Wir leben in einer Zeit, in der das Täuschen, Tricksen, Lügen allgegenwärtig ist. Meinungen werden als Wahrheit verkauft, Plagiate als Original, geistiges Eigentum wird schamlos geklaut, falsche Enkel bestehlen alte Leute. „Es wird gesampelt, recycelt und geklaut, was das Zeug hält“, schreibt Wolf Lotter. „Mit gerechter Teilhabe, wie oft behauptet wird, hat das nichts zu tun.“ Das hat auch mit dem Bild zu tun, das wir von uns haben. Und mancher wird arg ins Schwimmen kommen bei der Frage: Bist du echt?

Der Kommunikationswissenschaftler und Wirtschaftsjournalist Wolf Lotter holt weit aus. Denn wer nicht sieht, wie sehr das Klauen, Faken, Fälschen längst zum Kern unserer Gesellschaft geworden ist, der versteht das Ausmaß dieser Entwicklung nicht. Und der versteht auch nicht, wie sehr das in unseren Alltag und unser Bild eingreift, das wir von uns selbst haben wollen.

Denn in einer Welt, in der permanent geclont, gestylt, gefiltert wird, gerät das Unverwechselbare und Eigene bald ins Hintertreffen, passt nicht mehr, wird nicht mehr akzeptiert, weil es nicht zum Genormten und Schönheitsoperierten passt.

Der schöne, falsche Schein

Viele von uns sind tagaus, tagein damit beschäftigt, den (falschen) Bildern zu genügen, die die Gesellschaft durchfressen und überall gleich machen – gleich langweilig, gleich inhaltslos, gleich verlogen. Der „schöne Schein“ bestimmt das, was wir sein sollen. Aber was sind wir dann eigentlich noch? Nicht nur als Person, die in falsche Rollen schlüpft, weil sie nur so den (falschen) Erwartungen genügt, sondern auch als einst erfolgreiche Erfinder- und Denkernation?

Natürlich geht es auch um Wissenschaft und Erfindergeist, beide nicht zu haben ohne selbstständige Geister und die wichtigste Zutat eigenständigen Denkens: fundiertem (und sachkundigem) Zweifel. Nicht zu verwechseln mit dem Gemaule der sogenannten „Querdenker“, die ihr Querulantentum für eigenständiges Denken halten.

Erstaunlich: Man landet immer wieder bei Kant, auch wenn es Lotter gar nicht um Kant geht. Aber trotzdem um den zentralen Aspekt Kantschen Denkens: die Befähigung und den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Und eben nicht von anderen abzuschreiben, gedankenlos nachzuplappern, jeden Mist aus den „Social Media“ zu glauben oder sich feige wegzuducken, wenn echte Arbeit verlangt ist.

Auch in der Politik, die Lotter natürlich nicht ungeschoren davonkommen lässt, denn zum Tricksen und Täuschen gehört es auch, Reformen zu versprechen, die nichts als Placebo sind. So wie die vielen „Rentenreformen“ in Deutschland, wo mehrere konservative Regierungen nun bewiesen haben, dass man auch regieren kann, ohne ein einziges Problem zu lösen. Das darf man durchaus Fake-Politik nennen.

Die die Deutschen aber augenscheinlich zu lieben scheinen. Was wohl eine Menge mit dem Dunning-Kruger-Effekt zu tun hat, dem Lotter etliche Seiten widmet, weil dieser Effekt sehr gut erklärt, warum inkompetente Leute nicht nur mit aller Macht in Führungspositionen drängen, sondern auch noch gewählt werden und das Volk begeistern. Denn auch die Maßstäbe für Kompetenz verwischen natürlich, wenn man mit Tricksen und Täuschen Kompetenz vorspiegeln kann. Das lernen ja alle schon in der Schule, wo man nicht mal begreifen muss, was einem da vorgesetzt wird – nur auswendig lernen.

Die gefragten Kopierer

Das aber hat nichts mit Kants Anspruch zu tun, der sehr genau wusste, wie wichtig das kritische Denken ist, um den Selbsttäuschungen über die Wirklichkeit zu entgehen, die Realität so zu sehen, wie sie wahrscheinlich ist. Wohl wissend, dass Wissenschaft nur mit immer neuen Fragen und Hinterfragungen dem immer näher kommt, was wirklich unsere Realität ist. Wer die Wissenschaften schlankweg infrage stellt, macht eigentlich schon offenkundig, dass er nichts begriffen hat und auch nichts begreifen will. Auch ganze Parteien können unter dem Dunning-Kruger-Effekt leiden. Da wird er dann nämlich zu Herdentrieb und Konformismus.

