Mit seinen Kinderbüchern hat er sich in die Herzen von Generationen geschrieben. Sie werden immer wieder neu aufgelegt, auch 50 Jahre nach dem Tod von Erich Kästner. Wer sie liest, behält fürs Leben den Eindruck, dass hier einer erzählt, der Kinder zutiefst verstanden hat. Als wäre er selbst noch Kind geblieben, als er die Bücher schrieb. Und das, so stellt Gregor Eisenhauer in diesem tiefgründigen Essay fest, könnte die allergrößte Tragik im Leben Erich Kästners gewesen sein.

Eisenhauer kennt sich aus mit Leben und Schicksalen. Seit 20 Jahren ist er einer der Autoren, die im „Tagesspiegel“ die „Nachrufe“ schreiben. Die schon längst mehr sind als das, was man andernorts als Nachruf liest. Man könnte sie auch Lebenserklärungen nennen. Denn wenn einer gestorben ist, dann liegt die Bilanz seines Erdenwandelns da. Und wer gelernt hat, das Wesentliche zu sehen, was Menschen bewegt und antreibt, der findet dann auch das Motiv, das Menschen bewegt hat, so zu leben, wie sie es getan haben.

Und genau darum geht es auch in der Lebensgeschichte Erich Kästners (1899–1974), die Eisenhauer eben auch nicht nur aus den letzten Jahren heraus erklärt. Denn auch das Scheitern eines begabten Menschen hat seine Wurzeln meist in frühen Jahren. Da, wo Eltern noch glaubten, etwas Gutes und das Richtige zu tun. Wer will ihnen deswegen Vorwürfe machen?

Wer rettet den Jungen?

Ein Leser vielleicht? Ein begeisterter Leser, der mit Erich Kästner eine ganze Welt für sich entdeckt hat und der mit Fabian heulte, als der sich in den Fluss stürzte, obwohl er wusste, dass er nicht schwimmen konnte. Und das, um einen Jungen zu retten, der freilich schwimmen konnte. Ein Bild fürs Leben. Seinen „Fabian“ veröffentlichte Kästner 1931. Da war er auf dem Gipfel seines ersten Ruhms. Aber: War er glücklich? Warum diese verstörende, scheinbar völlig unsinnige Szene?

Wie viel Erich Kästner steckt in diesem Fabian? Und hat das vielleicht etwas mit dem tragischen Leben des Autors nach dem Untergang des Hitlerreiches zu tun? Einem Leben in einem Exil, das er eigentlich nie gewählt hat. Denn ins Exil wollte Kästner ja nie. Auch nicht, nachdem die Nazis 1933 seine Bücher öffentlich verbrannt hatten. Sie hassten ihn. Er hätte in die Schweiz gehen können. An Geld fehlte es ihm nicht. Doch er blieb und erklärte sein Bleiben immer wieder damit, dass er Augenzeuge sein wollte. Später, später würde er darüber schreiben.

Er schrieb nie darüber. Der große Lebensroman von Erich Kästner blieb ein leeres Versprechen. Und wenn er darauf angesprochen wurde, dann wich er aus. Ohne Wort der Erklärung. Allein das genügt schon, um Fragen zu stellen. Denn da er die zwölf finsteren Jahre ausgehalten hatte, sich nicht angedient hatte wie andere, wäre er ein glaubwürdiger Kronzeuge gewesen, hätte direkt aus dem Innenleben eines von Autokraten regierten Landes erzählen können.

Das Buch fehlt. Es fehlt auch heute wieder, wo neue Möchtegern-Autokraten nach der Macht greifen und das Land wieder verdummen und schikanieren wollen. Weil die authentischen Berichte über das Leben in einem schikanierten Land fehlen, wählen viele so leicht zu Blendende wieder Lüge, Drohung und Bevormundung. Es ist zum Haareraufen.

Mutter-Liebe

Und die Haare hat sich Kästner garantiert oft genug gerauft in jenen letzten Jahren in München, in denen er eigentlich seinen (neuen) Ruhm hätte genießen können. Seine Bücher wurden wieder in riesigen Auflagen verkauft. Er erhielt einen der größten Literaturpreise der Bundesrepublik, den Georg-Büchner-Preis. Doch auch an Büchner misst ihn Eisenhauer.

Was ist aus diesem genialen Erich Kästner der 1920er Jahre geworden, der in Leipzig nach einem von Rechten geschürten Skandal über eins seiner witzig-spöttischen Gedichte gehen musste, nur um in Berlin als Dichter berühmt zu werden, der einen Erfolgsgedichtband nach dem anderen veröffentlichte.

Zum Neid vieler dichtender Zeitgenossen, die sich beim Schreiben quälten. Diesem Kästner aber schien alles leicht von der Hand zu gehen. Vielleicht gerade deshalb, weil er die Dinge nicht wirklich ernst nahm – auch nicht die Liebe. Weshalb ihm so viele leichte und dennoch treffende Gedichte gelangen. In seiner lakonischen Sachlichkeit mit der meist bitter-süßen Pointe erkannten sich Leserinnen und Leser wieder. Er traf den Ton der Zeit. Und traf die Scheinheiligen genau an den richtigen Stellen.

