Das Frustrierende an den Konzepten konservativer und neoliberaler Politiker für Arbeits- und Sozialpolitik ist, dass sie die Wirklichkeit einfach ausblenden. Die Wirklichkeit eines Landes, dessen Reichtum zum größten Teil aus der Arbeit von Menschen resultiert, die oft ohne Absicherung und sichere Verträge im Niedriglohnsegment unseres Landes dafür sorgen, dass der Laden überhaupt noch funktioniert. Menschen, die Sascha Lübbe für dieses Buch aufgesucht hat.

Menschen, die in den Wirtschaftsteilen der großen deutschen Zeitungen niemals auftauchen. Sie kaufen keine Aktien, ihnen gehören keine Unternehmen, sie stecken ihr Geld auch nicht in Eigentumswohnungen oder puschen die Konsumlaune im Land.

Und trotzdem läuft ohne sie nichts, rollen hunderttausende Lkw auf deutschen Straßen nicht (und könnten auch die Spitzenunternehmen nicht just-in-time produzieren), gäbe es in den Supermärkten kein Fleisch und keine Wurst, wäre die deutsche Bauwirtschaft längst zum Erliegen gekommen, das Pflegesystem zusammengebrochen und die Deutschen würden ihr Büros und Toiletten selber putzen müssen, weil einfach keiner da wäre, der das alles sonst täte.

Die ganz unten sieht man nicht

Deutschland ist ein Land, das schon seit Jahren einen massiven Arbeitskräftemangel hat. Auch das vergessen die konservativen Welterklärer fast immer, wenn sie so gern über migrantische Gemeinschaften in Deutschland reden. Von den Populisten, die davon schwadronieren, sie außer Landes zu deportieren, ganz zu schweigen. Dass dann aber nichts mehr funktionieren würde in der „Exportnation“ Deutschland, das ist diesen Leuten ja egal.

Sie interessieren sich nicht dafür, wie in Deutschland Lebensmittel produziert werden (man denke nur an die tausenden Erntehelfer, wenn Spargel und Erdbeeren so weit sind) oder wie das Gesundheitssystem überhaupt noch funktioniert.

Sascha Lübbe, der sich als Reporter sowieso schon berufsmäßig für die Themen Migration, Integration und soziale Ungleichheit interessiert, hat sich einige der markanten Branchen herausgesucht, in denen ohne ausländische Arbeitskräfte schon lange nichts mehr läuft, Branchen, die nach außen oft so abgeschottet sind, dass den Menschen gleich nebenan oft nicht einmal auffällt, wer da eigentlich Häuser und Shopping Malls baut, Schweine und Puten zerlegt, die schweren Brummis fährt oder als freundlicher Bote die Pizza an die Haustür bringt.

Lübbe widmet sich vor allem Arbeitern aus dem Transportwesen, für die ihr Brummi auch ihr Zuhause ist, in dem sie monatelang auf europäischen Straßen unterwegs sind. Er besucht die in Sub-Sub-Unternehmen „angestellten“ Bauarbeiter aus Rumänien, für die nicht bezahlte Stunden oder gleich ganz vorenthaltene Monatsgehälter eine ganz normale Erfahrung sind.

Er fährt auch nach Rheda-Wiedenbrück, um Leute zu finden, die ihm sagen können, ob sich nach den Skandalen während der Corona-Epidemie in den Fleischfabriken und den desolaten Unterkünften der aus Polen, Rumänien, Bulgarien hierher gekommenen Arbeiter irgendetwas zum Besseren verändert hat.

Warum „Gastarbeiter keine Gäste sind

Und er will begreifen, wie dieses System funktioniert, warum große und erfolgreiche Konzerne ihr Personal über Subunternehmen anheuern, die es dann in Osteuropa und inzwischen längst darüber hinaus suchen. Denn mittlerweile gibt es auch in allen EU-Beitrittsländern im Osten einen Arbeitskräftemangel. Die Zeit, dass Deutschland dort seine Billiglöhner (die in den deutschen Niedriglohnbereichen immer noch mehr verdienen als in ihren Heimatländern) dort anheuern kann , geht vorbei. Die Werber machen sich längst schon in Ländern wie Usbekistan auf die Suche, nutzen aber auch wie 2022 die Gelegenheit, Personal in Russland abzuwerben.

Und natürlich sitzt hier der wichtigste Hebel, warum das alles immer noch funktioniert. Für die Männer, die dann ihre Heimat oft für Jahre verlassen, ist es die Chance, ihrer Familie finanziell unter die Arme zu greifen, auch wenn sie dafür Arbeitsbedingungen in Kauf nehmen, die kein deutscher Arbeiter (mehr) akzeptieren würde. Es ist kein Zufall, dass viele Passagen aus Lübbes Reportage an die Klassiker von Günter Wallraff erinnern, der zu seiner Zeit als „Ali“ besonders die Arbeitsbedingungen der ersten „Gastarbeiter“-Generation beschrieb und damit publik machte.

