1989/1990 erlebte nicht nur Ostdeutschland seine Selbstbefreiung. Die friedlichen Revolutionen erfassten den kompletten einstigen Ostblock. 1990 beschloss Litauen als erste ehemalige Sowjetrepublik die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Doch das kleine baltische Land erlebte wie alle anderen einstigen Ostblockstaaten die Nachwehen von Jahrzehnten der Diktatur und Fremdbestimmung. Entsprechend chaotisch ist auch die Zeit, die der aus Afghanistan zurückgekehrte Remyga erlebt. Tragisch sowieso.

Auch wenn der Roman von Rimantas Kmita mit einer Hochzeit beginnt, in der alles gut zu sein scheint: Remyga kann die schöne Sonata heiraten, bekommt einen Sohn mit ihr und scheint sich so langsam wieder einzufügen in das Leben eines Landes, das sich gerade aufmacht, eigene Wege zu gehen. So wie er selbst. Was ihm nicht leicht fällt.

Denn von seinem Einsatz als Soldat im Afghanistan-Krieg, der für die Sowjetunion 1989 mit einer herben Niederlage endete, ist Remyga gezeichnet und schwer traumatisiert. Nicht nur hat er gute Freunde auf grausame Weise verloren. Er wurde auch selbst zum Täter.

Deswegen heißt Kmitas Buch im Untertitel auch „Der Versuch ehrlich zu leben“. Einerseits. Denn andererseits ist Remyga nicht wirklich in ein friedliches Land zurückgekommen. Noch stehen die russischen Truppen im Land. Die russische Spezialeinheit OMON treibt ihr Unwesen. Und schon seit Jahren blüht der Schwarzhandel und hat sich das Verbrechen in der gar nicht so kleinen Stadt Šiauliai im Norden Litauens eingenistet. Ein Phänomen der Mangelwirtschaft, der Korruption und der fehlenden Demokratie.

Die Hoffnung auf ein friedliches Leben

Ein Tummelplatz für Populisten, Nationalisten und Kriminelle. Und eigentlich wäre Remyga einfach froh, in Ruhe seiner Arbeit als Polizist nachgehen zu können. Doch die Polizei hat aus alten Zeiten keinen guten Ruf und auch keine Autorität. Noch nehmen auch die Litauer ihren neuen Staat nicht ernst. Und sie sind nur zu leicht verführbar, wenn Leute wie Remygas Schwiegervater sich als Retter der Nation aufspielen und versprechen, mit dem Verbrechen im Land mit harter Hand aufzuräumen, wenn man sie wählt.

Nur ist Remygas Schwiegervater selbst Teil der Dunkelwelt, treibt lukrative – aber illegale – Geschäfte. Und er macht Remyga, dessen Polizistenlohn kaum reicht, die kleine Familie zu ernähren, ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle, weil er die Familie mit Waren versorgt, die man sich für ein karges Polizistengehalt nicht leisten kann.

Und auch Sonata träumt vom einem anderen Leben als dem an der Seite eines ehemaligen Afghanistan-Soldaten, der über seine Erlebnisse im Krieg lieber schweigt, auch wenn er immer wieder Anfälle hat, in denen ihn die Geister der Vergangenheit überfallen und niederwerfen. Und gerade in Situationen, in denen er wieder mit Gewalt konfrontiert wird, knocken sie ihn aus.

Aber wie erzählt man diese doppelte Tragik? Die ja nicht nur Remyga allein betrifft, der noch dazu eine Leidensgeschichte als Waisenkind hat und nicht einmal weiß, wer seine Eltern waren und warum ihr Verschwinden derart mit Schweigen zugedeckt ist. Der Roman erzählt auch davon, wie Remyga Stück für Stück erfährt, was damals wohl mit seinen Eltern passiert sein muss und welche Rolle sein cleverer Schwiegervater dabei gespielt haben mag.

Die Gespenster der Vergangenheit

Doch die Bilder und Ereignisse sind kaum greifbar, sind wie überbelichtete Fotos, die seine Freundin Laima in der Dunkelkammer entwickelt. Die einzige, die ihn zu verstehen scheint, auch wenn sie ihm im Kampf mit seinen Dämonen nicht helfen kann.