Und trotzdem wurde er als Liebender nie glücklich. Gregor Eisenhauer seziert sein Liebesleben – nicht unbarmherzig, sondern verständnisvoll. Denn was Kästner passierte, ist auch vielen anderen Männern passiert. Man könnte es in den Satz fassen: Zeitlebens versuchte er, seiner Mutter ein guter Junge zu sein.

Es fehlt also auch nicht der Blick in diese seltsame Kästner-Familie, in der die dominante Mutter ihren Ehemann niederhielt und verächtlich machte. Auch dem Sohn gegenüber, der ihr ein und alles war und den sie umklammerte, solange es ihr möglich war.

Bis nach dem großen, blutigen Krieg, nach dem sie in Dresden zurückblieb, während Erich mit seiner Lebensgefährtin Luiselotte Enderle noch im letzten Moment die Flucht nach Süddeutschland gelang, bevor Berlin völlig in Schutt und Asche gelegt wurde. Das Berlin, in dem Kästner einst zu Ruhm kam, gab es schon lange nicht mehr. Das hatten die Nazis 1933 gründlich zerstört.

Was Hänschen gelernt hat …

Kästners Leben ist letztlich auch das Lebe eines Emigranten – obwohl er nie emigrieren wollte. In seine Geburtsheimat Dresden konnte er nicht zurückkehren. Seine Wahlheimat Berlin gab es nicht mehr. In München lebte er zwar wieder das Leben eines Mannes, der die Cafés zu seiner Arbeitsstube machte und immer neue Liebschaften mit jungen Frauen aufnahm, die mit seinen Büchern aufgewachsen waren. Aber zu einem fehlte ihm, so stellt Gregor Eisenhauer fest, nachdem er die Lebensumstände Kästners immer wieder aus neuem Blickwinkel betrachtet hat, letztlich die Fähigkeit: die zum ernsthaften Lieben.

Und da darf man mit Eisenhauer durchaus ins Grübeln kommen, wie sehr da die Rolle der dominanten Mutter ins Spiel kommt – oder gar beider Eltern, die dem Jungen nie zeigen konnten, wie zwei liebende Eltern respektvoll miteinander umgehen. Denn genau das lernt man da als Kind. Millionen Verliebte werden davon ein Lied singen können, von diesem „Kindheitsmuster“, das sich ganz unerwartet auch in der eigenen Partnerschaft durchsetzt – ob man will oder nicht.

Obwohl: Hat es mit Willen zu tun? Kann man als Erwachsener noch lernen, was man als Kind nicht sehen durfte? Eine gültige Frage. Eine Frage für Männer, die so gern verstecken, dass sie unsicher sind. Und überfordert. Und auf einmal in Beziehungen stecken, in denen sie sich unglücklich fühlen und dann selbst ihre Frauen überfordern, weil sie tatsächlich wieder nur etwas gesucht haben, was an die Geborgenheit bei Muttern erinnert.

Eine späte Chance

Auch darüber hätte Kästner schreiben können. Hat er aber nicht. Denn genau aus diesem Grund, so Eisenhauer, blieb er mit Lieselotte zusammen, obwohl das Beisammensein beider nur noch eine Tragödie war, die beide versuchten, irgendwie mit Alkohol zu regulieren. Während Kästner mit der viel jüngeren Friedel Siebert nicht nur eine langjährige Affäre hatte, sondern auch einen Sohn. Sein einziges Kind. War das seine späte Chance, endlich tatsächlich eine eigene Familie zu gründen und selbst Vater zu werden – und zwar im mehrfachen Wortsinn?

Doch diese Chance nutzte er ganz offensichtlich nicht. Er wollte sich nicht entscheiden. So bleibt einer dann oft in Beziehungen, die ihm nicht guttun. Obwohl auch zutrifft: Selbst Wikipedia behandelt Luiselotte Enderle nur „wie nebenbei“. Als hätte sie in seinem Leben nicht eine zentrale Rolle gespielt, vielleicht sogar die, die Frauen eigentlich gar nicht annehmen wollen: Der Mutterersatz für den Mann zu sein, der nie wirklich herausfindet aus der Rolle des kleinen Jungen.

Da liest man dann auch Kästners „sachliche“ Liebesgedichte mit anderen Augen. Sie verlieren trotzdem nichts. Manchmal steckt auch im beiläufigen Spott eine Wahrheit, die trösten kann. Und sogar Mut macht. Das stellt auch Eisenhauer fest: Wer Kästners frühe Arbeiten liest, bekommt Zuversicht, hat einen großen Freund, der einem zeigt, dass da im Leben noch was kommt und man – wie Emil – was draus machen kann. Man muss sich nur nicht entmutigen lassen.

