Ein Kriminalroman? Ein Tagebuch? Oder doch eher die Geschichte eines einsamen Menschen, der weiร, dass ihm keiner helfen wird, wenn es auf seiner Arbeit einmal Probleme gibt? Eine Arbeit, die fรผr unsere Gesellschaft vรถllig unter dem Radar lรคuft โ auรer es ist mal Corona-Pandemie und es wird vom Balkon geklatscht. Oder die Pflegekosten steigen weiter in astronomische Hรถhen, von denen Menschen wie Matthis Andres am Ende nichts haben. Es ist ein Roman zur Zeit.
Und nicht mal in dunklen Tรถnen geschrieben. Daraus einen Thriller zu machen, hat Tomas Blum bewusst vermieden, den L-IZ-Leser/-innen schon von seinem 2019 im Leipziger Liesmich-Verlag erschienenen Buch โWofรผr wir uns schรคmenโ kennen.
Im Grunde verflechten sich in seinem Buch jetzt mehrere unvollendete deutsche Diskussionen โ die um das รผberlastete Pflegesystem und die zur Feuerwehr fรผr die stetige รberalterung gewordenen Pflegekrรคfte auf def einen Seite und auf der anderen Seite die Diskussion die so genannte Sterbehilfe.
โDie ethische Beurteilung der Sterbehilfe ist Gegenstand vielfรคltiger Diskussionenโ, umschreibt Wikipedia die immer wieder neu entgleisenden Diskussionen, in denen genauso heftig moralisiert wird wie in der Abtreibungsdebatte. Doch wo meist religiรถs verbrรคmte Moral im Raum wabert, verschwindet die oft genug tragische Wirklichkeit im Nebel.
Das Verschweigen
Und auch Matthis Andres redet in seinen Tagebuchaufzeichnungen nicht davon, was er โ mรถglicherweise โ getan hat. Es ist aus Autorensicht auch ein Versuch, sich hineinzuversetzen in das Denken eines Pflegers, der praktisch tรคglich mit dem Tod zu tun hat, mit alten Menschen, die im Pflegesystem abgelagert werden, damit sie die effizienten Ablรคufe unseres wirtschaftsfreundlichen Alltags nicht mehr stรถren. Erst werden sie von ihren Angehรถrigen noch fleiรig besucht. Doch dann werden die Besuche immer seltener. Und die Pflegekrรคfte sind letztlich noch die einzigen wirklichen Bezugspersonen fรผr die zumeist alten Leute, aber auch fรผr die jรผngeren Pfleglinge, die diese Pflege brauchen, um zu รผberleben.
Und man vergisst dabei schnell, dass das fรผr die Pflegekrรคfte eine enorme Verantwortung ist. Sie mรผssen sich um die Medikamentierung kรผmmern, waschen ihr Pfleglinge, sorgen fรผr Essen, frische Kleidung und Windelwechsel. Und auch wenn sie wie Andres, der mobil fรผr einen Pflegedienst unterwegs ist, die Zeit fรผr ihre Pfleglinge minutengenau getaktet haben, entstehen trotzdem persรถnliche Beziehungen, sind es die Pflegerinnen und Pfleger, die die Sorgen, Nรถte und Wรผnsche der ihnen Anvertrauten erfahren.
Und zur Wahrheit gehรถrt gewiss auch, dass sich ein Mensch nicht wirklich wohlfรผhlt, so am Ende seines Lebens zur Passivitรคt verdammt zu sein, abgeschnitten von der Welt, immer auf Hilfe angewiesen. Nur: Es ist ein Tabu in unserer Gesellschaft, รผber das gewรผnschte Sterben zu sprechen. Andere Lรคnder sind da weiter, weil man dort verstanden hat, dass Menschen durchaus den Wunsch haben kรถnnen, das Ende des eigenen Lebens selbst zu bestimmen.
Am Pranger
Und so merkt man schnell, in welchem Dilemma Matthis steckt, der sich eigentlich keinen anderen Beruf vorstellen kann als den eines Pflegers. Die ihm Anvertrauten danken es ihm: Er ist professionell, gibt den Menschen wieder das Gefรผhl, dass jemand ihre Kรผmmernisse ernst nimmt. Und er erfรผllt ihre Wรผnsche. Auch ziemlich ausgefallene. Oder ist zumindest sicher, dass er das tut. Er versteht sich nicht als Tรคter, auch wenn er im Verlauf der Geschichte merkt, wie leicht sich die Menschen in dieser Gesellschaft tun, jemanden an den Pranger zu stellen.