Warum die Deutschen bis heute überzeugt sind, dass die Menschen aus den armen Ländern im Süden und Osten nur als „Gast“ zum Arbeiten nach Deutschland kommen, das untersucht Lübbe in einem eigenen Kapitel zur Geschichte der Migration in Deutschland. Denn seit Deutschland im späten 19. Jahrhundert zur Industrienation geworden ist, ist das Land auf „importierte“ Arbeitskräfte angewiesen. Anfangs ersetzten sie nur die Lücken in der Landwirtschaft, weil Millionen verarmter Bauern zur Arbeit in die Städte abgewandert waren. Später wurden sie selbst zur Kernbelegschaft neu entstehender Industrien – so wie die Polen im Ruhrpott.

Und schon das simple Hinschauen hätte die so gern fremdenfeindlichen Politiker lehren müssen, dass das Bild vom „Gastarbeiter“ Fiktion ist, dass die Menschen, die sich für Jahre harter Arbeit eingerichtet haben, eben auch Familien gründen, Kinder bekommen, den Arbeitsort zur neuen Heimat machen.

Abgeschottete Branchen

Und zur Wahrheit gehört auch: Die Unternehmen können auf diese Belegschaft auch gar nicht verzichten.

Auch dann nicht, wenn die Fluktuation – wie auch bei den heutigen Arbeitskräften aus dem Osten – groß ist. Eine Fluktuation, die den meisten Unternehmen sehr bald zum Problem werden wird, denn bald lassen sich diese Menschen nicht mehr durch immer neue Anwerbungen irgendwo im Osten ersetzen. Was all diese Unternehmen zwingen wird, ihren Umgang mit diesen Menschen zu überdenken – vom Verzicht auf dubiose Sub-Auftragnehmer angefangen über die Bereitstellung menschengerechten Wohnraums bis hin zu fairen Arbeitsbedingungen.

Lübbe belässt es nicht nur bei den Schilderungen der ganz persönlichen Schicksale der Menschen, die er besucht hat und die bereit waren, mit ihm zu sprechen – manche direkt an der Autobahnraststätte, andere in ihren überteuerten – und schlechten – Wohnheimen. In der Regel hatte er einen Dolmetscher dabei, denn die Malocher in all diesen Billigbranchen sind in der Regel so von ihrer Mitwelt abgeschottet, dass sie den Job auch ohne deutsche Sprachkenntnisse machen. Was sie noch leichter ausbeutbar macht.

Andere haben sich deutsche Sprachkenntnisse angeeignet, haben aber auch Erfahrungen gesammelt, wie schwer es ist, im deutschen Bürokratiedschungel oder gar vor deutschen Gerichten Recht zu bekommen.

Was auch daran liegt, dass deutsche Verwaltungen und Gerichte kaum realistische Kenntnise von den Zuständen haben, unter denen Millionen Menschen mit ausländischer Herkunft in Deutschland arbeiten. Die Verachtung und die Vorurteile diesen Menschen gegenüber kommen noch obendrauf. Als wären sie wirklich alle nur da, um das schöne deutsche Sozialsystem auszunutzen, wie die Märchenerzählung in konservativen Kreisen nun einmal lautet. Man sieht die Ausgebeuteten nicht und will sie auch nicht sehen.

Das falsche deutsche Wettbewerbsdenken

Und statt ein realitätsnahes Einwanderungs- und Arbeitsrecht zu schaffen, vergießt man jede Menge Schweiß, um diesen Leuten ganz unten aus der Wirtschaftspyramide das Leben erst recht so richtig schwer zu machen. Mit den entsprechenden Gesetzgebungen ist Deutschland mittlerweile selbst Schlusslicht in Europa und verliert auch deshalb immer mehr an Attraktivität für ausländische Arbeitskräfte.

Denn in den meisten Nachbarländern sind auch die Löhne, die in den Malocher-Branchen gezahlt werden, höher. Deutschland gilt dort überall als Niedriglohnland. Erst mit der Einführung des Mindestlohns hat sich an diesem Gefälle etwas geändert.

Was schwierig genug war. Auch dieses Stück Geschichte erzählt Lübbe – vom faulen Deal der Politik mit den Gewerkschaften, in Deutschland für Jahre einen regelrechten Lohnstopp zu vereinbaren, der die deutschen Unternehmen wettbewerbsfähiger machen sollte – mit dem Ergebnis, dass es zu Beginn des Jahrtausends auch für die deutschen Beschäftigten reale Einkommensverluste gab – bis zum Umbesinnen mit dem Mindestlohn.

