Ein gewisser Marx meinte ja mal, die Philosophen hätte die Welt nur unterschiedlich erklärt. Aber viele Philosophen haben sie auch VERklärt. Ihre Werke riechen nach Studierstube, verbrauchter Luft und zu viel Größenwahn. Aber vielleicht muss man ja auch 20 Zentimeter klein sein, krumme Beine haben und die Welt mit den Augen eines Dackels sehen, um das wirklich Wichtige wahrzunehmen. Und eine feine Nase braucht man sowieso, sonst verliert man jede Orientierung.
Das ist das Erstaunliche an Daniela Herzbergs nun zweitem Roman mit dem Dackel Drago als Erzähler: Irgendwie ist dessen Sicht auf das Treiben von Mensch und Tier viel bodenständiger und nüchterner als das meiste, was Philosophen auf zwei Beinen jemals zu Papier gebracht haben. Natürlich ist das ein erzählerischer Schachzug.
Wir Menschen sind ja auch dazu befähigt, uns in die Sichtweise Anderer hineinzuversetzen. Empathie nennt man das. Eine Eigenschaft, die viele Leute ja tatsächlich für überflüssig und „woke“ halten in einer Zeit, in der man andere Leute lieber mit Kraftmeierei und Gewalt bedroht. Was auch in Daniela Herzbergs zweitem Drago-Roman eine Rolle spielt.
Denn das Dorf, in das A und D mit ihren Hunden gezogen sind, ist keine Idylle. So wie viele Dörfer in der deutschen Provinz keine Idylle mehr sind. Denn längst haben völkische Siedler das Land als einen Raum für sich entdeckt, in dem sie ihre völkischen Fantasien von einer Herrenrasse ausleben können.
Sie kaufen sich Bauernhöfe und verändern ziemlich schnell das Klima ringsum. Was ihnen leicht fällt, wenn die Dorfbewohner selbst opportunistisch und feige reagieren. Da bahnt sich also etwas an im Leben von A und D, die sich ihr Häuschen gerade so schön eingerichtet haben.
Die Welt aus der Dackelperspektive
In diesem Buch verschwinden sie nun erst einmal für zwei Wochen nach Nordamerika und lassen Drago und Socke, die beiden Hunde zurück. Was Drago ziemlich seltsam findet, ist doch seine Besitzerin ohne ihn völlig orientierungslos. Was sie natürlich nicht weiß. Die meisten Menschen wissen nicht, dass sie völlig verpeilt sind und ohne ihre Hunde völlig aufgeschmissen wären.
Ernsthaft? Natürlich. Man merkt ziemlich schnell, dass Daniela Herzberg hier nicht nur eine fantasievolle Geschichte über ihren tatsächlich existierenden Drago schreibt. Sie nimmt sich auch selbst auf den Arm. So, wie es wenige Autorinnen und Autoren tun.
Denn dazu braucht man selbst ein zutiefst philosophisches Gemüt, jene herrliche Distanz zum eigenen Tun, Zerstreut- und Verpeiltsein, die man eigentlich nur gewinnt, wenn man es wirklich schafft, das eigene Treiben von außen zu betrachten. Eben z.B. aus der Perspektive eines Dackels, der nebenbei selbst ein großer Philosoph ist und ein eigenes Lexikon verfasst, mit Stichworten, die auch in Diderots Enzyklopädie hätten auftauchen können.
Die so aber nirgendwo zu lesen sind. Etwa zum Stichwort „Ziel“: „Wer von einem ZIEL besessen ist, vergisst zu essen und zu trinken, magert ab und trocknet aus wie eine Rebhuhnmumie auf einem Heuboden.“ Manchmal wartet man regelrecht darauf, dass das nächste Stichwort zu Dragos Lexikon kommt, das er fein säuberlich überall im Garten vergräbt, wo es auch die neugierigen Mäuse lesen.
Wie beschützt man ein Rudel?
Aber dafür passiert zu viel in dieser Geschichte, denn A hat ihre Eltern gebeten, in ihrer Abwesenheit auf die beiden Hunde und das Haus aufzupassen. Womit Matthias und Inge völlig überfordert sind. Weshalb A ihren Drago gebeten hat, auch auf die beiden achtzugeben und dafür zu sorgen, dass sie sich nicht scheiden lassen. Womit er nun die Aufgabe hat, das ihm anvertraute Rudel zusammenzuhalten, das im Lauf der Geschichte beträchtlich wächst. Nicht nur der Bulle Harro kommt hinzu, sondern auch noch drei abhanden gekommene Jugendliche und ein Baby.
Aber erst später, nachdem Inges kompletter Dosen- und Windelvorrat verschwunden ist, der kleine Dorfladen überfallen wurde und Matthias mehrmals ausgeknockt wurde und in einer seiner melancholischen Minuten in den See gegangen ist. Da braucht auch Inge eine Weile, um ihm zuzugestehen, dass man mit über 80 vielleicht doch so langsam Abschied nimmt vom Mond, den Wildschweinen und der Überzeugung, man könnte das Haus noch gegen Partisanen verteidigen.