Und das steckt tief im Wesen unserer Gesellschaft. Oder mit Lotters Worten: „Es sind Menschen, die nur tun, was man ihnen gesagt hat – Befehle ausführen und ‘ihre Arbeit machen’. Ob wir wollen oder nicht, es ist überdeutlich: Diese Art von Mitarbeitern ist die, die nachgefragt ist. Es sind Leute, die Routinearbeit erledigen, nachmachen, also Prozesse, die ihnen vorgegeben werden, ausführen und damit kopieren.“

Die also genau das ein Leben lang machen, was ihnen in der Schule beigebracht wurde. Und dafür werden sie hoch bezahlt. Sie sind der Kitt einer Hierarchie, in der das Kopieren alter Muster zur Norm geworden ist. Und so ganz nebenbei längst die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands demoliert.

Denn mit Plagiaten – auch wenn es aufgehübschte Selbst-Plagiate sind, kann man zwar noch eine Weile überleben, unterliegt dann aber gnadenlos allen Wettbewerbern, die ihrer Kreativität und ihrem Einfallsreichtum freien Lauf gelassen haben. Die sogar extra darein investiert haben.

Anders als Deutschland, wo das große Gleichmachen längst zur Norm geworden ist, egal, ob in der Schule, in der Verwaltung oder an den Hochschulen, wo die Bologna-Reform dafür gesorgt hat, dass auch noch das kreativste Fach verschult wurde. Mit fatalen Ergebnissen. Eins davon – wie Lotter zurecht feststellt – ist das Aussieben von wirklich eigenständigen Denkern, die das bisher Gelehrte infrage stellen. Und es ist die Tatsache, dass wirklich kreative Berufe längst zu den schlecht bezahltesten in Deutschland gehören.

Bunte Einfallslosigkeit

Natürlich gewinnen in so einem Land, wo die Menschen die Verachtung für echte Querköpfe verinnerlicht haben, Parteien die Wahlen, die das Alte und Gestrige zu konservieren versprechen. Ein Motto, das sie alle auf ihre Wahlplakate schreiben könnten, dürfte lauten: „Hört auf zu denken. Das lohnt sich mit uns nicht.“

Da kann es durchaus bunt aussehen, weil sich alle die gefälschten Billigteile aus dem Laden leisten können. Aber was sie sich nicht mehr leisten können, sind wirkliche Originale.

Die Wohnungen und Eigenheime sind vollgestopft mit billigem, nachgemachtem Plunder. Auf einmal bekommt der alte Adorno-Satz aus „Minima Moralia“ eine ganz neue Bedeutung, die aber dem, was Adorno meinte, viel näher kommt: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Was natürlich dazu einlädt, Adorno auch mal zu lesen und zu verstehen, was er eigentlich mit „richtigem Leben“ meinte. Es ist nämlich dieselbe Themenstellung, mit der sich Lotter in diesem Essay befasst.

Denn wer sich manipulieren lässt, der lebt ein falsches Leben – nämlich eins nach den Vorstellungen anderer Leute, die meist gar nichts anderes wollen, als ihre Talmi-Produkte loszuwerden und den Menschen zum gedankenlosen Konsumenten zu machen (was eben leider längst auch auf das PR-Produkt Politik zutrifft). Diese Art Fake-Politik lebt – fast hätte ich geschrieben „vom Opportunismus“ der Wähler.

Aber Lotter merkt auch bereichtigterweise an, dass der Opportunismus längst ins falsche Licht geraten ist und stattdessen eher von Konformismus gesprochen werden müsste. Die Leute tun eben nicht, was opportun ist – also in der Situation sinnvoll und geeignet, sondern sie verhalten sich konform, passen sich der Menge und den Erwartungen an. Das ist ein Unterschied.

Und da kommt man eben zu – gefälschtem, verkleidetem, maskiertem menschlichen Verhalten, in dem es eben gerade nicht darum geht, ein reales Bild von sich zu zeigen, sondern ein erfundenes. Zu Menschen, die einem nur noch die Maske zeigen. Denen man aber nicht vertrauen kann, weil nichts an ihnen echt ist.

Die Verachtung der Dogmatiker für das Echte

Was nicht nur ein deutsches Phänomen ist. Aber ein brandgefährliches, weil es die Missgunst gegen alles schürt, was nicht „ins Bild“ passt, den verlogenen Standards nicht genügt. „Wir erleben heute die Wiedervorlage der Alternativlosen, die das Modell der Toleranz, Vielfalt, Aufklärung verachten“, schreibt Lotter.

„Diktatoren wie Russlands Putin, Chinas Xi und eine Vielzahl ihrer Trabanten und Gesinnungsfreunde auf der Welt stehen einer vergleichsweise kleinen demokratischen Gemeinschaft gegenüber, die noch dazu im eigenen Land von Dogmatikern und Extremisten unter Druck gesetzt wird. Poppers Echtheitsliebe war nie so einsam wie heute – und deshalb so wichtig.“

Denn all diese dogmatischen Bewegungen leben davon, dass sie falsche Konstrukte für das Maß aller Dinge erklären – und jeden, der nicht in ihr Bild vom „homogenen Volk“ passt, bekämpfen, aussperren, diskriminieren. Sie hassen Vielfalt. Und sie hassen Kritik und Eigensinn.

