Aufwachsen in den Nullerjahren in einer ostdeutschen Kleinstadt. Aufwachsen zwischen den unterschiedlichen Lebensvorstellungen und –träumen der Eltern. Erwachsen werden, mit all den Schönheiten und Komplikationen, die das Älterwerden beschert. Das Hochgefühl der ersten Liebe, der tiefe Fall, wenn diese Liebe nicht vor der Berührung mit den dunklen Seiten des Lebens stattfindet. Der Wunsch, zu gefallen, der in Gewalt mündet und der Frage – wie konnte es so weit kommen?

Jella ist viele

Mit ihrem Debütroman „Die schönste Version“ hat die Leipziger Autorin Ruth-Maria Thomas eine Erzählung auferstehen lassen, die mit Empathie und einem aufmerksamen Blick verschiedene aktuelle Themen unserer Gesellschaft anspricht. Wo häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffigkeit auch heute noch oft unter dem Deckmantel der Scham diskutiert oder heruntergespielt werden, führt die Autorin ihre Hauptfigur Jella Nowak wie selbstverständlich durch die hellen und dunklen Momente des Heranwachsens.

Mit ebendieser erzählerischen Selbstverständlichkeit wird ohne Umschweife deutlich: So wie es ihr widerfährt, haben es viele Mädchen und Frauen schon erlebt. Erleben es noch heute.

„Ich hatte vergessen, wie anstrengend es war, mich in einen anderen Kopf hineinzudenken“, lässt Thomas ihre Romanheldin denken. Einer von vielen Sätzen, die im Buch so simpel und gleichzeitig auf den Punkt für sich stehen bleiben und viel aussagen über das angelernte Frausein.

Mit viel Feingefühl gibt die Autorin Einblicke in die Gefühls- und Erlebniswelt junger Frauen, die Liebe, Sexualität und Freundschaft entdecken, von der Suche auf dem Weg zum Erwachsenwerden, von den Hürden und der Enge patriarchalischer Strukturen. Sie bedient sich dabei einer ausdrucksstarken und unverblümten Sprache und scheut nicht davor zurück, ganz unangestrengt erotisch zu sein.

Ohne Vorwarnung werden Leserinnen und Leser hineingezogen in die Welt der Hauptfigur Jella. Introspektiv springt die Erzählerin von der Gegenwart in die Vergangenheit, erinnert sich an frühere Jahre und teilt intimste Gedanken. Die Begegnung mit Yannick scheint magisch und er wie ein Mann, den sich viele junge Frauen an ihrer Seite wünschen. Ein Partner, der kleine Zettelchen versteckt, der Herzklopfen verursacht, der für seine Werte einsteht und seine Freundin darin bestärkt, dies ebenfalls zu tun.

Aber auch ein Mann, der irgendwann die Hände fest um den Hals von Jella legt und ihr Todesangst einjagt. Mit bemerkenswerter Klarheit gelingt es Ruth-Maria Thomas, darzustellen, wie verwoben das Geflecht ist aus dem Wunsch, geliebt zu werden, der Verlustangst und der Suche nach der eigenen Persönlichkeit – nach der schönsten und womöglich liebenswertesten Version des Selbst. Dominiert Yannick mit seinen Entscheidungen das Leben seiner Freundin? Oder lässt Jella es zu, indem sie nicht widerspricht?

Dass das Buch darauf keine klare Antwort gibt, schenkt ihm eine besondere Stärke. Ruth Maria-Thomas bewertet die Beweggründe ihrer Figuren nicht und lässt sie dadurch menschlich und verletzlich sein.

Aufwachsen am Rande des Tagebaus

Neben der Liebe, die das Leben von Jella auf den Kopf stellt, arbeitet die Autorin ebenso die Prägung des Aufwachsens in Ostdeutschland auf ihre Romanheldin ein. Immer wieder kommt der Tagebau zur Sprache, der das Leben ihrer Familie beeinflusst hat. Der Kohleabbau, der dafür sorgte, dass die Oma ihr Dorf verlassen musste.

Die empfundene Enge ländlichen Lebens, die Jellas Mutter aus dem kleinfamiliären Leben ausbrechen und nach Berlin „fliehen“ lässt. Ohne große Aufregung und damit womöglich genau im passenden Ton schildert Thomas die Auswirkungen eines geteilten Deutschlands auf die „Nach-Wende-Generation“.

Nominiert für den Deutschen Buchpreis

„Die schönste Version“ ist ein Buch, das die Kraft hat, zu vermitteln – ohne zu werten. Ein Buch, das ehrlich und mit dem Mut des Zweifelns Einblick gibt in die Erfahrungswelt junger Frauen. Ein Buch, das jetzt, wo es existiert, deutlich macht, dass es gefehlt hat. Ein Buch, das vor allem nicht „nur“ von Frauen gelesen werden sollte.

Zu Recht ist der Debütroman von Ruth-Maria Thomas derzeit in aller Munde und nun auch für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Ruth-Maria Thomas Die schönste Version Rowohlt Verlag, Hamburg 2024, 24,00 Euro.

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