erzählt Jan Kuhlbrodt, wie die Multiple Sklerose sein Leben in den vergangenen 15 Jahren völlig auf den Kopf gestellt hat. Aber er tut es in einer so sachlichen, genauen, unaufgeregten Weise, dass man nur zu sehr bereit ist, seine Perspektive auf das Leben und die Welt einzunehmen.
Hier bedauert sich einer nicht, sondern schreibt gnadenlos über das, was mit ihm und seinem Körper passiert. Und nie gibt er auf, auch dann nicht, wenn ein neuer Schub ihn wieder auf die Diele wirft.
Und nur punktuell taucht die Begleiterin seines Lebens darin auf. Ganz so, als wollte er sie nicht hineinziehen in seine Geschichte. Aber das Leben kennt keine Rücksichten. Natürlich steckt auch die Begleiterin tief drin in der Geschichte. Manche L-IZ-Leser kennen sie schon von ihrem Gedichtband „In die Wälder gehen, Holz für ein Brett klauen“ oder von ihren Tanz-Performances.
Was bleibt vom Leben?
Nun hat sie mit „Hey Guten Morgen, wie geht es dir?“ im Grunde ihre Geschichte an der Seite von Jan Kuhlbrodt erzählt, den sie darin in Jupiter verwandelt, auf dem Cover tatsächlich als griechischer Göttervater abgebildet. Und sie selbst wird zu Juno, die er hier umarmt. Aber Jupiter, das ist auch der Riesenplanet, um den alles kreist. Um den ihr ganzes Leben kreist.
Doch das will auch sie nicht so sehr ins Zentrum ihrer Erzählung stellen. Denn gibt es da nicht noch ein anderes Leben? Ihr Balletttraining, die Vorbereitung ihrer Auftritte, den Kampf um Kulturfördermittel und vor allem – sie selbst.
Was ist mit ihr? Was macht sie noch aus ihrem Leben? Eine Frage, die wir alle kennen. Und mancher geht dann los und sucht sich Freunde, mit denen man manchmal ausbrechen kann, besucht die Eltern in den Bergen oder läuft abends durch die Straßen, um wenigstens so das Gefühl zu bekommen, frei durchatmen zu können. Oder lässt sich – wie Juno – auf die Kontaktsuchenden im Internet ein.
Die manchmal tatsächlich neue Wegbegleiter suchen, manchmal nur ein bisschen Trost oder Liebesgeflüster. Aber es gibt auch die Love-Scammer, die diese Kontakte nutzen, um den weiblichen Absendern im reichen Norden ein falsches Leben vorzuspiegeln, sie verliebt und abhängig zu machen und dann – nach und nach – um Geld zu bitten.
Dass sie es mit solchen zu tun bekommt, ist Juno nur zu klar. Sie kennt die Medienberichte, auch die über die Tragödien, die sich dabei ereignen. Sie spielt damit. Dass bei ihr sowieso nichts zu holen ist, macht es ihr leichter, mit den Scammer-Boys zu spielen, ihnen erfundene Geschichten aufzutischen und manchmal auch zu genießen, wenn diese dann schleunigst den Kontakt abbrechen.
Der ferne Benu
Bis auf Benu, der sich so leicht nicht abschütteln lässt. Und der auch bis zum Ende kein Geld von ihr fordert, obwohl er es wohl gut gebrauchen könnte im fernen krisengeplagten Nigeria. Er gibt Juno sogar kleine Einblicke in sein Leben. Und man spürt, dass zwischen den beiden doch etwas mehr entsteht als nur ein leichtes Hin und Her von flapsigen Sprüchen.
Vielleicht sogar ein bisschen Liebe – jedenfalls von Benus Seite. Warum nicht? Auch so etwas passiert – gerade dann, wenn sich Menschen, wenn auch nur im Chat, ein bisschen kennenlernen. Auch wenn sie nicht alles von sich verraten. Und über das Leben mit Jupiter verrät Juno sowieso nichts. Irgendwann macht sie sich auch Vorwürfe, dass sie Benu von Anfang an eine Lügengeschichte erzählt hat.
Doch die nächtlichen Gespräche mit Benu helfen Juno auch über ihre Schlaflosigkeit. Während die Tage meist erfüllt sind mit Ballett, dem Einüben der neuen Auftritte und den Besorgungen für Jupiter, der längst schon an Rollstuhl und Krankenbett gefesselt ist. Mittendrin einer dieser Höhepunkte, die auch im Leben von Schriftstellern so selten sind: Die Verleihung eines großen Literaturpreises in Berlin, wo ihr Jupiter nicht nur die Jury, sondern auch das Publikum in den Bann schlägt. Natürlich mit „Krüppelpassion“, auch wenn der Buchtitel nicht genannt wird.
Was wirklich wichtig ist
Die Geschichten, die uns wirklich aufwühlen, die schreibt das Leben. Und nur wenige Autorinnen und Autoren beherrschen wirklich die Kunst, das authentisch und genau zu erzählen.