Die Aufklärung sowieso. Und das läuft eben leider Hand in Hand mit dem Denken der Manager in den westlichen Konzernen, die schon lange nicht mehr mit Neuerungen und umwälzend neuen Produkten glänzen, sondern sich in der Plagiierung des „Altbewährten“ verschleißen und nicht wahrhaben wollen, das die einst erfolgreichen Konzerne Stück um Stück an Boden und den Anschluss verlieren.

Lotter wird zu diesem konformistischen Verhalten sehr deutlich: „Unsere Partner in Fernost haben schnell erkannt, dass die Westler ihr Kapital nicht schätzen. Die westliche Industriegesellschaft hält Werte wie Fleiß, Eifer, Tüchtigkeit, Schnelligkeit, Stärke und Masse hoch. Geistiges hingegen ist suspekt – Gedöns.“

Und auf einmal merkt man, wo die bekloppte „Werte“-Diskussion der konservativen Parteien herkommt: Es ist die Feier des oberflächliche Klimbims von gestern, während man das tatsächliche Kapital, das man braucht, um im Wettbewerb erfolgreich zu sein, vergrault – mit einer besoffenen Migrationspolitik, allgegenwärtigem Rassismus und Wissenschaftsverachtung. Nur ja nichts wagen und ausprobieren. Wo kämen wir da hin?

Verlogene Mythen

Wahrscheinlich kämen wir zu einer besseren Sicht auf die Wirklichkeit und zu wirklich sinnvollen Lösungsvorschlägen. Und einem Hinterfragen all der Mythen, mit denen wir ganz öffentlich und offiziell verdummt werden. „Lügen sind durchschaubar, wenn wir hinterfragen und den Kontext von Behauptungen herstellen“, schreibt Lotter. „Mythen hingegen bedienen sich in unserer Kultur und den darin angelegten Vorurteilen. Sie bringen uns dazu, in die falsche Richtung zu sehen und zu laufen.“

Und letztlich sind wir es dann selbst, die sich „undank des Mythos in die eigene Tasche lügen.“

Man merkt es ganz schnell, dass Lotter es beim Falschen eben nicht nur bei gefälschten Produkten aus Fernost, gefälschten Meisterwerken, nachgemachten Markenprodukten, falschen Doktortiteln und der Bereitschaft der Konsumenten belässt, sich von Lug und Trug verführen zu lassen.

Denn wenn so etwas im alltäglichen Erleben wuchert, dann zerfrisst es auch andere Bereiche der Gesellschaft, beginnen Menschen ihr eigenes Auftreten zu fälschen, verlernen andere, den Lug und Trug zu durchschauen und wird Plagiieren und Klauen geradezu zum Volkssport. Motto: Ist ja alles schon bezahlt. Oder rechtens, weil das auch große Konzerne tun.

Nur bekommen die Schöpfer der Dinge, die sich anfangs wirklich einen Kopf gemacht haben, in der Regel nur Peanuts – wenn ihr geistiges Eigentum nicht schon vorher geklaut wurde, weil die Haltung verbreitet ist, dass man geistiges Eigentum einfach nehmen darf, wenn es irgendwo auftaucht.

Die Angst vor den eigenen Kopien

Und gleichzeitig schüren andere Leute die Angst vor KI und Robotern und verbreiten die Behauptung, die von Menschen geschaffenen Kopien könnten ihn eines Tages überflüssig machen. Ein Punkt, an dem endgültig die Frage steht: Was ist eigentlich echt an uns? Warum glauben einige Bastler tatsächlich, dass sie den Menschen kopieren können, obwohl sie über das Imitieren einfach nicht hinauskommen?

Was sehr wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass auch die Plagiatoren nicht verstehen, wie sie selbst in falschen Bildern leben und diese für die Wirklichkeit halten. Obwohl das Menschsein mitnichten mit dem zusammenfällt, was einem die Public Relations und die Propaganda als Menschen-Bild einzureden versuchen. Denn diese brauchen den Talmi-Menschen, den Klappehalter und Mitläufer.

Und nichts ist ihnen ärgerlicher als er Mensch, der in seinem Leben tatsäcglich auf die Spur geht, sich in seinem eigenen, selbstgestalteten Dasein als schaffender und originaler Mensch zu entfalten. Also ein echtes Lebe zu führen und keins aus Versatzstücken fremden Erwartungen.

Es könnte also auf der ganz persönlichen Ebene bleiben. Aber tatsächlich zeigt Lotter eben auch, wie die Herrschaft der Plagiate und Fälschungen die ganze Gesellschaft durchdringt. Und dabei immer wieder falsche Bilder von dem produziert, was tatsächlich vor sich geht. Und wer wir wirklich sind.

Ob das, was wir tun und erleben, tatsächlich echt ist. Oder doch nur Kostüm und Rolle und weit von dem entfernt, was wir leben würden, wenn wir nicht immerfort nach anderer Leute Vorstellungen agieren würden.

Wolf Lotter „Echt“ Econ Verlag, Berlin 2024, 22,99 Euro.

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