In Diktaturen blüht der Schelmenroman. Denn in der Figur des Schelmes, Narren, Eulenspiegels lässt sich die Wahrheit erzählen, die die Wächter der Sprache dort ärgert, wo sie das Denken und Sprechen im Land zensieren wollen. Und diese Tradition endete nicht 1990. Denn selbst in der Rückschau wurde für viele Autoren deutlich, dass die Schizophrenie im überwachten Ländchen tatsächlich nur mit der Haltung eines Eulenspiegels zu durchleben war. Und auch Dieter Kalkas Roman über diese Zeit wurde so zu einem Schelmenroman.
Und einem Erzählen in Sprachlust, auch davon leben Schelmenromane. Auch dann, wenn es darin am Ende tragisch zugeht. So wie in „Das Bandoneon des Kulturministers“. Aber auch das gehört zum Schelmenroman: Dicht neben dem Schabernack passiert das Leben. Und das kann auch ganz ohne Überwacher zeigen, dass unser größte Glück immer gefährdet ist. Ein Anruf kann es beenden, kann dem Leben des Helden – den Dieter Kalka Hans Hjobkowski genannt hat – einfach so im Moment des größten Erfolges einfach so den Boden entziehen.
Der Eulenspiegel weiß um die möglichen Abstürze – und steht trotzdem immer wieder auf und reißt seine Witze. Auch wenn Hjobkowski eher selbst kein Eulenspiegel ist, eher genau das, was der Autor Dieter Kalka für viele Wegbegleiter selbst war: der „Rebell der Leipziger Liederszene“ (Harald Pfeifer), eine Szene, die selbst schon rebellisch war.
Das wird gern vergessen, dass Liedermacher wie Kalka wesentlich zu jenem Rumoren beitrugen, das den Leipziger Herbst von 1989 vorbereitete – und die Stasi-Überwacher auf Trab hielt, die in seinem Roman auch eine Rolle spielen, hübsch in trauter Eintracht mit einem Kulturfunktionär, den Kalka kurzerhand Linkerhand genannt hat und der am Ende auch nach der „Wende“ noch weiter Karriere macht.
Eine Art Luzifer (auch wenn ihn Kalka im Bild das Altenburger-Skatspiels gern als Lusche bezeichnet), der den an seinen eigenen musikalischen Fähigkeiten immerzu zweifelnden Barden die ganze Zeit begleitet und ihm das Leben schwer macht.
Auf keinen Fall kleinkriegen lassen
Dabei erzählt Kalka auch eine für rebellische Geister exemplarische Geschichte, die man unter der schelmischen Sprachfreude und den manchmal völlig entgleitenden Partys seiner Protagonisten nicht übersehen kann.
Es ist eine Geschichte voller Trauer und Wehmut, die die Zeiten verknüpft, wenn Hjobkowski nach seiner mehr oder weniger erzwungenen Flucht aus der Altenburger Provinz über der Brodyer Synagoge in der Keilstraße 4 (wo einst auch Kalka einen geschützten Ort fand) von Tewel Honigman gastlich aufgenommen wird. Denn ohne solche freundlichen Helfer waren auch Rebellen schutzlos im überwachten Ländchen Tätärätä, wie Honigman dieses eingemauerte Ländchen nennt.
Mit dem russischen Konsul Tschinginski bekommen Hjobkowski und seine Freunde noch einen weiteren Beschützer. Das waren noch Zeiten, als die Russen im Ländchen tatsächlich einmal für kurze Zeit als Freunde und Beschützer galten, denen auch die allmächtige Stasi nichts konnte. Auch wenn Kalka seine Geschichte lustvoll überzeichnet und die Dinge zum Tanzen bringt und man nicht unbedingt die tatsächlichen Ereignisse der damaligen Leipziger Zeit identifizieren kann: Es ist ja keine Dokumentation. Und in der Überzeichnung liegt die Wahrheit.
