Normalerweise brauchen Leser guter Literatur keine Karten von den Welten, in welche sie die Fantasie ihrer Lieblingsautoren entführt. Aber manche dieser fantastischen Welten sind so genau geschildert, dass es viele Leser geradezu drängt, nicht nur die Karten der geschilderten Länder zu zeichnen, sondern sie sogar in der Wirklichkeit unserer Erde zu verorten. Und Matt Brown, Rhys B. Davies und der leidenschaftliche Kartograf Mike Hall habe es mit diesem Atlas einmal so richtig auf die Spitze getrieben.
Sie haben nicht nur eine imaginäre Literaturwelt kartiert, sondern hunderte. Und zwar rund um den Globus. Alle Kontinente und Ozeane umfassend. Denn längst haben sich die imaginären Welten, die Romanautorinnen, Comic-Zeichner und Regisseure geschaffen haben, rund um den Globus ausgebreitet. In entlegensten Regionen, manchmal auch in Regionen, wo die realen Karten der Welt nur Wasser verzeichnen.
Was aber egal ist, wenn man daheim mit dem Buch sitzt und die Fantasie fliegen lässt. Das ist ja nichts Neues. Davon leben ganze Literaturen seit Thomas Morus und Jonathan Swift. Letzterer sogar bekannt dafür, dass er zu seinen Geschichten von Gullivers Reisen nach Liliput, Balnibarbi, Luggnagg oder Glubbdubdrib auch eigene Karten gezeichnet hat.
Karten, die schon damals die offizielle Kartopgrafie gründlich ignorierten. Weshalb man „Gullivers Reisen“ auch als eine Parodie auf die vielen erfundenen Reiseerzählungen der Zeit interpretieren kann, mit denen Autoren, die nie aus ihrem Kaff herausgekommen waren, ein Publikum erfreuten, das gierig war auf immer neue Reiseerzählungen.
Es war das Zeitalter der Entdeckungen. Aber keiner von Swifts Zeitgenossen gab sich so viel Mühe, die gesellschaftlichen Verhältnisse in den von ihm erfundenen Ländern zu beschreiben – allesamt Spiegelbilder seines eigenen Landes und seiner um Macht rangelnden Politiker. Die Satire liest sich bis heute hochaktuell.
Mit detektivistischem Spürsinn
Aber es geht nicht nur um literarische Welten, auch wenn die Literatur mehr als 300 Jahre lang die Szenerie der fantastischen Länder dominierte, bevor die Medien des 20. Jahrhunderts die Zahl der imaginären Städte und Länder geradezu explodieren ließ. Deswegen lohnt es sich für fast alle Karten in diesem Atlas, die Lupe herauszuholen, um sich auf die Entdeckung von Orten zu machen, die es tatsächlich nur in Comics, Filmen, Fernsehserien und Soap-Operas gibt. Die offiziell zwar selten lokalisiert wurden.
Doch Brown und Davies haben sich mit detektivistischem Spürsinn daran gemacht, auch noch die kleinsten Hinweise aus den Filmen und Büchern zu finden, die die erfundenen Städte, Berge und Landschaften in den realen Landschaften der Wirklichkeit verorten ließen. Egal, ob dies das Nest Flagstone aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ ist, die Heimat von King Kong oder das Nest Summerville aus „Ghostbusters: Legacy“.
Manchmal ist es ganz einfach, weil etwa Autoren wie Marcel Proust in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ganz bewusst reale Orte als Vorbild für ihre literarischen Fiktionen verwendeten. Andere Autoren wie L. Frank Baum gaben nur wenige Hinweise, die ihre Geschichten – wie den „Zauberer von Oz“ – irgendwo in irdischen Gegenden lokalisierbar machen. Aber all diese Hinweise haben Brown und Davies aufgenommen – und wunderten sich dann, als der Klecks auf der Landkarte erschien, oft genug darüber, welche Nachbarschaften da auf einmal entstanden.
Was natürlich auch damit zu tun hat, dass manche Regionen bei Autoren aller Art besonders beliebt sind.
Von Entenhausen bis zur Farm der Tiere
Wobei sie auch nicht verhehlen können, dass sie beide Engländer sind (das Original erschien 2021 in London) und englischsprachige Literatur und Filme die Hauptquellen ihrer Suche sind. Weshalb z.B. die USA gleich mit drei großen Karten im Atlas vertreten ist, auf denen man Entenhausen genauso finden kann wie die Ponderosa Ranch und Xanadu. Ebenso begründet sich der besondere Fokus auf das Vereinigte Königreich und Irland, wo man Baskerville Hall genauso findet wie die Farm der Tiere und natürlich Hogwarts.
Während sich Deutschland als eines der alten Länder mit einem Plätzchen in Westeuropa begnügen muss – in Konkurrenz mit ebenso fabulierfreudigen Ländern wie Spanien, Italien, Frankreich usw. Sodass Metropolis (das die Autoren im Ruhrpott verorten) direkt mit dem gallischen Dorf von Asterix, Goldinis Spielzeugland und Prousts Combray konkurriert.
