Eigentlich kam Taqi Akhlaqi 2016 nur für vier Monate nach Deutschland, um im Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich in aller Ruhe seinen aktuellen Roman zu schreiben. Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt finden hier einen ruhigen Ort zum Arbeiten, den sie in ihren Heimatländern oft nicht haben. Nur beeinflusst leider auch der Ort, an dem einer schreibt, das, was und wie er schreibt. Und aus dem geplanten Roman wurde erst einmal nichts. Dafür schrieb Akhlaqi ein völlig anderes Buch.

Dieses hier, das genau das erzählt, was einem Schriftsteller aus Afghanistan, wo sich schon 2016 die Sprengstoffanschläge mehrten, passiert, wenn er im Herbst nach Deutschland kommt, ein Land, das er zuvor nie gesehen hatte, aber auf seine Weise schon ein bisschen kannte. Denn im Goethe-Institut in Kabul hatte er schon jahrelang fleißig Deutsch gelernt (und war an dieser vertrackten Sprache schon des Öfteren verzweifelt).

Und er hatte emsig deutsche Autoren gelesen, die auch im fernen Afghanistan ihre Faszination entfalten, wenn sie zum Beispiel auf Persisch verfügbar sind. Darunter ein Band von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, der für Taqi Akhlaqi regelrecht zum Wegbegleiter wurde.

Und zu einem Schlüssel für einen völlig anderen Blick auf die Welt. In Deutschland haben ja Nietzsche Ideen vom „Übermenschen“ eher Munition für Leute geliefert, die das Land in ein völkisches Tollhaus verwandelt haben. Aber in Afghanistan, wo das Auswendiglernen des Korans auch für Taqi Akhlaqi zu den Vergnügungen der Jugend gehörte und ansonsten ziemlich strenge Regeln gelten für das, was man so tun und leben darf, wirkt der „Zarathustra“ wie ein Schlüssel zum europäischen Individualismus.

Was Nietzsche wohl selbst so nie gedacht hätte, der ja verzweifelt mit seinen eigenen Ressentiments rang. Aber vielleicht meinte er am Ende genau das, was Akhlaqi in seinem „Zarathustra“ fand. Bis hin zu dem innigen Wunsch, im Kölner Dom auf eine Bank zu steigen und laut zu rufen: „Gott ist tot!“

Die Abenteuer des Alltags

Was er aber nicht getan hat, so oft er auch deutsche Kirchen betrat und darüber staunte, dass es in Deutschland tatsächlich noch so gewaltige, beeindruckende Gotteshäuser gibt, obwohl in Afghanistan jeder weiß, dass die Deutschen an keinen Gott mehr glauben. Sein ganzes Buch ist ein Beleg dafür, dass man andere Länder und Völker tatsächlich erst versteht, wenn man hinfährt und sich ein paar Monate unter den Leuten dort herumtreibt, die Sprache lernt, so gut man kann, und sich auch auf die Abenteuer des Alltags einlässt.

Denn da lernt man dann erst, wie anders die Menschen denken, welche ungeschriebenen Selbstverständlichkeiten gelten und wie doppelbödig die Sprache sein kann, die die Deutschen selbst ja für einfach halten.

Und dabei sind auch die Deutschen ein exotisches Volk. Sie wissen es nur nicht, weil die meisten niemals wirklich von außen auf ihr eigenes Land geschaut haben. Und manches – wie das Benutzen deutscher Züge – wirkt für Fremde natürlich skurril, nicht nur die seltsamen Einladungen zum Schwarzfahren für 60 Euro oder die unberechenbare Anwesenheit oder Abwesenheit vom Fahrkartenautomaten, von den möglichen Reaktionen des Fahrpersonals ganz zu schweigen.

Wird einen der Uniformierte jetzt gleich verhaften und in den Knast stecken? Oder einen nur anblaffen und aus seinem kleinen Apparat einen Fahrschein ausdrucken?