Genau so, wie in der Heldengeschichte auch die Erinnerung an bittere Verluste steckt. Kalkas Held überspielt das meistens, lässt sich nicht anmerken, wie tief ihn auch die sogenannten Zersetzungsmaßnahmen der Stasi getroffen haben – körperlich versehrt sowieso, sodass er jahrelang weder Gitarre noch sein geliebtes Bandoneon spielen kann (das ihm finstere Gesellen auch noch gestohlen haben).
Es ist freilich nicht das Bandoneon des Kulturministers, das sich Hjobkowski ganz bestimmt nicht schenken lassen wollte. Sehr wohl spürend, dass die Mächtigen selbst solche Gesten als Verfügbarkeit und Käuflichkeit interpretieren könnten. Selbst wenn sie einem freundlich begegnen und einem Fernsehauftritte versprechen: Dahinter steckt immer Kalkül.
Sänger ohne Publikum
Und wer so freche und ganz offenkundig verbotswürdige Lieder schreibt und singt wie dieser Hjobkowski, der weiß auch, wie schnell man sich auf die Zunge tritt, wenn man sich von den Versprechen der Mächtigen einwickeln lässt. Oder gar zum Verräter wird, wie es auch aus der so rebellischen Liederszene einige wurden, deren Leben nach 1990 dann zumeist tragisch endete.
Eine Zeit übrigens, die auch Hjobkowski in tiefe Krisen stürzt. Denn der Sieg der Friedliche Revolution bedeutete nun einmal auch, dass mit einem Schlag auch das Publikum weg war, das eben noch begeistert den frechen Strophen des Sängers lauschte. Auf einmal brauchte das Land dieses Ventil nicht mehr, das immer auch ein die bevormundete Seele befreiendes war.
Auch so etwas vergisst man schnell. Wo nichts mehr verboten ist, hört auch niemand mehr den Schelmen zu. Und auch Hjobkowski überlegt jetzt verzweifelt, ob er nicht doch in eine stinkbürgerliches Existenz wechseln und einfach das Leben mit Deborah, der Enkelin von Honigman genießen sollte, mit der er fantastische Stunden erlebt hat. Eben die unvergleichliche Nähe, die man tatsächlich nur erlebt, wenn man einen Menschen findet, dem man sich völlig öffnen kann.
Denn schon als die Menschen voller Begeisterung um den Ring marschieren und dem Treiben in der Runden Ecke ein Ende bereiten, ahnen Hjobkowski und seine Musikerfreunde, dass jetzt eine Zeit anbricht, in der die Sieger von eben erst so richtig durch die Mangel gedreht werden würden: „Auf dem Ring um die Innenstadt Abertausende voller Hoffnung, Mut und Wut.
Was sie erreicht hatten, war viel. Aber noch nicht einmal ein Anfang. Sie hatten den Kaiser zum zweiten Mal vom Thron gestürzt. Was ihnen bevorstand, war ein widerlicher Kapitalismus, ungebremst und rücksichtslos und die Ahnungslosen in ihrer Ahnungslosigkeit liefen ihm mit Begeisterung in die Arme. Schon lauerte er hinter der Hausecke als kleiner Beelzebub, der bald ausgewachsen sein wird und Saumagen in unvorstellbaren Mengen vertilgen wird.“
Lebensfreude in bleiernen Zeiten
Es ist nicht nur der Bandoneonspieler, der jetzt vor der Frage steht, was er machen soll. So geht es der ganzen kritischen Kulturszene des kleinen Ländchens – eben noch geschurigelt und verfolgt – und nun auf einmal nicht mehr gefragt. Oder muss sie sich nur anders vermarkten lernen, weil die ganze Spiellandschaft der Klubs und Kulturhäuser wegbricht?