Anlass ist der Tod eines Jungen, der sich an einer รberdosis von Pillen vergiftet, die ihm verschrieben wurden, um ihn ruhig zu stellen. So, wie unsere Gesellschaft ja nur zu gern mit Menschen umgeht, die stรถren. Und anfangs scheint es genau so eine private Racheaktion zu sein, mit der Matthis zum Objekt der entfesselten Medien wird, tรคtlich angegriffen wird und sogar seine Wohnung meiden muss. Die Polizei marschiert ein, durchwรผhlt seinen Besitz, findet aber nicht, was sie sucht. In der Welt, in der Matthis lebt, ist er wehrlos gegen solche รbergriffigkeit. Und das รคndert sich auch nicht, als er einen Anwalt bekommt, der ihm ins Gesicht sagt, das er ihn sich eigentlich nicht leisten kann. (Aber er hat da was, mit dem er โbezahlenโ kann.)
Eine Stelle, an der man innehรคlt. Und kurz daran denkt, dass es stimmt. Dass Menschen wie Matthis in diesem Land nicht wirklich geschรผtzt sind und sich einen Rechtsbeistand eigentlich nicht leisten kรถnnen. Und auch nicht wirklich verstehen, wie Rechtsprechung funktioniert, sodass der Auftritt vor Gericht, der ihn eigentlich vom Verdacht mutwilliger Tรถtung freisprechen soll, fรผr ihn zum Desaster wird.
Denn sein Handy, das der Richter als Beweisstรผck einbehรคlt, ist auch sein Tagebuch. Sein Tagebuch, in dem er von allem berichtet, was er denkt und erlebt. Und natรผrlich spricht er da und dort auch von seinen Pfleglingen, denen er wohl geholfen hat, dieses Leben zu verlassen.
Normale Leute โฆ
Kann man das so schreiben? Ist das nicht eine unzumutbare Verharmlosung? Ist Matthis Andres eben nicht der Helfer, als den er sich versteht, sondern ganz klassisch ein Mรถrder? Dass einige der medial bekannten Fรคlle von Pflegern und Pflegerinnen, denen mehrfache Tรถtung ihrer Schรผtzlinge angelastet wird, als Motiv immer mitschwingen, ist unรผbersehbar. Aber was die mediale Berichterstattung meist ausblendet, ist die Einsamkeit der Pfleglinge, die im Pflegesystem abgelegt werden in der Erwartung, jetzt niemandem mehr zur Last zu fallen.
Ein Motiv, das auch im Tagebuch von Matthis sichtbar wird, weil er eine Seite unserer Gesellschaft zeigt, die zur Liebe lรคngst nicht mehr fรคhig ist, schon gar nicht auffรคlligen Kindern wie Mirko gegenรผber: โSein Fehler (aus Sicht der normalen Leute) war seine radikale Offenheit. Mirko war ein Radikaler. Das war er. Und deshalb konnten ihn die Leute nicht lieben. Weil sie gar nicht wussten, was sie an ihm lieben sollten. Von Mirko konnte man nichts verlangen. Sie knรผpfen ihr Glรผck an Bedingungen. Sie wollen lieber kontrollieren als glรผcklich zu sein. Sie wollen unglรผcklich sein.โ
Das ist zwar auf Mirkos Eltern gemรผnzt, die die Kampagne gegen Matthias losgetreten haben. Aber es gilt eigentlich fรผr einen Groรteil unserer Gesellschaft, die alles unter Kontrolle haben will. Und trotzdem die Menschen, die sich um die Schwachen kรผmmern, letztlich allein lรคsst. Mit einem Dilemma, das eigentlich nicht zu lรถsen ist.
Nur eine Sicht
Hat Matthias die 98 Menschen, von denen er schreibt, tatsรคchlich umgebracht? Oder hat er ihnen geholfen, ihrem Leben ein Ende zu setzen? Und wie ist das mit Frau Okrob, die zu seiner Nr. 99 wird? Ist das freiwillig? Wรผnscht sie sich das so? Eine Frage, die zwangslรคufig offenbleibt.