Auch weil sie all die Situationen nicht weglassen, die einen eigentlich entmutigen würden. So wie die Situation am ICE nach Berlin, als Jupiter und Juno vergebens auf den Man mit der Hebebühne warten, damit der Rollstuhl in den Zug fahren kann. Aber Juno gibt nicht klein bei und am Ende muss der Zug zehn Minuten warten, weil eine simple Absprache mit der Bahn nicht funktioniert hat.
Da und dort bekommt man so einen kleinen Seitenblick auf eine dysfunktionale Gesellschaft, in der hochbezahlte Manager falsche Weichen stellen und das Leben der Menschen schwerer und entmutigender machen.
Doch Juno lässt sich nicht entmutigen, auch wenn sie genug Situationen erlebt, in denen sie richtig down ist. Auch deshalb verbannt sie Benu nicht aus ihrem Leben, auch wenn sie über das Eigentliche in all ihren Chats nicht spricht. Es sogar emotional herunterkühlt, als würde sie sich eher nur beiläufig um Jupiter kümmern, der nebenan in seinem Bett liegt und selbst schreibt. Weiter schreibt. Denn wer diese Gabe hat und weiß, dass er erzählen muss, der lässt sich auch von seinem Körper nicht kleinkriegen. Der schreibt weiter. Und bleibt so auf seine Art im Leben und in der Welt und bei seinen Lesern, auch wenn er sie nicht zu Gesicht bekommt.
Und Juno? Was ist mit ihr? Dass sie an Jupiters Seite unersetzlich ist, das macht spätestens der Besuch der Frau von der Krankenkasse deutlich, die vor Ort überprüft, ob alle Merkmale der Behinderung noch zutreffen. Alles auf den Cent berechnet, sodass wenigstens eine kleine Unterstützung für die Pflege von Jupiter fließt. Eigentlich nicht genug, um das Leben in der Altbauwohnung im Leipziger Westen zu bestreiten.
Jede zusätzliche Einnahme ist Gold wert. Und der Einzug einer Wildbiene in das kleine Insektenhotel auf dem Fensterbrett ist wie eine Freudenbotschaft aus dem Leben: Es ist nicht vorbei. Es gibt noch diese vielen kleinen Dinge, über die sich beide zutiefst freuen können, auch wenn sie ihre Freude eher sehr zurückhaltend äußern.
Eine verblüffende Liebesgeschichte
Als dürfe man das Leben nicht herausfordern. Etwas, was Juno von Kindheit an kennt, als sie mit ihrer Art die Außenseiterin im Dorf war. Nicht ganz grundlos ist sie nach mehreren Umzügen in Leipzig gelandet und hat hier Jupiter kennengelernt. Und ein Leben auf sich genommen, das sie wie selbstverständlich trägt. Und so selbstverständlich erzählt, dass man kaum wahrnimmt, dass sich ihre Geschichte die ganze Zeit gar nicht um Benu dreht, sondern um Jupiter. Sagt ihr Benu nun Dinge, die sie braucht als Trost?
Als Erinnerung daran, eine lebendige Frau zu sein? Nicht wirklich. Als Benu anfängt, ihr seine Liebe zu gestehen, wird es ihr zu viel. Diese Rolle wollte sie keinesfalls spielen. Das macht sie ihm auch deutlich.
Und irgendwann im matschigen Leipziger Frühjahr endet das alles, bricht Benu den Kontakt ab. Für Juno steht eh der große Auftritt in München vor der Tür. Und mit weiteren kleinen Tattoos zeigt sie der Welt da draußen, dass sie noch da ist. Dass da Leben in ihr brodelt. Darunter eine Wildbiene. Zeichen genug für all das, was sie hier erzählt. Oder besser: Was Martina Hefter in der dritten Person über sie erzählt, als wollte sie ein bisschen Distanz gewinnen zu all den Gefühlen. Die ja nicht einfach verschwinden, wenn das Leben einen in seine Spuren zwingt.
Und gerade weil sie e so erzählt, merkt man, wie ihr Leben eben nicht nur neben Jupiter herläuft, sondern ihn immer mitmeint, egal, was sie unternimmt. Es ist eine auf stille Weise verblüffende Liebesgeschichte, in der am Ende natürlich kein Platz ist für Benu. Aber für jede Menge wärmende Zuversicht: „Solange ich spiele, passiert nichts.“
Und das Erstaunliche ist: Das Buch hat Martina Hefter nun selbst einen der großen deutschen Literaturpreise eingebracht, den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds. Am Dienstag, dem 6. August, meldete der Literaturfonds, dass Martina Hefter diesen Preis verliehen bekommt – auch für „Hey Guten Morgen, wie geht es dir?“.
Der Preis wird gemeinsam mit dem „Paul-Celan-Preis“ für herausragende Übersetzungen am 21. November 2024 im Literarischen Colloquium in Berlin überreicht. Die Laudatio auf Martina Hefter hält die Autorin und Journalistin Bettina Baltschev.
Martina Hefter „Hey Guten Morgen, wie geht es dir?“ Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 22 Euro.
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