Mit dem Anderort-Verlag hat Leipzig einen neuen Verlag hinzubekommen, einen Kleinstverlag, wie dessen Verleger Paul Martin bemerkt. Und mit der Leipziger Dichterin Charlotte van der Mele hat auch gleich eine Autorin hier ein Zuhause gefunden, für die das Gedichteschreiben zum Leben gehört. Denn irgendwo muss man ja seine verwirrenden Gefühle unterbringen, wenn sie einen nun schon bei allem, was einen tangiert, von den Füßen hauen.
Nur nützt es überhaupt nichts, mit den demolierten Gefühlen dann zum Psychotherapeuten zu rennen. Denn der kann nicht helfen. Der kann nicht reparieren, dass unser Leben eben nicht aus lauter schönen Tagen besteht (die Goethe bekannterweise ja auch fürchterlich fand), sondern aus Aufs und Abs, Hoffnungen, Erwartungen, Wünschen und den entsprechenden Enttäuschungen.
Oder der schlichtweg unaushaltbaren Tatsache, dass selbst die ernsthaftesten und berauschendsten Beziehungen eines schönen Morgens einfach zu Ende gehen können. In jenem scheußlichen Moment am Kaffeetisch zum Beispiel, in dem man merkt, dass man sich einfach nichts mehr zu sagen hat. Beim besten Willen nicht.
Mit den Augen der Dichterin
Sodass sich die jetzt im Anderort Verlag veröffentlichten Gedichte von Charlotte van der Mele auch so lesen wie Liebesgeschichten – mit allem, was zu einer guten Geschichte gehört: prickelnder Anfang, gesteigerte Freude, jubelnde Höhepunkte, Freude am Glück und dann – na ja – wie gewöhnlich. Dann versagen die Hormone ihren Dienst, man hat alles ausgekostet, was die Beziehung zu bieten hatte und dieser kalte, traurige Abschied kommt, weil beide wissen, dass sie dieses Glück der Liebe nicht dauerhaft am Brennen halten können.
Wobei das nicht einmal frustriert. Zumindest all jene nicht, die wissen, dass die wirklich umwerfenden Tage immer irgendwann vorbei sind. Und damit eben auch oft das Gefühl, die Welt als ein Gedicht zu erleben. Manche Leute schaffen das nie. Vielleicht sind deshalb die Gedichtbände von Charlotte van der Mele so etwas wie ein Trost gerade für diese vom Leben Frustrierten.
Oder sogar ein kleines Aufputschmittel, wenn man einfach den ganzen Tag nicht aus der grauen Alltagsblase kommt und daran nur noch zweifelt, dass es auch mal wieder intensiv und atemberaubend werden könnte mit einem anderen Menschen. Weiß man ja vorher nie.
Nur eins steht fest: Wenn man die zufälligen Begegnungen im Leben nicht mit poetischen Augen sehen kann, wird man schon von ganz allein frustriert und verbittert zum Schatten seiner selbst. Dabei brauchen wir diese Poetisierung der Welt wie das Wasser zum Leben. Ohne Poesie sind alle Dinge trist und man sieht nicht, wie lächerlich sich all die Heldenverehrer machen.
So wie in van der Meles Gedicht, das einfach eine schöne poetische Beobachtung ist „wieder ein versuch“: „wieder ist / das weiß misslungen / war’s wollen oder können“ – Bis dahin: Genau das, was wir alle erleben, wenn uns mal wieder ein noch so kleine Vorhaben schief gegangen ist. Aber dann kommt’s mitten im Gedicht zur ironischen Wendung: „doch verlässlich scheißen tauben noch / auf jedes kirchendach / und jeden general auf jedem / sockel“. Punkt. So viel zum verunglückten Weiß.
Und auf einmal hat man ein schönes herzerwärmendes Gefühl für die Tauben in der Stadt.
Die Stimmungen der Dichter
Und man ahnt, wie Dichterinnen ticken. Wie sie das Alleralltäglichste zum Gedicht machen. Genau das, was wir alle vor der Nase haben, aber viel zu selten die Angebote unseres umtriebigen Gehirns nutzen, das scheinbar so Alltägliches in etwas Besonderes und Unerwartetes zu verwandeln. Gern auch mit leicht versteckten Zitaten der immer wieder Zitierten. Rilke etwa in „ein wintergedicht“: „der sommer war sehr groß / jetzt / ist er eingefangen / in meiner hand …“
Man merkt, wenn man es bislang nicht ahnte: Auch die Gedichte der Berühmten hätten allesamt eine völlig andere Wendung nehmen können, wenn sie nur in einer ein bisschen anderen Stimmung gewesen wären. Oder in einer anderen Haut gesteckt hätten. Oder dem Wald mal nicht mit Försters Augen begegnet wären wie in „fall und ausnahme“: „vor lauter bäumen erkennt / der wald sich selbst / nicht mehr und in / der menge sehe ich / doch nur dich …“
Dichterinnen sind belesen. Und sie zeigen, dass man auf die Plattitüden, die als Sprichwörter durch die Welt spazieren, niemals so antworten muss, wie es erwartet wird. Das ist ja das Bedrückende an viel zu vielen Gesprächen, dass man jedes Mal nur die erwarteten Antworten bekommt. Als hätten die Menschen vergessen, wie fantasievoll sie einmal als Kind waren – und deshalb so aufmerksam auf die seltsamen Wendungen, zu denen unser Gehirn in der Lage ist. A
ufmerksamkeit und Fantasie gehören zusammen. Sie machen erst den Zauber der Welt. Auch wenn es wie im Kapitel „traurige gedichte“ mal wieder zu Ende gegangen ist mit dem schönen Überschäumen.