Ein Kampf, den Kmita immer wieder in die Sphäre der litauischen Fabelwesen verlegt, in denen die Tiere aus dem Wappen von Šiauliai lebendig werden und irgendwie für ihren Helden Remyga kämpfen – gegen andere Fabelwesen wie den hinterlistigen Burattino, der hier irgendwie die Rolle von Remygas Schwiegervater spielt.

Es scheint „nur“ ein Roman über die frühen Jahre im wieder unabhängigen Litauen zu sein. Aber manches, was auf der „politischen“ Ebene passiert, kommt einem aus heutiger Sicht nur zu vertraut vor. Politische Auftritte und „Terroranschläge“ werden inszeniert. Dubiose „Geschäftsleute“ drängen sich in Machtpositionen und verkaufen sich der Öffentlichkeit als ehrbare Leute. Und das mit Parolen, die einem ebenso vertraut sind aus dem populistischen Verführungsrepertoire, in dem sich zwielichtige Politiker als Versteher des Volkes verkaufen.

Und das Volk?

Es glaubt und jubelt. Es ist auch ein zutiefst trauriger Roman, weil zu Remygas Sprachlosigkeit auch die Sprachlosigkeit eines Volkes kommt, das nur zu bereit ist, dem erstbesten Heilsbringer zu folgen. Obwohl bekannt ist, wer sich da um das Bürgermeisteramt bewirbt. Aber es geht dem Jungen aus dem Volke wie damals in Andersens Märchen von „Des Kaisers neue Kleider“: Er ruft, aber niemand hört zu. Die Jubler übertönen alles.

Die verführerische Macht der Burattinos

Und es hilft Remyga nichts, dass er bei allem, was er tut, versucht, ein ehrlicher Mensch zu bleiben. Denn wer ehrlich ist, ist nicht mächtig. Schon gar nicht in einer Welt, in der Geld und Korruption die Strippen ziehen und dem leichtgläubigen Volk verlogene Volksnähe vorspiegeln. Man hofft ja mit Bär und Stier und dem Jungchen aus dem Wappen von Šiauliai, dass Remyga, der in seinen Träumen zum Wolf wird, den hinterlistigen Burattino besiegt, dass alles irgendwie noch gut wird. Und dass der von seinem Afghanistan-Einsatz arg Gezeichnete doch noch einen Weg findet, ein ehrliches Leben zu führen.

Doch der Roman ist eben auch eine Geschichte über die unheilige Macht, die ein Land okkupiert, wenn Menschen sich von Egoisten und Scharlatanen verführen lassen, die sich als „Kenner des Volkes“ und Patrioten aufspielen, damit aber nur ihre eigene Macht und ihr eigenes Geld meinen. So zufällig sind die Parallelen zur deutschen Gegenwart nicht. Und so erzählt Kmita eben auch eine Geschichte über die Verletzlichkeit der Demokratie, wenn clevere „Geschäftsleute“ wissen, wie man sich Wahlen und Zustimmung erkauft und wie leicht „das Volk“ nur zu bereit ist, jedes faule Versprechen zu glauben.

Erst auf dieser Ebene ahnt man, wie einsam dieser Remyga eigentlich ist. Der nicht wirklich ein Held ist. Dazu haben ihn die Erlebnisse in Afghanistan zu sehr gezeichnet. Wem kann er vertrauen, wenn er nicht einmal sich selbst vertrauen kann? Es ist am Ende auch eine Geschichte des Scheiterns derer, die die Sowjetunion und den Krieg in Afghanistan überlebt haben, aber nicht mehr die Kraft hatten, nun erneut um ihre Position in einer Gesellschaft zu kämpfen. Einer Gesellschaft, in der die zwielichtigen Gestalten alle Mittel nutzen, um Macht und Einfluss zu gewinnen. Mittel, zu denen auch blanke Gewalt gehört.

Das Märchen geht nicht gut aus für Remyga. Und wie das so ist: Die Strippenzieher zucken hinterher mit den Schultern. Niemand kann sie belangen.

Eigentlich eine 30 Jahre alte Geschichte, die Kmita hier in einen Roman verwandelt hat. Aber sie lässt einen dennoch an eine Gegenwart denken, in der zwielichtige Figuren alles tun, sich als Retter des Volkes zu verkaufen. Mit zwielichtigen Methoden und langer Burattino-Nase.

Rimantas Kmita „Remyga oder der Versuch ehrlich zu leben“ Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024, 24 Euro.

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