Vor anderthalb Jahren erschien der erste Band „Unlearn Patriarchy“. Da war ein zweiter noch gar nicht geplant. Aber die 17 Beiträge im Buch machten etwas deutlich, was auch das Team der Herausgeberinnen so nicht erwartet hatte: Sie zeigten, wie tief das Patriarchat in den verschiedensten Bereichen unserer Gesellschaft steckt. Auch in solchen, wo man es eigentlich nicht erwartet hätte. Denn das Problem ist: Wenn man es nicht sieht, merkt man nicht, wie es unsere Gesellschaft deformiert.

Und dass es weit über die Unterdrückung und Benachteiligung der Frau in allen gesellschaftlichen Bereichen hinausgeht. Denn Patriarchat hat eher weniger mit alten, weisen Patriarchen zu tun (wenn sie denn nur weise wären!), die die Welt regieren. Aber es ist trotzdem ein Herrschaftsprinzip, das selbst für die Männer, die es tragen, meist unsichtbar ist. Sie haben alle ihre Vorstellung vom Normalen im Kopf.

Und seit Jahrtausenden heißt das Normale nun einmal: Patriarchat. Mit männlicher Dominanz in allen öffentlichen Rollen und Räumen und einer Verbannung von Frauen an Heim und Herd, unter die Gewalt von Männern, die Jahrtausende lang als normal galt und in vielen Haushalten heute immer noch gilt. Mit meist traumatischen Folgen für die betroffenen Frauen.

Es geht nicht nur um Frauen

Aber es ging nie nur um die Frauen. Das macht dieser zweite Band von „Unlearn Patriarchy“ deutlich, in dem sich Autorinnen zu Wort melden, die diese Benachteiligung und Diskriminierung auch aus der Perspektive von People of Color, von Migrantinnen, Behinderten und Kriegsflüchtlingen schildern. Sie erfahren oft die doppelte und dreifache Ausgrenzung und Abwertung, wenn zur Benachteiligung als Frau auch noch die Abwertung aus rassistischen oder körperlichen Gründen kommt.

Denn das zentrale Kriterium des Patriarchats ist die Abwertung aus völlig oberflächliche Gründen, das Selbstverständnis vor allem weißer Männer, die in den diversen Hierarchien das Sagen haben und Entscheidungen treffen, dass vor allem Ihresgleichen (also Männer, die ihnen gleichen – die berühmten Thomasse) gefördert und befördert werden, während alle Personen, die nicht ins Raster der Etablierten passen, mit massiven Vorurteilen zu kämpfen haben.

Und zwar nicht nur im Bewerbungsgespräch, sondern auch beim Arzt, im gesamten medizinischen Bereich, worüber unter anderem Mandy Mangler und Gonza Ngoumou schreiben. Im Justizwesen sind diese Vorurteile, die am Ende auch Urteile begründen, genauso unübersehbar (wenn man sie wie Asha Hedayati zu sehen gelernt hat) wie in der Erziehung (ein Thema, mit dem sich Anne Dittmann beschäftigt) oder im Umgang mit unseren Körperbildern (was Yassamin-Sophia Boussaoud zu Thema macht).

Letzteres gleich der erste Beitrag im Buch, der einen mitnimmt in die Welt-Sicht der Betroffenen. Und der einen natürlich stutzen lässt. Denn wer prägt eigentlich unsere Vorstellungen von „normalen Körpern“, wie viel Abwertung kommt darin zum Ausdruck?

Falsche Bilder von Überlegenheit

Dass dahinter auch noch uralte kolonialistische Ressentiments stecken, überrascht dann nicht. Es ist – wie so oft – der Blick der Privilegierten auf „die Anderen“, der einem im Rassismus genauso begegnet wie im Sexismus und im Postkolonialismus. Denn der heutige Rassismus und die forcierte Verachtung für Migranten hat nach wie vor mit alter kolonialer Überheblichkeit und Abwertung zu tun.

Und dass menschenfeindliche Parteien wieder Aufwind haben, hat natürlich auch damit zu tun, dass dieses Abwerten marginalisierter Gruppen von Menschen im Selbstverständnis einer durch und durch patriarchalischen Gesellschaft das „Normale“ ist, das man mit entsprechenden Kampagnen und Zuschreibungen immer wieder aktivieren kann.

Und dazu gehört auch – was Saboura Naqshband in ihrem Beitrag zur Sprache bringt – dass auch die Verachtung der armen und schlecht bezahlten Menschen Teil des patriarchalen Denkens ist. Mit allen Zuschreibungen, die man von Leuten wie Friedrich Merz kennt: von Faulheit über Unfähigkeit bis zum fehlenden Fleiß. (Sollen sie sich doch mehr anstrengen!)