Auch wenn er ganz offensichtlich noch gebraucht wird, als die Frage steht, ob den Kindern geholfen werden kann, die so unverhofft in Dragos Welt gestrandet sind, aber eigentlich gar nicht stranden wollen. Wie das so ist, wenn man vor Eltern geflohen ist, die einen wie einen Untertanen behandeln, der zu parieren und die bekloppten Ansichten der Alten zu verinnerlichen hat.
Wie bekommt man ein Rudel?
Daniela Herzberg beschönigt das nicht. Es ist keine Idylle, die sie zeichnet. Und Inge und Matthias tragen ja selbst schon seit Jahrzehnten einen durchaus sperrigen Kampf um ihren „Heldenvater“ aus, den Matthias nur Verbrecher nennt. Aber wie geht man um mit solchen Familiengeschichten? Auf die „Spiegel“-Weise, die dann meist unter Überschriften wie „Auch Opa war ein Nazi“ auftaucht? Oder doch mit einem Blick auf die Kompliziertheit dieser Verhältnisse, wenn Kinder sich nicht eingestehen wollen, dass ihre Väter keine Helden waren, sondern Feiglinge, die sich auch noch hinter Frau und Kindern versteckten?
In der Beziehungskiste der beiden spiegelt sich die Klemme, in der auch die drei Jugendlichen stecken, die nun bei ihnen zu Gast sind. Und Teil von Dragos erstaunlich gewachsenem Rudel. Wobei man mit Dragos Sicht auf das Rudel auch geneigt ist darüber nachzudenken, ob sich Menschen nicht eigentlich auf ganz ähnliche Weise ein Rudel zulegen, auch wenn sie niemals Rudel dazu sagen würden: „Das Rudel beginnt mit denen, die zuerst da sind, und wird täglich größer.“ Da können dann Dalmatiner, Doggen, Bäcker, die Postbotin und mehrere Klempner dazugehören, ein humpelnder Reichenhäher, 104 Dorfbewohner, die Sonne und natürlich der Mond, mit dem sich nicht nur Drago des Nächtens so gern unterhält. Auch Matthias tut es.
Denn mit wem sonst soll man seine ganzen Sorgen teilen, wenn man das mit Inge nicht kann? Manchmal sind es ja auch die Hunde, die zuhören und nur zu gut verstehen, wo ihre Rudelmitglieder der Pantoffel drückt.
Auch wenn sich Drago selbst nichts inniger wünscht, als dass A und D endlich wieder zurückkommen, egal wie sie nach Amerika geflogen sind, mit Uhu oder Heißluftballon. Denn so ein bisschen fühlt er sich doch überfordert, dieses Rudel zusammenzuhalten.
Wie riecht die Freiheit?
Und man wird den Eindruck nicht los, dass auch die Menschenwelt viel friedliche wäre, wenn alle Menschen so gelassen wären wie Drago. Und eine Nase hätten für die verwirrende Vielfalt des Lebens. Haben sie aber nicht. Denn was das Riedchen angeht, sind Menschen ganz offensichtlich unfähig, auch nur die frischesten Spuren zu lesen. Dafür nehmen sie Dinge ernst, über die ein kluger Dackel nur die Brauen runzeln kann.
Wobei der Philosoph in Drago bei der Gelegenheit auch ein bisschen über das komplizierte Verhältnis der Menschen zur Freiheit nachdenkt. Und ihrem Drang, sich im eigenen Kopf einzusperren und dann anderen Leuten Angst einzujagen, wenn sie diese verklemmte Freiheit nicht akzeptieren. Gar den eigenen Kindern.
Und dabei hat Drago die beste Erklärung dafür, was wirklich Freiheit ist: „Freiheit riecht nach Himbeeren, Flieder, Salami und unbekannten Düften im Fahrtwind. Das denkende Individuum erreicht sie auf einem Motorrad. Es erreicht sie durch klare Worte und den Gedankenaustausch zwischen Gleichen, Dackel und Dogge, Maus und Mensch.“
Ganz offensichtlich haben nicht alle so dackelnüchterne Vorstellungen von Freiheit – und das sind dann die Leute, die anderen ständig Probleme und Kummer machen, weil sie die Freiheit vor der eigenen Nase nicht sehen und nicht riechen.
Es ist ein Buch zwischen liebenswerter Dackelweisheit (von der Mensch sich eine Salamischeibe abschneiden könnte) und dem leisen Humor, mit dem die Autorin quasi durch Dragos Augen auf das allzu Menschliche schaut, das uns alle formt und ramponiert. Und manchmal auch einsehen lässt, dass wir für die großen Heldengeschichten eigentlich nicht (mehr) gemacht sind.
Daniela Herzberg„R wie Rudel“ Sol et Chant, Letschin 2024, 24 Euro.
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