Der Hohai ist ein See in Peking, sogar im alten Peking, wo noch nicht die Hochhausquartiere dominieren und sogar Platz ist fรผr Menschen, die ihren Traum von einem der Kunst gewidmeten Leben verwirklichen mรถchten. So ganz zufรคllig landet der Kรถlner Kรผnstler Heinrich Brecher hier nicht, der sich mit seiner Ankunft in Peking fortan Mo nennt. Guido Perings Roman ist ein bisschen mehr als nur ein Kรผnstlerroman.

Auch wenn es nicht nur Mo und seiner Freundin Ye Yang um die Suche nach dem richtigen Weg geht, ihre kรผnstlerischen Ambitionen Wirklichkeit werden zu lassen. Romane sind auch wie Kunstwerke, ziemlich groรŸe sogar. Und sie sind genauso widerspenstig wie Leinwรคnde. Und am Ende erzรคhlen sie von Dingen, die der Autor eigentlich gar nicht erzรคhlen wollte. So wie es auch Malern und Bildhauern ergeht. Man kann zwar die Techniken lernen und die ganze Kunstgeschichte studieren. Man kann Galerien besuchen und alles im Internet lesen, was zur modernen Kunstszene zu finden ist.

Aber was dann tatsรคchlich unter den eigenen Hรคnden entsteht, das weiรŸ niemand, der sich wirklich auf kรผnstlerisches Arbeiten einlรคsst. Oder er scheitert, wie das fรผr so ungefรคhr 90 Prozent dessen zutrifft, was einem als Kunst dargeboten oder als Roman verkauft wird. Sogar als Bestseller.

Dies hier ist natรผrlich (noch) kein Bestseller. Dazu ist der EINBUCH-Verlag zu klein und das deutsche Feuilleton zu abgehoben und zu sehr konzentriert auf die รผblichen Namen und Attitรผden. Pering hat nicht nur Peking schon mehrfach besucht. Ihn faszinieren besonders โ€ždie Kraft und Vielfรคltigkeit der Kunst und ihrer Schaffensprozesseโ€œ, sagt er von sich selber aus.

Die Krise des Heinrich Brecher

Aber tatsรคchlich ist sein Roman die Geschichte einer Lebenskrise. Vielleicht sogar die einer Weltenkrise. Denn schon bei seiner ersten Ankunft ist Heinrich Brecher eigentlich auf der Flucht. Dafรผr steht nicht nur sein inniger Wunsch, sich mitten im alten Peking einzuquartieren und hier einen neuen Zugang zu seinem eigenen Kunstschaffen zu finden.

Der Name, den er sich zulegt, steht genauso fรผr diesen Neuanfang wie fรผr den tief sitzenden (und nicht wirklich eingestandenen) Wunsch, mit dem alten Leben grรผndlich Schluss zu machen. Was das wirklich bedeutet, weiรŸ er noch nicht, findet aber erstaunlich schnell Kontakt und Menschen, die diesen von sich eingenommenen Europรคer doch irgendwie zu schรคtzen lernen โ€“ so sehr, dass er, als er nach sieben Monaten รผberstรผrzt wieder abreist, ein regelrechtes Loch hinterlรคsst.

Nicht nur bei Ye Yang, die er in der Galerie des alten Zhang kennengelernt hat und die selbst verblรผfft ist, dass sie sich auf diesen besessenen Kรผnstler einlรคsst. Ein kleiner Freundeskreis ist um ihn gewachsen, etwas, was er so bisher nicht kannte.

In Kรถln hat er im Grunde nur seine Eigentumswohnung und seine Konten zurรผckgelassen. Er hat von seinen Eltern ein kleines Vermรถgen geerbt, ist also als Kรผnstler so frei, tatsรคchlich nur das zu machen, was ihm wesentlich erscheint. Was nicht heiรŸt, dass es auf der Hand lรคge. Doch dieses Peking, das er sich auf weiten Spaziergรคngen erschlieรŸt, nimmt ihn in Bann, lรคsst ihn tatsรคchlich Stรผck fรผr Stรผck wieder die Lust am Malen und Gestalten von Collagen finden.

Rรผckkehr und Absturz

Und trotzdem bricht er auf, als sein Notar in Deutschland meint, es gรคbe mal wieder ein paar Dinge zu klรคren. Aus der kurzen Rรผckkehr wird ein langer Aufenthalt in einer Stadt, in der sich โ€“ aus seiner Sicht โ€“ nichts geรคndert hat. Er mietet sich wieder ein Atelier und versucht zu malen. Aber die Rรผckkehr endet fรผr ihn in einem regelrechten Absturz. Das, wovor er geflohen ist, holt ihn wieder ein.

Und das kann man durchaus doppelt lesen, den Pering gestaltet es sehr atmosphรคrisch. Dieser Heimgekehrte leidet nicht nur darunter, dass ihm hier auf einmal nichts gelingen will. Er leidet auch unter der eisigen, letztlich herzlosen Stimmung in diesem Land und in dieser Stadt. Als hรคtte dieses Land, das die Chinesen aus der Ferne so bewundern, seine Herzlichkeit und Wรคrme schon vor langer Zeit verloren, wรคre in Gleichgรผltigkeit und Ambitionslosigkeit versunken, behรคbig und dumm geworden in seinem eingebildeten Reichtum.