Das ist das Wundersame an Taqi Akhlaqis Buch, das er auf Persisch geschrieben hat und das Jutta Himmelreich ganz offensichtlich in aller Lebendigkeit ins Deutsche übertragen hat: Man versteht den Burschen aus Afghanistan nur zu gut, der auch kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn er die Verhältnisse bei sich zu Hause in Kabul schildert und auch die vielen Freunde erwähnt, die ihm dringendst rieten, die Chance zu nutzen und in Deutschland zu bleiben.

Doch er wollte nach den vier Monaten unbedingt wieder zurück – nur um dann bei der Ankunft in Kabul zu merken, wie sehr er dort auf einmal dieses komische Deutschland vermisste.

Die Sache mit dem aufrechten Gang

2021, als die Taliban dann doch wieder die Macht in Afghanistan übernahmen, ging er dann trotzdem mit seiner Familie nach Berlin, wohl wissend, dass er in diesem neuen alten Afghanistan keine Zukunftsperspektive mehr hatte. Seitdem berichtet er für die Neue Zürcher Zeitung über Afghanistan – und veröffentlicht nun auch die Bücher, die er immer schreiben wollte. 2023 erschien dann auch sein Debütroman „Kabul 1400“.

Und natürlich ist sein Buch über die Monate im Heinrich-Böll-Haus auch eine kleine Erinnerung für die deutschen Leser daran, dass ihr Land tatsächlich etwas Besonderes ist. Manchmal etwas unverständlich. Aber da braucht es nicht erst den Besuch auf der Reeperbahn in Hamburg, um zu verstehen, dass die Menschen sich hier auch deshalb anders verhalten, weil sie Rechte haben.

Garantierte Rechte, wie sie die Menschen in Afghanistan, wo der Tod praktisch zum Alltag gehört und der Einzelne nur durch Rang und Herkunft einen gewissen Status erlangt, nicht haben.

Da schaut man auch auf die am Ende so chaotisch auslaufende Afghanistan-Mission der Bundeswehr und die Rückkehr der Taliban mit anderen Augen und fragt sich natürlich, warum es nicht funktioniert, die Demokratie zu exportieren.

Und dann denkt man kurz an unseren einheimischen Taliban in Blau und merkt: Es ist wohl derselbe Typus alter, ignoranter Männer, denen die Rechte und Freiheiten anderer Menschen völlig egal sind. Ihnen geht es nur um die Macht und ihr Alte-Männer-Ego. Sie wollen gar nicht wissen, was das für Menschen sind, über diese herziehen und wettern.

Während Taqi Akhlaqi bei seinem viermonatigen Aufenthalt das Glück hatte, vor allem verständnisvollen Menschen zu begegnen, manche eng mit dem Heinrich-Böll-Haus verbunden, andere als Schriftstellerkollegen. Auch wenn ihm das Gemurmel der deutschen Immergestrigen durchaus bewusst ist. Köln liegt ja quasi um die Ecke und die Debatte um die Silvesternacht 2015 ist auch Ende 2016 noch präsent.

Da geht Taqi Akhlaqi mit seinen zwei Schriftstellerkollegen aus dem Heinrich-Böll-Haus lieber schön einzeln in ein klassisches Weihnachtskonzert in Düren, um die Leute nicht zu erschrecken, – nur um nach der Pause zu erleben, wie sich die Sitzreihe, in der er sitzt, geleert hat.

Das Land der Sitzer und Denker

In vielen solcher kleinen Begegnungen zeigt er Deutschland, wie er es erlebt hat – und selbst so eine simple Erfahrung wie der Besuch deutscher Toiletten – auf denen man nicht hockt, sondern gemütlich thront und ganze Bücher lesen kann – spornt ihn zu philosophischen Überlegungen an über dieses Land und die Sicht von dessen Bewohnern auf die Welt.

Ein Besuch im Rewe-Markt lässt ihn nicht nur über die alles erschlagende Vielfalt in den Regalen nachdenken, sondern bringt ihn auch zur Lösung eines Rätsels, das ihn schon von seinen Zugfahrten her beschäftigt hat: Warum haben diese Deutschen eigentlich alle so einen unverkennbaren Geruch?

