Wann ist ein Leben ein Erfolg? Wann darf man am Ende des Arbeitslebens sagen: Das hat sich wirklich gelohnt? Eigentlich sind es diese Fragen, die Christian Heinisch in diesem Buch stellt, wenn er das Leben seines Helden Karsten erzählt, der natürlich kein Held in dem Sinn ist. Eher ein ganz normaler junger Mann aus der westdeutschen Provinz, der am Ende irgendwie doch Erfolg hat im Leben, obwohl es mit kiffenden Freunden in der Hausbesetzerszene losgeht. Und mit dem „Spieler“.

Das mit dem „Spieler“ ist freilich kein Start in ein Fantasy-Spiel, auch wenn es sich stellenweise so liest. Das könnte, wenn es ein Autor wirklich ernst meint, richtig dystopisch und durchgeknallt werden: Irgendwelche unsichtbaren Programmierer begreifen die Welt der Menschen nur als ein riesiges Spielfeld, auf dem sie ihre Spielfiguren in die Menschen pflanzen und so über Fremdsteuerung deren Erfolg oder Scheitern im großen Spiel des Lebens organisieren.

Manchmal kann es einem ja so vorkommen, wenn einen das Leben beutelt, eine Schnapsidee einen so richtig in den Schlamassel bringt, sich Freunde seltsam verhalten und der Zickzack des Lebens einen auf einmal doch mal auf die Siegerstraße bringt. Oder zumindest in gut bezahlte Jobs und zu einem Sack voll Geld, wie es Karsten am Ende geht.

Wenn das Gewissen sich meldet

Aber wie gesagt: Der „Spieler“ ist eher kein Spieler und auch kein Steuermann im Kopf seiner Spielfigur. Das ahnt man schon, wenn die langen Überlegungen dieses „Spielers“ immer wieder in die Handlung eingeblendet werden, in denen sich der „Spieler“ ausführlich Gedanken macht über den Menschen, seine Emotionen, sein Verhalten, seine Motive.

Also ungefähr das tut, was unsere Stimmen im Kopf in der Regel ständig machen. Wir reflektieren alles, was wir tun. Immer. Außer wohl jene Leute, die sich über ihr eigenes Handeln überhaupt keine Gedanken machen. Davon scheint es auch jede Menge zu geben.

Die meisten Menschen haben aber diese Reflexion über das eigene Handeln immer im Kopf. Manche lassen sich dadurch regelrecht lähmen, andere zucken mit den Schultern und machen weiter. Das schlechte Gewissen kommt dann später. Und dann manchmal mit Wucht. Manchmal aber auch erst viele Jahre später – so wie bei Karsten, der nun – irgendwie an der Schwelle zum Rentenalter angekommen, jede Menge Erinnerungen herausholt an Freunde, die teilweise sehr schäbig gestorben sind, und an Frauen, mit denen er einmal zusammen war. Mit den Frauennamen kommt man irgendwann gründlich durcheinander. Der junge Mann hat sichtlich keine Chance verstreichen lassen, wenn ein Rockzipfel in Sicht kam.

Und man wartet natürlich darauf, dass er erzählt, was ihm tatsächlich an diesen jungen Frauen wichtig war. Aber so recht erzählt er das nicht. Vielleicht auch, weil er sein ganzes Leben eben doch irgendwie aus der Perspektive seines „Spielers“ betrachtet, der in seinen Monologen irgendwie indirekt mit den unsichtbaren Programmierern kommuniziert und sich fragt, ob es für das, was dieser Karsten gerade angestellt hat, jetzt Punkte im großen Spiel des Lebens gibt – oder nicht.

Das nervende Korrektiv im Kopf

Dass es diese Programmierer gar nicht gibt, erfährt man dann am Ende der ganzen Geschichte, nachdem Karsten auch ausgiebig über seine Erfolge und Misserfolge als Unternehmensgründer und Manager in der Software-Branche erzählt hat, wo es durchaus hätte spannend werden können, denn in die Welt der Programmierung ist er schon in seiner Zeit als BWL-Student in den 1980er Jahren eingestiegen, hat das Aufkommen der großen IT-Konzerne miterlebt und das Platzen der Dotcom-Blase. Irgendwie ging das alles gut.

Doch spätestens bei einem Klassentreffen, das er zwischendurch mal organisiert, wird auch klar, dass er sich im Nachhinein eben doch Vorwürfe macht, wie schäbig er einst mit einigen Klassenkameraden umgegangen ist. Gedankenlos. Oder einfach deshalb, weil das auf dem Schulhof noch ganz normal war – auch in Zeiten, als es den Begriff Mobbing noch nicht gab.

Fast ist es, als hätte er den „Spieler“ gar nicht so beiläufig erfunden, als wäre dieser Gesprächspartner im Kopf das Korrektiv gewesen, dass ihn irgendwie doch noch zu einem halbwegs ordentlichen Menschen gemacht hat. Aber einem Menschen, der das Leben selbst als Spiel betrachtet, nicht als einen Ort spannender und intensiver Begegnungen mit Menschen. Denn wer macht das schon: Alles, was er tut und erlebt, mit Punkten zu versehen und sich permanent zu fragen, ob das nun punktemäßig eine Verbesserung im Spiellevel war oder doch nicht?

Es kann gut sein, dass das Viele so sehen. Dass man auf diese Weise gut kompatibel ist für eine Welt, in der es vor allem um Geld und Karriere geht. Und um das erquickende Gefühl, genug Bonuspunkte gesammelt zu haben, um ein Level höher zu rücken.