So wie in „für dich ein letztes mal“: „behutsam legen wir / die zerbrochenen gläser / für die wir beide / nichts können / aus den händen …“
Manchmal ist das so. Und man fällt in eine tiefe Traurigkeit. Oder ein großes Weinen, das keiner sieht. Weshalb man es in Versen festhalten muss. Denn gesagt sein muss es. Und wäre es auch nur für sich, weil man nach dem Weggehen ja kein Gegenüber mehr hat. Nur sich selbst. Aber auch das will erhört sein. Gedichteschreiben ist immer ein Selbstgespräch. Und eine kleine Heilung im Untröstlichen. So wie in „ohne grund“: „ich habe aufgehört / den tagen sinn zu geben / auch die sterne lasse ich / sich drehen wie sie wollen …“
Raus aus dem Schweigen
Sage niemand, dass er oder sie so etwas noch nie gefühlt hat. Manche leben ihr halbes Leben in so einer Niedergedrücktheit, die mehr ist als nur ein gewaltiger Katzenjammer danach. Für einen Moment ist einem die Welt dann ja wirklich herzlich egal. Aber das überspielen die meisten. Dichterinnen aber halten das nicht aus. Sie schreiben auch, um solche Danachs zu bannen und an die Wand zu klatschen wie – na ja, lästige Mücken wäre hier ein falsches Bild. Denn es fühlt sich ja eher an wie in „wohin“: „auf die mauern des gestern / schreibe ich / suche den weg / aus dem schweigen …“
Womit eigentlich der Punkt berührt ist, an dem aus dem Erlebten ein Gedicht werden sollte. Was nicht immer klappt. Aber wenn es klappt, ist das Gedicht wie eine kleine Schatzkiste, in die man hineinschauen kann und siehe da: Es lebt. Es erzählt vom kleinen Jubel, das Leben doch wieder irgendwie am Zipfel gepackt zu haben.
Was auch nach Bekenntnis der Dichterin ihr tiefstes Anliegen ist. Weshalb sie im Abspann noch versucht zu erklären, was aus ihrer Sicht heterorealistische Gedichte sind. Danach bedeutet Heterorealismus: „ich akzeptiere die Realität – aber ich respektiere sie nicht!“
Das Ausrufezeichen ist schön. Es liest sich wie ein kleiner Trotz.
Die Frechheit des Spiegels
Denn wer Gedichte schreibt, weiß: Es ist auch umgekehrt. Gedichte lassen einen mit der eigenen widerborstigen Wirklichkeit zusammenkrachen. Und manchmal passt es wie die Faust aufs Auge. Das haut dann wirklich rein. Weil es selbst der Schreibenden hinterher mit der Frechheit de Spiegels sagt: Du hast es voll erwischt. Und damit dich selbst.
Und es stimmt ja: Oft sind es tatsächlich die besten Gedichte, die einem hinterher die Wahrheit sagen. So wie der Spiegel in „morgentoilette“: „mein spiegelbild / sterbend mit triumph / im augenblick / gehörst du mir …“
Was Dr. Faust zum Augenblick gesagt hat, wissen die meisten Schulkinder. Aber selbst Goethe hat wohl oft und öfters vor seinem Spiegel gestanden, verzweifelt an der Morgentoilette und am eigenen Anblick, der nicht immer den Olympier zeigte. So wie es uns allen geht, bevor wir uns an den Tag verlieren und abends bei der Abendtoilette merken, dass unser allergestrengstes Gegenüber „noch immer hier“ ist. Als hätte es nur auf uns gewartet.
Oder haben wir nur auf uns selbst gewartet und das den ganzen Tag lang nicht gemerkt? Wer es dann schafft, mit einer guten Pointe aus dem Gedicht zu gehen, der kennt das schöne Gefühl der unerwarteten Freude.
Und kann seine Gedichte dann wie eine kleine Hausapotheke veröffentlichen für all die Menschen da draußen, die wissen, wie tröstlich und umwerfend eine Portion Gedichte sein kann, wenn man sie zur richtigen Stunde und in der richtigen Dosierung zu sich nimmt.
Charlotte van der Mele „spiegel scherben spiel“ Anderort Verlag für Lyrik, Leipzig 2024, 14 Euro
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