Denn natรผrlich erfahren wir alles nur aus der Sicht des Tagebuchschreibers. Eine Sicht, die nun einmal nicht die von Boulevardmedien ist, die โdas Monsterโ so gern โauf die Titelseite klatschenโ, nicht die von selbsternannten Jรคgern in den asozialen Medien, auch nicht die von Polizei oder Richtern. Das ist im Grunde der nur zu legitime Kunstgriff von Tomas Blum, wenn er so konsequent aus der Perspektive seines Tรคters schreibt. Beherrscht und รผberlegt รผbrigens.
Was Matthis erlebt und weiร, schreibt er sehr nachdenklich und rational in sein Handy. Eine Rationalisierung, die auch nicht den Blick darauf verstellt, dass auch ihm die Dinge eher passieren und er oft eher der Getriebene ist, der mit den Erwartungen seiner Umwelt mehrmals รผberfordert ist. Selbst die Verantwortung fรผr einen abgebrochenen Finger hat er รผbernommen, weil sein Kollege Herbert ihn drum gebeten hat. Mit dieser Zusage beginnt ja das ganze Drama. Oder beginnt das Ende des Dramas, das ihn am Schluss seines Tagebuchs vรถllig entgleisen lรคsst. So wie sein eigentlich strukturiertes Leben als Pfleger im Lauf dieses Buches nach und nach entgleist ist.
Ein Vorwort von โder Herausgeberinโ gibt es auch noch, das die Leser mahnt, das Tagebuch richtig einzuordnen, das 98. in der Zรคhlung, die anderen bleiben unter Verschluss. Aber gleichzeitig gibt sie selbst wieder eine Interpretation vor, die den Tagebuchschreiber vor-verurteilt: โIn Wahrheit hรคlt dieses letzte โTagebuchโ des Matthis Andres uns vor Augen, wie trรผgerisch und selbsttrรผgerisch, wie geschickt und wortgewandt die Verรคchter der Menschlichkeit uns im Alltag begegnen.โ
Wer ist der Anklรคger?
Dabei merkt man beim Lesen, dass dieser Andres ganz und gar nicht โgeschickt und wortgewandtโ geschrieben hat, um mรถgliche Leser zu trรผgen. Erst in den Hรคnden der Polizei werden seine โTagebรผcherโ verrรคterisch. Weshalb die Polizei ja so gern Handys und Festplatten einsammelt, wohl wissend, dass sie dadurch an Informationen kommt, die selbst gegen bisher Unverdรคchtige angewendet werden kรถnnen. Sodass das Buch beilรคufig auch die Frage stellt: Wer erzรคhlt hier eigentlich die richtige Geschichte? Ist Andresโ Geschichte aus seiner Perspektive nicht gรผltig? Ist nur die Sicht der Staatsanwaltschaft gรผltig?
Oder machen wir uns alle etwas vor, wenn wir denken, alles ginge seinen kontrollierten Gang, wรคhrend wir all die Schutzbefohlenen, die in unserem Leben keinen Platz haben, in einem System abladen, von dem wir hoffen, dass sie dort wirklich human behandelt werden?
Und wie gehen wir mit den Pflegekrรคften um, die in diesem System den intensivsten Kontakt zu den Menschen haben, die bei ihnen abgeliefert wurden? Menschen wie diesem Andres, der durchaus weiร, dass er mit dem, was er tut, allein ist und niemanden fragen kann. Der durchaus auch รผberlegt einen Satz schreibt wie: โWie weisen wir das dem Anklรคger nach, der mit den Menschen รผberhaupt nicht in Berรผhrung kommt, sondern sie immer bloร anklagt? โ Er arbeitet รผber den Menschen.โ
Womit er schon gleich zu Beginn eine Kluft benennt, die er jedenfalls nicht รผberbrรผcken kann. Nur sein โTagebuchโ erzรคhlt davon. Und verrรคt ihn am Ende.
Tomas Blum โOkrob 99. Tagebuch eines Tรคtersโ Edition รberland, Leipzig 2024, 20 Euro.
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