Man merkt schon: Da müssen sich dann wohl ein paar Kartenverrückte aus Deutschland zusammentun, um die hiesige Landschaft erfundener Orte einmal umfassend zu kartografieren.
Was eine Ergänzung wäre zu diesem Weltatlas, der natürlich zeigt, wie weltumspannend die Plätze sind, an denen Autoren, Zeichner und Regisseure ihre Geschichten platziert haben. Oft war es die exotische Kulisse fremder Länder, die der Grund für die Wahl dieser Regionen war – auch wenn dann Tempel, Königreiche und sagenhafte Schätze einfach dazu erfunden wurden.
Aber wer möchte nicht wissen, wo eigentlich der Dschungel liegt, in dem Mowgli seine Abenteuer erlebt? Wo muss man nach Eldorado suchen? Wo nach Robinsons Insel? Wo nach der Schatzinsel von Stevenson? Oder nach dem Nimmerland von Peter Pan?
Von Utopia bis Macondo
Und wer sie dann findet, wundert sich über seltsam klingende Nachbarschaften, die einen dann beim Nachblättern in Comic-Welten oder legendäre Filme entführen. Zu den markantesten Orten wird dann extra erklärt, wo sie herkommen, aus welchem Film, Buch oder Comic sie stammen – was dann gleichzeitig Tipps sind, die Filme zu sehen oder die Comics und Bücher zu lesen. Es ist eine riesige Einladung für Entdeckungen. In alle drei Richtungen.
Und für ein bisschen Spaß, wenn man auch gleich noch die wilden Erfindungen durchgeknallter Politiker findet. Oder sagenhafte Orte aus berühmten Legenden, die die Menschheit seit Jahrtausenden faszinieren.
Und manchmal macht man dann überraschende Entdeckungen, findet die Insel Utopia direkt vor der Küste Südamerikas, begegnet im südamerikanischen Urwald Charlie und der Schokoladenfabrik und weiter nördlich dem legendären Macondo von Gabriel Garcia Marquez aus „Hundert Jahre Einsamkeit“.
Manchmal stehen die Orte gleich für zwei oder drei künstlerische Gattungen, weil die Bücher verfilmt und in Comics verwandelt wurden. Manchmal geben erst die Filme das Material zur Verortung her, manchmal verlegen sie die Handlung aus dem Buch in völlig andere Gegenden. Aber es kommt immer auf eins hinaus: Die Fähigkeit des Menschen, die eigene Welt zu verfremden, in fiktive Landschaften zu verlegen und damit zu zeigen, dass im scheinbar so banalen irdischen Treiben immer auch der Funke zum Absurden steckt.
Keine weißen Flecken
Etwas, womit ja bekanntlich Italo Calvino in seinen „Unsichtbaren Städten“ spielte, ein Buch, dass Calvino gleich mehrere Eintragungen im Atlas verschaffte. Man begegnet auch Altbekannten wie Edgar Allan Poe und Jules Verne, die das Bedürfnis nach geheimnisvollen fremden Ländern in Zeiten befriedigten, als von Fernsehen und Internet noch keine Rede sein konnte.
Und noch viel früher erfüllten Erzählungen aus tausendundeiner Nacht diese Funktion, von denen einige natürlich auch in den Atlas fanden. Und da es nun eben auch eigene Karten für Japan, China oder Australien gibt, lernt an so nebenbei auch dortige Literaturen, Comics und Fernsehserien kennen. Ja, selbst die eigentlich eiskalte Antarktis wird nicht ausgelassen.
Wenn man schon nicht als Urlauber hinkommt, kann man wenigstens seine Fantasie auf die Reise schicken. Denn je unwirtlicher die Weltgegend, umso blühender wird die Vorstellungswelt der Autoren.
Und wenn dann drei so begeisterte Kartenfreunde anfangen, alles, was ihnen unterkommt, auf Karte zu verorten, kommt genau so etwa heraus: ein Atlas, bei dem nur noch die Konturen der Kontinente und Länder an die reale Welt erinnern. Alles, was dann drinsteckt und draufsteht, erzählt von der blühenden Fantasie von Leuten, die hinter einer zuweilen sehr tristen Gegenwart immer auch ihre meist fantastischen, manchmal satirischen Möglichkeiten ahnen.
Und das alles dann auf Papier bringen oder auf die Leinwand. Und die Leser und Zuschauer ahnen, wo es hingeht. Gerade deshalb lassen sie sich nur zu gern verführen, in Länder und Städte aufzubrechen, die in gewöhnlichen Atlanten nirgendwo zu finden sind.
Matt Brown & Rhys B. Davies „Atlas der imaginären Orte. Von Atlantis bis Gotham City“ Groh Verlag, München 2024, 34 Euro.
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