Vor den Abiturprüfungen fragen einen immer wieder die Schüler – „Was, denken Sie, kommt denn dran?“ Ohne, dass ich später eine zufriedenstellende Antwort geben konnte oder kann. Auch mit der „Trefferquote“ meiner Vermutungen nach Öffnen der Aufgabenumschläge sah es in den letzten Jahren eher dünn aus. Konnte mich nie der zurückhaltenden Euphorie meiner Kolleginnen anschließen, die „Das habe ich erst vorige Woche noch mal mit meinem Kurs geübt!“ juchzten.

Nein, das, was drankam, hatte ich nicht mit meinen Schülern gerade in der letzten Zeit noch mal „geübt“. Aber so ist das mit den Prüfungen. Meist kommt das dran, was man eben nicht vermutet, muss sich unbekannten Aufgaben und Formeln stellen. Manchmal steht oder sitzt man ohnmächtig davor, grübelt und verzweifelt.

„Haben Sie wirklich keine Idee?“, bohrte eine Schülerin weiter. Was weiß ich … Krieg, Gendern, Wokeness … irgendetwas wird schon im Aufgabenbereich „Schriftliches Argumentieren“ drankommen, was dem „Zeitgeist“ entspricht. Meist ist man überrascht, wenn beim „Überfall“ des Unbekannten das Unerwartete folgt.

Stimmt schon, es ist richtig paradox, dass man dann zu einem Feld, Problem oder Thema geprüft wird, was einem eher fremd vorkommt. Doch nur auf den ersten Blick, weil man Neues erfährt und zu denken gezwungen ist. Aber so ist das nun einmal im Leben. Auf alles soll man vorbereitet sein, geübt und auswendig gelernt haben. Nichts Überraschendes darf passieren. Obwohl gerade das Unbekannte, das bislang Unentdeckte eine geistige Herausforderung darstellt, kognitive Dissonanzen produziert. Weiß man doch.

So oder so ähnlich dachte ich, als ich auf das neueste, druckfrische Werk einer mir unbekannten Autorin stieß, dessen Titel auf mich polemisch und im besten Sinne streitbar erschien. Die unbekannte Autorin ist die freie Journalistin Pauline Voss (*1993), die sich mit ihrer 200 Seiten starken Streitschrift in das strukturelle und argumentative Innenleben der „Wokeness“ wagt. Und deren „Machttechniken“ zu entschlüsseln versucht.

Gleich vorab: Beim Lesen dieser Streitschrift wider den Zeitgeist stieß ich an meine Grenzen der Deutbarkeit und des notwendigen Wissens, das Voraussetzung zum vollständigen Verstehen dieser komplexen Voss-Analyse von Verhalten, Semiotik und Rhetorik einer sich als links definierten Gruppe (oder Schicht?) unserer gegenwärtigen Gesellschaft ist. Das Wissen um und zu Michel Foucault, auf dessen philosophische Analysetechniken sich die Autorin stellenweise und sehr intensiv bezieht – da wusste (und weiß) ich zu wenig, sodass ich Mühe hatte, einer Theorie der Lust zur Dekonstruktion bestehender gesellschaftlicher Normverhältnisse gedanklich zu folgen.

Vor allem im zweiten Teil der Analyse empfiehlt es sich daher, öfter im Anhang und Literaturverzeichnis nachzuschauen, um vielleicht doch mal im Foucaultschen Original zu lesen, was mit „Macht durch Ohnmacht“, mit „Rebellion als konstituierendes Element neuer Repression“, gemeint ist.

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Cover Leipziger Zeitung Nr. 124, VÖ 03.05.2024. Foto: LZ

Der Beginn des Werkes und die Autorenintention interessierten mich ohnehin mehr. Vielleicht weil ich darin einen neuen „Stoff“ und Potenzial für den Unterricht in den oberen Klassen und die Abiturvorbereitung 2025 sah. Der Überschrift ihres Prologes „Eine Generation entdeckt den Aktivismus“ konnte ich nur zustimmen, engagierten sich doch die Jugendlichen spätestens seit der Thunberg-Initiative ab 2019 sicht- und hörbar an den „Fridays for Future“, um für ihre „Letzte Generation“ einen lebenswerten Planeten zu erstreiten. Fand ich gut. Wie einige meiner Kolleginnen und Kollegen auch.

Die politischen Ergebnisse sehen allerdings eher ernüchternd aus. Voss führt auf den folgen Seiten weiter aus, wie der missionarische Eifer beim Durchsetzen berechtigter Klimaziele mit einer umfassenden Kontrollbewegung nicht korrekten Sprechens, Kleidens, Essens, Sozialverhaltens usw. einherging. Der nicht unbedingt stets und ständig die Vernunft und die Rechtmäßigkeit der einzelnen Forderungen abgeht, wohl aber oft der moralinsaure Furor nervt oder das Nicht-Diskutieren-Wollen, das Desinteresse am Überzeugen.