Aber ist das ein Leben? Ist das wirklich das Leben? Geht es tatsächlich nur um Cash? Und um den „Spieler“ im Kopf, der einen dazu bringt, alle Entscheidungen auf ihre finanziellen Folgen hin abzuwägen?

Sucht und Selbstbestimmung

Am Ende ist Karstens Lebensweg vielleicht für ihn erfolgreich. Auch weil er – anders als viele Freunde aus seiner WG-Zeit – nicht in Drogen versumpft ist. Obgleich der „Spieler“ in seinem Kopf sich sehr wohl bewusst ist, dass es im Leben der Menschen viele Süchte gibt und viele davon weder strafbewehrt noch verachtet sind. Spiele in jeder Form gehören dazu, die Jagd nach Geld genauso. Und so steht natürlich die eigentliche Frage: Ist der Mensch dann wirklich ein selbstbestimmtes Lebewesen? Handelt er nach eigenem Gewissen und eigener freier Entscheidung oder sendet ein unsichtbarer „Spieler“ ihm Botschaften in den Kopf, nach denen er sich dann entscheidet? Botschaften, die gar nicht direkt so funktionieren müssen, denn die ganze Zeit grübelt das Wesen ja auch darüber nach, ob denn in den anderen Menschen nicht auch solche Wesen aktiv sind, die ihrerseits ihre Spielfiguren animieren.

Nur: Spielt man da nun miteinander oder gegeneinander?

Oder ergibt sich gar ein völlig unübersichtliches Spielfeld, weil die „Spieler“ nicht wissen, was die anderen „Spieler“ gerade vorhaben. Und sie alle wissen wiederum nicht, was die unsichtbaren „Programmierer“ eigentlich vorhaben und ob sie sich als deren Geschöpfe richtig verhalten.

Das kann schon sehr kompliziert werden und zeigt im Grunde auch, wenn man an solche Fremdprogrammierung (oder göttliche Vorherbestimmung) glaubt, wohin einen das gedanklich führt: in ein regelrechtes Chaos. Und in Fragen, die sich am Ende nicht mehr beantworten lassen, wenn Menschen anfangen, sich als fremdgesteuert zu verstehen. Karsten kündigt seinem „Spieler“ am Ende und dankt ihm für die aufmerksame Begleitung.

Bilanz mit Gewissensbissen

Aber das ist natürlich auch nur ein künstlerischer Schachzug. Man wird sein Gewissen nicht los. Und: Das Gewissen ist keine Fremdsteuerung. Es erinnert uns nur permanent daran, dass wir soziale Wesen sind und dass alle unsere Handlungen auch Folgen für unsere Mitmenschen haben. Und dass wir uns eben nicht einfach rücksichtslos und ohne Verständnis für andere Menschen benehmen können, ohne dass es zumindest eine Quittung in Form von Gewissensbissen gibt.

Oft leider zu spät, sodass auch Karsten sich bei den Menschen, die er verletzt und gekränkt hat, nicht mehr entschuldigen kann. Das kann man dann eben nicht mehr delegieren. Es bleibt als Erinnerung, die einen dann eben doch daran erinnert, dass das scheinbar so interessante Leben eben doch etliche dunkle Stellen hat, an denen sich der „Held“ ganz und gar nicht heldenhaft benommen hat. Und am Ende ist es wohl eher Glück für ihn, dass er trotzdem überlebt hat, sich den Altersgefährten als erfolgreicher Geschäftsmann zeigen kann.

Aber die skeptischen Überlegungen seines „Spielers“ haben noch einen Effekt: Sie erzeugen eine enorme emotionale Distanz zu Karsten, die es ohne all die ausführlichen Zwischenpassagen nicht gäbe. Sie setzen sein ganzes Leben unter kritische Beobachtung.

Und so wenig wie dieser nachdenkliche „Spieler“ kann auch der Leser am Ende entscheiden, ob er Karstens Leben als besonders gelungen bezeichnen soll. Oder doch eher als einen nicht wirklich wärmenden Versuch, die Bilanz eines Lebens zu rationalisieren.

So gesehen ist auch der Abschied nicht so recht ernst zu nehmen, auch wenn Karsten meint, sein „Spieler“ habe sich im Nachdenken über die Motivation der Menschen zu sehr verrannt. Denn diese verzwickte Lage bleibt bestehen, egal, ob man sein Gewissen in den Ruhestand schickt oder sich den immer weiter bohrenden Fragen stellt, die sich alle um die Frage drehen, wofür man als Mensch eigentlich lebt. Und was dem eigenen Leben wirklich einen Sinn gibt.

Bis zuletzt geht es um die Frage der Selbstbestimmung und all die Konflikte, die wir im Kopf austragen, wenn Entscheidungen verzwickt und uneindeutig sind und wir nicht wissen, ob wir damit Schaden anrichten. Darüber denkt man in der Jugend noch nicht wirklich oft nach. Später aber schon, wenn man merkt: Da sind einige Dinge passiert, für die man sich noch im Nachhinein ohrfeigen möchte. Unser Gewissen erinnert uns genau daran.

Pech für Karsten: Man schickt es nicht einfach in die Wüste. Wen es erst einmal plagt, den lässt es auch nicht mehr los.

Christian Heinisch „Das Wesen des Seins“ Einbuch Buch- und Literaturverlag, Leipzig 2023, 19,90 Euro.

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