Das ist ja Anheimelnde an seiner Erzählung, dass ihm eben dadurch, dass ihm alles neu ist und er viele der deutschen Rituale und Selbstverständlichkeiten noch nicht kennt, auch auffällt, was wirklich schräg ist an diesen Deutschen und ihrem Denken über sich selbst.

Und was diese Deutschen als völlig selbstverständlich voraussetzen, obwohl sie es auch erst alle mühsam gelernt haben – nicht nur diese komische Sprache mit ihren drei Artikeln, sondern auch die Sache mit der Musik (die man gleich völlig anders sieht, wenn man einen Koran-Vortrag in verschiedenen Tonlagen als Höhepunkt der Musik beigebracht bekam) oder die mit den Regeln an deutschen Bahnhöfen, wo die Züge (zumindest 2016 war das noch so) pünktlich auf die Minute abfahren.

Als wäre alles in diesem Land bis ins Letzte durchgetaktet und wer nur eine Minute zu spät kommt, erntet den Spott der Beobachter.

Mit dieser Szene vor Augen kann man dann nur den Kopf schütteln über die ganze Bahn-zu-spät-Diskussion, die derzeit hunderte von Kommentatoren zu beschäftigen scheint, die natürlich nicht hinterfragen, warum die Pünktlichkeit der Bahn eigentlich so ein heiliges deutsches Gut ist. Da würde man dann nämlich etwas lernen über unsere Mentalität und unsere tatsächlichen Erwartungen an einen Staat, der ja letztlich umsetzen soll, was wir uns wünschen.

Und der uns frustriert, wenn er das nicht mehr tut. Ein schöner Punkt zum Nachdenken. Nicht der einzige in Akhlaqis Bericht, der sich zurecht über einige der deutschen Erwartungshaltungen wundert, auch wenn er sie nach längerem Knobeln für sich irgendwie entschlüsselt und verständlich macht.

Goethe war hier …

Auch wenn ihm erst einmal der Zugang fehlt zum ganz speziellen deutschen Humor, etwa wenn Frankfurter Hausbesitzer in Scharen Fußmatten vor ihre Eingangstüren legen mit dem Spruch „Goethe war hier“ und man erst nahe herangehen muss, um ganz klein darunter zu lesen „nicht“.

Geradezu köstlich sind sein Besuch in einem Sex-Shop oder seine herrlichen Gedanken über die spezielle Höflichkeit, mit der man auf deutschen Bahnhöfen um zwei Euro angebettelt wird. Oder seine Überlegungen über die verstörende Verwandtschaft zwischen Müll und Mühle und warum die Deutschen das Wort Müll trotzdem so gern und oft verwenden.

Fühlt man sich ertappt? Nicht wirklich. Eigentlich fühlt man sich sehr gut verstanden von diesem aufmerksamen Beobachter, der auch seine eigene Rolle in all diesen Situationen immer reflektiert, also so eigentlich auch immer über Begegnungen schreibt, in denen er – so wie er ist – präsent ist. Manchmal bewundert dafür, wie gut er schon Deutsch spreche, manchmal als ein Gesprächspartner akzeptiert, wie er sonst selten zu finden ist.

Aber die wesentliche Botschaft an deutsche Leser ist eigentlich dieser menschenrfeundliche Hinweis darauf, dass wir uns etlicher unserer Seltsamkeiten vor lauter Geschäftig-Tun gar nicht mehr bewusst sind. Und auch nicht merken, welche Hürde diese Seltsamkeiten für all jene Menschen darstellen, die eigentlich gern nach Deutschland kommen.

Und dann erst merken, dass das aus der Ferne betrachtete Land doch eine Ecke anders ist als jenes Land, wie man es dann selbst erlebt.

Taqi Akhlaqi „Versteh einer die Deutschen“ Sujet Verlag, Bremen 2024, Preis 19,80 Euro.

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