Beispiel: Als ich zuletzt in der Abitur-Themendiskussion „Gendern“ als mögliches Aufgabenfeld zur Sprache brachte, zuckte alles, auch das politisch durchaus angeregte Schülervolk, nur lustlos mit den Schultern. „Sollen doch alle machen, was sie wollen, Herr Jopp. Ich habe nichts dagegen.“

Das Konfrontieren mit der Voss-These „Wo wir früher private Entscheidungen trafen, lastet heute das gesamte Gewicht der politischen Gegenwart auf uns und presst noch der unbedeutendsten Alltagshandlung ein politisches Bekenntnis ab“, traf in dem Fall aktuell auf keine argumentative Streitlust bei meinen Jugendlichen, die mich sonst oft auf dem „falschen Fuß“ erwischen. (Eine Schülerin zuletzt: „Tun Sie uns einen Gefallen beim Formulieren Ihres Theatertextes, Herr Jopp? Streichen Sie bitte das Wort ‚asozial‘ an der einen Stelle. Das ist ein Nazibegriff.“) Gut.

Voss’ Dagegenhalten ist offensiv und nicht gänzlich ohne Plausibilität des Arguments. Wenn sie über die Generation der 90er und Nullerjahre spricht, die sich mit missionarischem Eifer den erlaubten Begriffen und dokumentierten Verhaltenszeichen widmet. Nach Ansicht der Autorin, die selbst dieser Generation entstammt, liegen die Ursachen – besser: die Fehldeutungen dieser „Wokeness“-Bewegung – im (oft bürgerlich arrivierten) Vorbeischrammen an den tatsächlichen gesellschaftlichen Missständen.

Dieser Generation fehlt der Zugang zu vielen ihrer Probleme, weil sie politisches Engagement nicht primär als Artikulation von Interessen erlebt hat, sondern als Bewirtschaftung des schlechten Gewissens. Als eine Art moralische Steuer auf den Wohlstand und die Sicherheit, inmitten derer sie aufgewachsen ist.“ Und weiter: „Die Besessenheit vom Unwesentlichen ist dieselbe geblieben. Beide Haltungen folgen der Grundannahme, dass Politik bloße Oberfläche ist.“ (Das ist wohl kein „wokes“ Einzelphänomen.)

Und Foucault? Dessen Theorien der Dekonstruktion nach Befragen der Wirklichkeit (im aufgeklärten Kantischen Sinne, würde man meinen) waren der eifernden „Wokeness“ zuerst durchaus willkommen, wenden sich aber wie beim „Zauberlehrling“ letzthin gegen die politisch Ausführenden, so Voss, selbst. Wird eine neue Sprach-Regelung vorgegeben, wird sie durchgesetzt von einer Minderheit, die einfach behauptet, Sprache würde Wirklichkeit konstituieren. Dann wird Ohnmacht zur Macht.

Dabei wird Wirklichkeit (Voss spricht von „Physik“) oft durch Meta-Physik (einen abstrakten Begriff) ersetzt. Und wer nicht folgt, liegt falsch – schlimmer noch – ist „falsch“. Oder wie es im vergangenen Jahr in einem Abiturthema, was zur Erörterung stand, hieß: „Wer nicht gendert, ist rechts.“

Voss kommt im letzten Kapitel ihres Erstlingswerkes zu dem durchaus bedenkenswerten Schluss, dass eine humorlose Korrektheitskultur mit erzeugten Scham- und Entwertungsgefühlen nicht den wirklich Unterdrückten hilft, sondern deren Verfechter*innen zunächst und vor allem diskursive Macht verleiht. Macht durch Ohnmacht („Generation Krokodilstränen“). Ohne zu bemerken, dass man da bereits aus der Rolle derjenigen herausfällt, herausgefallen ist, die im Dunkeln stehen.

Das Problem liegt eher im System begründet, das mit Scheindebatten und pseudohumanistischem Minderheitenschutz Kleinkriege und soziale entwertende Debatten unter dem Deckmantel bürgerlicher Freiheit feiert, ohne dass es ans Eingemachte geht. Wer hingegen das eine Verbrechen nicht erwähnt, das durch eine politisch korrekte, metaphorische Sanktion geschützt ist, ein falsches Wort sagt, die falsche Geste zeigt – alles wird erfasst – ist raus bei einer substanziellen Diskussion und wird ausgeschlossen. Ändern wir mit diesem aggressiven Distinktionsverhalten eine Gesellschaft, die mehr und mehr um demokratische Legitimation und Attraktivität ringt? Ausgeschlossen.

Pauline Voss, Generation Krokodilstränen – Über die Machttechniken der Wokeness, Europa-Verlag, 2024, 200 S.

„Überm Schreibtisch links: Die Macht der Ohnmacht“ erschien erstmals im am 03.05.2024 fertiggestellten ePaper LZ 124 der LEIPZIGER ZEITUNG.

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