Denn wer als cis-Mann zur hochbezahlten Elite gehört, für den ist es natürlich unverständlich, wie Menschen einfach nie aus der Armut kommen. Dass das aber mit Schablonen im Kopf der „Arbeitgeber“ und Politiker zu tun hat, mit der ganz bewussten Ausbeutung von Menschen, von denen man weiß, dass sie sich nicht wehren können, läuft als Subtext immer mit.

Das Sich-nicht-wehren-Können ist letztlich das, worum es die ganze Zeit geht. Denn die institutionalisierte Wehrlosigkeit ist es, die erklärt, warum das Patriarchat Jahrtausende lang funktioniert hat: Es lebt davon, dass es ganz Menschengruppen recht- und wehrlos macht. Denn wer in einer hierarchisch geschichteten Gesellschaft lebt und nie genug verdient, um sich aus der Armut zu befreien, der bleibt wehrlos.

Und wenn dann auch noch das „falsche“ Geschlecht, die „falsche“ Herkunft und die „falsche“ Hautfarbe hinzukommen, bleiben die Betroffenen in der Regel ein Leben lang in mies bezahlten Billigjobs und landen am Ende in Armutsrenten. Und auf einmal merkt man, dass die Instrumentalisierung der Armut geradezu zum Wesenskern eines Patriarchats gehört, an dem nicht einmal alle weißen cis-Männer teilhaben, weil es tatsächlich nur die reichen und in Machtpositionen gelangten Männer privilegiert.

Die Diskriminierung sitzt im Kopf

Oder so formuliert: Das patriarchale Denken ist das Stützkonstrukt einer ausbeuterischen Gesellschaft, in der es – Karl Marx lässt grüßen – noch immer Klassen gibt. Nur dass die Nöte der Nicht-Privilegierten kaum noch sichtbar sind. Armut versteckt sich und wird von patrirachalen Großmäulern auch noch verhöhnt. „Ohne die grundsätzliche Überwindung stereotyper Geschlechterrollen sowie kolonialer, sexistischer und rassistischer Weltbilder werden wir niemals eine sozial gerechte, antikapitalistische und freie Gesellschaft etablieren können“, schreibt Naqshband.

Die Diskriminierung sitzt im Kopf. Auch im Kopf scheinbar lernwilliger männlicher Verantwortungsträger, für die es aber – so wurden sie ja erzogen – völlig normal ist, dass sie auf ihren Karrierestufen nur mit Ihresgleichen zu tun haben, mit weißen cis-Männern aus privilegierten Familien, die sich nie einen Kopf darum machen mussten, ob sie überhaupt die Schule schaffen.

Denn sie wachsen in Netzwerken auf, die sie ganz selbstverständlich bevorteilen. Selbst dann noch, wenn sie in Auswahlgesprächen mit besser qualifizierten Frauen zu tun haben. Oder gar Frauen mit Migrationshintergrund, wie es so schön heißt.

Frauen, die ihrerseits von Kind auf beigebracht bekommen haben, sich zurückzunehmen, anzupassen und brav zu sein. Wer brav ist, lässt sich Vieles gefallen. Auch Bildungsbenachteiligung, Lohnungerechtigkeit, Rentenungerechtigkeit und öffentliche Verarschung. Denn diese Frauen (und anderen benachteiligten Gruppen) tauchen auch nicht in den Medien auf, die ihrerseits ein Bild vom Normalen vermitteln, das in Wirklichkeit nur die Sicht der durch das Patriarchat Privilegierten ist.

Die tatsächlich Erniedrigten und Ausgegrenzten sieht man nicht. Jedenfalls nicht als aktive Personen. Nur als graue, misstrauisch beäugte Masse, der privilegierte Karrieristen dann alles Schlechte zuschreiben.

Ins Rampenlicht

Wie tief das patriarchale Denken in all unseren Lohn-, Versicherungs- und Rentensystemen steckt, das macht Alexandra Zykunov in ihrem Beitrag „unlearn gender pay gap“ sichtbar. Wobei das „unlearn“ immer dafür steht, dass man hier eigentlich alte Denkgewohnheiten endlich ändern müsste, nicht, dass gerade die Betroffenen hier (wieder) lernen sollten, nichts zu sehen. Das Gegenteil ist richtig: Die Falschheit und Verlogenheit in all den Bereichen, in denen Privilegien verteilt werden und Teilhabe am erwirtschafteten Reichtum, gehören ins Rampenlicht, müssen mit Zahlen und Fakten benannt werden.

Gerade jetzt, wo eifrige männliche Rechner immer neue Wege finden, den Gender Pay Gap kleinzurechnen, während jeder Blick auf die finanzielle Lebensbilanz von Männern und Frauen zeigt, dass Frauen überall nur mit der Hälfte abgespeist werden.