Nicht zu vergessen den durch die Schröder-Regierung gewollten massiven Ausbau des Niedriglohnsektors, eine Politik, die besonders in Ostdeutschland fatale Folgen hatte, gerade was die politische Stimmung betrifft. Bis heute.

Was eben auch dazu führte, dass die Gewerkschaften gerade in den Branchen, in denen Niedriglöhne die Norm waren, den Kontakt zu den Belegschaften verloren, den sie heute wieder mühsam aufbauen müssen. Auch und gerade zu den migrantischen Arbeitskräften, die heute viele dieser Branchen ausmachen. Und für die der kleinste Ärger mit dem Chef eben meist nicht nur den Verlust des Arbeitsplatzes bedeutet, sondern oft auch noch den Verlust von Wohnung und Aufenthaltsgenehmigung.

Wenn der Zoll einmarschiert …

Weshalb es einigen Gesprächspartnern, die Sascha Lübbe für sein Buch interviewt hat, auch nicht gut geht. Mehrere haben gezwungenermaßen wieder die Firma wechseln müssen, wissend, dass sie in der neuen Firma genauso gelinkt werden können. Manche sind regelrecht abgestürzt, haben mit seelischen und Alkoholproblemen zu kämpfen.

Die oft monate- und jahrelange Abwesenheit von ihrer Familie kommt als bedrückendes Element noch dazu. Meist haben die Männer nur über ihr Smartphone Kontakt zu ihren tausende Kilometer entfernten Frauen und Kindern.

Aber Lübbe wollte auch die andere Seite sehen, jene, die der Zoll untersucht, wenn er mit seinen Mannschaften auf Baustellen oder in der Gastronomie auftaucht, weil der Verdacht auf Schwarzarbeit besteht. Im Fokus – so ist nun einmal die deutsche Rechtslage – stehen dann aber fast nur die Männer, die man dort antrifft und die mit einem Verfahren rechnen müssen, wenn ihre Arbeits- und Aufenthaltspapiere nicht in Ordnung sind.

Während es selbst für den Zoll ungemein schwer ist, die eigentlichen Verantwortlichen dingfest zu machen. Das braucht mindestens die Bereitschaft der einkassierten Arbeiter, gegen ihre Chefs auszusagen. Wozu die wenigsten bereit sind, den damit riskieren sie, sofort ohne Arbeit und Unterkunft dazustehen und erst recht Geld einzubüßen, das sie dringend brauchen.

Blinde Politik

Wobei das eigentlich Erhellende an diesem Buch ist, dass es zeigt, wie sehr der gesamte deutsche Wohlstand auf der Arbeit und der Existenz dieser Menschen aufbaut. Ganze Branchen würden einfach aufhören zu funktionieren, wenn diese Menschen nicht mehr da wären – egal, ob sie als Arbeitsmigranten aus EU-Ländern kommen oder als Flüchtlinge schon im Land leben und sich – da ihre Qualifikationen oft nicht anerkannt werden – dann in den Niedriglohnbranchen verdingen.

Wo sie ganz offensichtlich für die große, polternde Politik unsichtbar werden. Und so macht Lübbe eben etwas, was seit Wallraff eigentlich ein Hauptarbeitsfeld für Journalisten sein sollte: Er geht zu denen, die sonst keiner sieht oder sehen will. Und leuchtet in die Grauzone unseres Wohlstands hinein, von dem wir alle profitieren – und sei es nur durch die billigen Angebote im Discounter, die ohne diese „Billigarbeiter“ nicht so billig wären. Das ganze Buch ist eine einzige Anregung, über die Basis unseres Wohlstands nachzudenken. Und über die Menschen, die unter ganz und gar nicht sicheren Bedingungen diesen Wohlstand erst ermöglichen.

Und natürlich stellt Lübbe auch Leuten, die sich mit dem Thema auskennen, die Frage danach, wie sich das alles ändern kann. Ob es einen Silberstreif am Horizont gibt oder ob alle Bemühungen des Gesetzgebers, die Lage dieser Menschen zu verbessern, an schlichten wirtschaftlichen Realitäten scheitern. Lösungsansätze gibt es längst. Und wahrscheinlich wächst auch gerade der Druck, diese unaushaltbaren Zustände tatsächlich zu ändern.

Was eine Menge mit der Frage zu tun hat, ob Deutschland endlich versteht, dass es ein Einwanderungsland ist – und zwar schon seit Jahrzehnten. Und dass der ganze gepriesene Wohlstand auf der Arbeit von Menschen beruht, die die ganzen „billigen“ Jobs machen, ohne die das Land nicht funktioniert.

Sascha Lübbe „Ganz unten im System“ Hirzel Verlag, Stuttgart 2024, 22 Euro.

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