Auch das ein Aspekt der Realität, der alle Ostdeutschen 1990 einholte. Auch die Schelme und Rebellen. Wobei gerade der furiose erste Teil des Buches auch zeigt, dass die Szene der Liedermacher und Bands nicht nur ein Ventil war, sondern ein Ort, an dem tatsächlich die Lebensfreude tanzte, Publikum und Sänger aufblühen durften und das reale Leben sang. Und singbar war. Das hat manch einem über diese bleiernen Zeiten geholfen, die auch Kalka in den 1980er Jahren als Zeit des Stillstands erlebte. Als wäre das ganze Leben eingefroren.
Als ginge jetzt gar nichts mehr. Aber Sänger wie Hjobkowski ließen ihr Publikum eben auch erleben, dass unter der bleischweren Oberfläche dennoch der Widerspruch lebendig war, der Wille, die Dinge beim Namen zu nennen und mit Witz und Spiellust lächerlich zu machen.
Denn wer lächerlich ist, der verliert Autorität, der hat weniger Macht über die Köpfe, auch dann, wenn er draußen vor der Kirche mit lauter unauffälligen Männern in Mänteln und mit Mannschaftstransportwagen steht, um die Ungehorsamen abzutransportieren.
Und das alles schildert Kalka eben aus der Sicht eines alter ego, der sich auch im Nachhinein noch das Recht nimmt, sich als Schelm und Rebell zu zeigen in einem Land, das sich auf ein „unerträgliches Mittelmaß“ heruntergerechnet hatte. Eine fast beiläufig eingestreute Formel, die im Grunde beschreibt, wohin ein falsch verstandenes Gleichheitsdenken führt und ein Staatsdenken, das jede Abweichung von der Norm mit der Gartenschere bearbeitete. Oder eben mit gewalttätigen Typen, die es sich zur Berufung gemacht haben, Menschen zu schikanieren und zu brechen.
Wider den Stachel
Eigentlich wünscht man sich da mit Hjobkowski jenen Moment der Erlösung, der einem Geschundenen nach all den Kämpfen endlich Befreiung verschafft. Eine Belohnung fürs Aus- und Durchhalten. Aber die gab es 1990 eben nicht. Sodass eine Menge von diesem einst jungen rebellischen Geist auch heute noch lebt und sich hier in einem sprachlich satten und lebendigen Roman entfaltet, in dem Kalka ein Stück seiner Lebensgeschichte erzählt – stilistisch zugespitzt und schelmisch überspitzt.
Mit Der Folge, dass man mit ihm tatsächlich noch einmal eintauchen kann in diese turbulenten Gefühlswelten, die zumindest all jene kannten, die sich nicht aufgegeben hatten, sondern nicht anders konnten, als wider den Stachel zu löcken und das Menschliche einzufordern in einem Land, das in Schablonen und falschen „Weltanschauungen“ erstarrt war.
Ein Buch, das auch in den frühen 1990er Jahren seinen Platz hätte finden können. Aber manchmal braucht auch ein Autor Zeit für seine Geschichte, gerade wenn sie ans Eingemachte geht und einem das Lachen zuweilen in Hals stecken bleiben möchte. Oder gar am Ende dann doch die Tragik des Lebens steht, das immer zu kurz ist und uns die geliebten Menschen entreißt, gerade dann, wenn wir glauben, endlich das Schlimmste hinter uns gelassen zu haben.
Zumindest lässt Kalka seinen Roman so enden. Aber vielleicht muss er auch so enden. Auch Eulenspiegel können nicht damit rechnen, dass es am Ende gut ausgeht. Sie lachen trotzdem und lassen sich nichts gefallen. Und geben gerade deshalb anderen den Mut, den Kopf nicht hängenzulassen, wenn ‘s mal wieder frustrierend wird. Dann hilft nur ein befreiendes Lachen. Und die Lust an wirklich derben und herzerfrischenden Liedern.
Dieter Kalka „Das Bandoneon des Kulturministers“ MAkademische Verlagsbuchhandlung Friedrich Mauke, Jena 2024, 29,90 Euro.
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