Wobei eben Eigenschaften wie Klasse immer noch hinzukommen und dafür sorgen, dass Menschen systematisch in der Armut festgehalten werden und von Männern entwickelte Vergütungssysteme dafür sorgen, dass gerade Frauen aus sowieso nicht privilegierten Familien die Drecksjobs in unserer Gesellschaft erledigen – von der Care-Arbeit ganz zu schweigen.

Obwohl dem Team der Herausgeberinnen noch locker weitere 30 Themen eingefallen wären, anhand derer „unlearn patriarchy“ zu demonstrierten wäre, zeigt allein schon dieser Band mit 14 teilweise sehr emotionalen Beiträgen, wie sehr patriarchales Denken unsere Gesellschaft bis heute deformiert. Und eben auch in Bereichen strukturell verankert ist, wo man es nicht erwartet hätte. Oder wo einfach noch niemand genauer hingeschaut hat, weil man – zum Beispiel – gewohnt ist, dass alte weiße Männer bestimmen, was in Sportverbänden vor sich geht. Ein Thema, das die Baskettballspielerin Ireti Amojo beleuchtet.

Gesetz gewordene Privilegien

Oder wie (alte) Männer jahrhundertelang bestimmen, wie Kirche zu funktionieren hat – was Sarah Vecera in „unlearn kirche“ zum Thema macht. Und selbst in der Literatur haben sich über Jahrhunderte männlicher Dominanz Ansichten von einer männlich geprägten Literatur etabliert, in der Frauen marginalisiert werden. Als wäre nur eine Art männlichen Schreibens nobelpreiswürdig oder im Literaturunterricht in der Schule erwähnenswert.

Bis ins antiquierte deutsche Steuerrecht kann Alexandra Zykunov das etablierte patriarchalische Denken nachweisen. Oder so formuliert: Das Patriarchat hat seine Privilegien verrechtlicht. Und damit auch die herrschenden Bilder von dem, was Frauen und andere Marginalisierte zu sein und zu bekommen haben. Dass das gerade Frauen regelrecht schutzlos macht gegenüber gewalttätigen Männern, das beschreibt ja aus ihrer eigenen Arbeit heraus Asha Hedayati.

Und dass selbst das Leid und die Gewalt, die Frauen in Kriegen und Bürgerkriegen erleiden – wie im Genozid an der bosnischen Bevölkerung –, ignoriert wird, das erzählt Melina Borcak in „unlearn krieg und genozid“. Auf einmal weitet sich der Blick und man sieht, wie das Patriarchat regelrecht in unseren Köpfen sitzt und uns blind macht für all die Diskriminierungen und Verheerungen, die es anrichtet. Oder besser: Die Männer anrichten, die diese Art Denken als normal empfinden und als Freibrief begreifen, sich rücksichtslos gegen Schwächere und Wehrlose zu verhalten.

Die Weltsicht der Thomasse

Nur die Frage bleibt natürlich: Wie sollen wir das ändern? Wie können wir das ändern? Dass wir es ändern müssen, ist eigentlich selbstverständlich, denn gerade dieses selbstgerechte patriarchalische Denken führt dazu, dass unsere Welt verbrennt und radikalisierte Kräfte die Demokratie bedrohen – natürlich mit uralten patriarchalischen Vorurteilen und Ressentiments, mit denen Wut und Hass und Verachtung geschürt werden. Oder einfach fein am Köcheln gehalten werden, jederzeit aktivierbar, wenn eine begabte Frau oder andere marginalisierte und benachteiligte Personen versuchen, eine Stufe höher zu klettern in einer von Vorurteilen durchsetzen Gesellschaft.

Man ahnt: Das ist noch ein verdammt langer Weg, bis es überhaupt zu einer Selbstverständlichkeit wird, dass alle (wirklich alle) dieselben Chancen bekommen und ganz selbstverständlich auch gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, eine gerechte Entlohnung sowieso und eine soziale Absicherung, die die Schwäche der Menschen nicht auch noch zusätzlich ausnutzt.

Doch gerade die sowieso Benachteiligten haben keine Stimme. Macht sowieso nicht. Und meist werden sie auch noch verhöhnt, wenn sie sich zu Wort melden. Denn ihre Erzählung von der Wirklichkeit unterscheidet sich zwangsläufig völlig von dem, wie die privilegierten Thomasse die Welt sehen. Und sehen wollen. Denn was man nicht sehen will, gibt es ja nicht, nicht wahr?

Das Buch hilft dabei, diese selbstgewählte Blindheit zu durchbrechen und wieder ein paar Stücke einer Wirklichkeit zu sehen, die auch dann existiert, wenn die Thomasse den Gender Pay Gap völlig weggerechnet haben.

Emilia Roig, Alexandra Zykunov, Silvie Horch (Hrsg.)l „Unlearn Patriarchy #2“ Ullstein, Berlin 2024, 22,99 Euro.

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