In einem fremden Land

Nur hatte das für Kästner ganz offensichtlich seine Grenzen. Als er nach dem Krieg nach München ging, kam er auch in ein Land, dessen Bewohner in der Mehrzahl gar nicht bereit waren, sich mit ihrem Leben im Nationalsozialismus auseinander zu setzen. Man betäubte sich lieber, vertuschte, vergaß. Und reihenweise machten die Bediensteten des NS-Regimes wieder Karriere. Oder blieben gleich im Amt. Man stürzte sich ins Wirtschaftswunder.

Doch mit der gedanklichen Freiheit, die die Jahre der Weimarer Republik prägten, hatte das alles nichts zu tun. Kästner war auf seine letzten Jahre tatsächlich noch in ein anderes Land gekommen, in eine Emigration, in der ihm auch all die Freunde und Gefährten der Berliner Jahre fehlten. Ein einsames Leben in einem fremden Land.

Und in einer Beziehung, in der es – wenn nicht der Alkohol für Ausgleich sorgte – heftig zugegangen sein muss. In der sich Kästner sehr einsam gefühlt haben muss. Und immer wieder fragt Eisenhauer nach dem Warum. Jenem Warum, nach dem augenscheinlich niemand den alternden Autor zu fragen wagte. Was Eisenhauer für eine Unterlassung hält. Und doch menschlich versteht. Unser Umgang miteinander ist voller Tabus. Gerade im steifzopfigen Deutschland. Bevor man jemandem so persönliche Fragen stellt, braucht es schon eine Menge Vertrauen – und kann denn doch gewaltig in die Hose gehen.

Warum bleibt einer in einer so kaputten Beziehung? Warum funktioniert einer nur noch mit einem steigenden Quantum Alkohol? Warum haben die späten Bücher nichts mehr von dem Witz und der Wärme der frühen Bücher? Warum sperrt sich in diesem gefeierten und angefeindeten Autor (die alten gewendeten Nazis waren ja alle noch da, und ihr verbissener Geist sowieso) alles dagegen, das versprochene Buch über sein Leben zu schreiben?

Vielleicht, weil sich da der altgewordene Junge mit sich selbst hätte konfrontieren müssen. Mit der Frage, warum sich einer auch am Ende noch weigert, erwachsen zu werden. „Fabian wollte nicht erwachsen werden“, schreibt Eisenhauer. „Er wollte nicht alt werden. Er wollte keine Entscheidungen treffen. Er wollte sich verlieben, aber nicht lieben.“

Das klingt so trocken. Eisenhauer hat ja 20 Jahre Erfahrung mit geglückten und nicht ganz geglückten Schicksalen, mit Menschen, die sich was getraut haben, die sich manchmal selbst aus dem Schlamassel gezogen haben, die gekämpft haben und manchmal auch verloren. Denn keiner garantiert einem, dass es gut geht mit dem Leben und der Liebe. Schon gar dauerhaft. Denn wir stürzen uns auch mit vielen falschen Bildern ins Leben. Und mit den Erwartungen unserer Eltern, die manchmal nicht loslassen können.

Was ungeschrieben blieb

Denn wenn Eltern nicht loslassen, lernen die Kinder nicht, was wirklich Mut ist. Und wie man das zeigt im Leben. Wenn man sich was traut, wissend, dass man damit Entscheidungen trifft, die man nicht einfach – wie im Kinderspiel – wieder rückgängig machen kann. Man merkt, wie sehr sich Eisenhauer wünscht, Kästner hätte darüber geschrieben. Auch über sein Scheitern. Aber dieses Buch hat Kästner nie geschrieben. Männer wollen immer Helden sein. Scheitern kommt in ihrer Matrix nicht vor.

Und so schreibt Eisenhauer im Grunde das Buch eines Lesers, der mit seinem tatsächlichen Helden – nämlich mit dem Autor Erich Kästner – bis zum Ende mitleidet, weil er so eine Ahnung hat, woran dieser beliebte Kinderbuchautor tatsächlich gelitten hat. Und gesteht am Ende auch zu, dass es einzig seine Perspektive ist. Die Literaturwissenschaftler mögen das anders sehen und aus den veröffentlichten Briefen Kästners etwas anderes herauslesen.

Oder ihm zustimmen, weil man manchmal einfach mit den Augen eines Lesers lesen muss, der seinem Lieblingsautor fürs Leben dankbar ist für die Bücher, die ihm wichtige Wegweiser waren. Trotz allem. Sie verlieren ihre Botschaft ja nicht, weil der Autor selbst nie wirklich herauskam aus der Rolle des Jungen, der seine Mutter nicht frustrieren wollte. Oder gar enttäuschen. Das hätte er nicht übers Herz gebracht. Und dass das Herz immer mitspielt, das kann man in jedem Gedichtband von Kästner nachlesen.

Unter all dem Spott, der Ironie und der boshaften Pointe steckt immer ein mitfühlendes Herz. Deswegen fühlt man sich auch als Leser verstanden, auch wenn man weiß, dass man es im eigenen Leben wieder mal völlig falsch angepackt hat. Und dass sich Verlieben noch allemal etwas völlig anderes ist als die wirkliche Herausforderung: die Liebe.

Gregor Eisenhauer „Emigrant des Lebens. Erich Kästners letzte Jahre“ Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024,20 Euro.

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