Der eigentlich keiner ist, wenn daraus keine menschliche Nรคhe erwรคchst. Dieser Nรคhe findet er in Carlsson, die im Haus gegenรผber lebt und die ihn vorm Erfrieren (in des Wortes doppelter Bedeutung) bewahrt. Auch sie eine, die sich nicht arriviert hat in diesem Land, in dem alles erstarrt und leer geworden zu sein scheint. Sie lebt lieber von der Hand in den Mund und versammelt ebenso lebendige Seelen um sich.

Und am Ende ist sie es, die Heinrich Brecher aus seiner tiefen Verlassenheit holt. Zwei Seelen begegnen sich, verstehen sich und nehmen sich an der Hand. Und gleichzeitig fรผhlt man sich als Leser in diesem tristen, leeren Kรถln genauso unbehaglich. Als wรผrde einem die schรคbige und sinnlos gewordene Seite dieses Deutschlands gezeigt, das sich in seiner Oberflรคchlichkeit eingerichtet hat und Menschen wie Brecher nur noch deprimiert. Sodass natรผrlich die Sinnfrage auftaucht โ€“ die Stadt betreffend, das Leben, aber auch die Kunst.

Die Wurzeln des Lebendigseins

Und eine tiefe Angst kommt hinzu, die Brecher bislang als Teil seiner Auftritte gepflegt hat: wirkliche Nรคhe zuzulassen und Menschen, Frauen insbesondere, tatsรคchlich nahe kommen zu lassen. Auch das spielte eine Rolle bei seinem schnellen Aufbruch in Peking. Und es wirft ihn im nassen und kalten Kรถln in einen unlรถsbaren Konflikt. Vielleicht sind es am Ende ja tatsรคchlich die Bemรผhungen seiner Freunde, die ihn dazu bewegen, doch wieder ins Flugzeug zu steigen und sich auf das ferne Peking einzulassen. Eine Stadt, die ihn viel stรคrker in ihren Bann geschlagen hat als das verschlossene Kรถln. Und nur am Rand spielt die Politik eine Rolle.

Auch das ein Romanmotiv, das davon erzรคhlt, dass es im Leben nicht um die Mรคchtigen geht, auch in der Kunst nicht, sondern immer um das konkrete Da-Sein und die konkreten Menschen, denen man begegnet. Und manchmal muss man wohl tausende Kilometer weit fliegen, um diese Menschen zu finden und das Gefรผhl zu finden, das Brecher alias Mo so intensiv sucht: verstanden zu werden in dem, was man tut.

Und damit endlich so etwas wie einen festen Boden unter den FรผรŸen zu bekommen und wieder Mut zu fassen, die Dinge zu tun, die einem wirklich wichtig sind. Und die dann andere โ€“ vielleicht โ€“ wieder berรผhren. So wie gute Kunst die Betrachter berรผhrt, auch wenn sie oft nicht wissen, wie der Kรผnstler es gemacht hat. So wie es selbst der fast legendรคre Wolkensturm nicht weiรŸ, der durch die Ereignisse um Zhangs kleine Galerie aus seiner jahrelangen Einsamkeit herausgerissen wird.

Er hat zwar einen Weg fรผr sich gefunden, in der selbstgewรคhlten Anonymitรคt die Kunst entstehen zu lassen, die er fรผr gรผltig hรคlt. Aber diese mรถnchische Einsamkeit ist eben doch nicht alles, was ein erfรผlltes Kรผnstlerleben ausmacht.

Zeit und Gelassenheit

Im Grunde ist Wolkensturm wie der lebendige Widerspruch zu Mo, der auch nach seiner Rรผckkehr nach Peking mit dem hadert, was er auf die Leinwand bringt. Aber es ist auch, als wรผrden all die Gewichte, die Mo in Kรถln zu Boden gezogen haben, langsam von ihm abfallen. Als wรผrde er wieder Kontur bekommen als lebendiger, wenn auch ein bisschen sprรถder Mensch. Kontur, die einem letztlich nur die Menschen geben kรถnnen, die einen tatsรคchlich ins Herz geschlossen haben und so haben wollen, wie man ist.

So gesehen ist das ganz gewiss auch ein sehr persรถnlicher und berรผhrender Roman. Einer, der davon erzรคhlt, wie schnell wir uns verloren gehen, wenn wir die Wurzeln verlieren, die uns mit anderen Menschen und Orten verbinden. Und das schimmert auch in allen Kommentaren der chinesischen Protagonistinnen durch, wenn sie das ferne Europa kommentieren: Sie haben sehr wohl gemerkt, dass die entgrenzte Selbstverwirklichung im Westen auch eine dunkle, sehr kalte Seite hat.

Auch deshalb ist Mo ja in Peking gelandet, in einer kleinen Welt, die selbst bedroht ist. Das wissen auch die Menschen, die den kleinen Kosmos um diesen eigensinnigen Deutschen bilden. Es gibt keine Garantie, dass die Orte, an denen Menschen ihre Heimatlosigkeit abstreifen kรถnnen, erhalten bleiben. Schon gar nicht in einer Welt, in der sich alles ums Geld und ums โ€žMachenโ€œ dreht.

Es steckt auch ein schรถnes Stรผck โ€žLassenโ€œ in der Geschichte. Am Ende macht Mo erst einmal eine schรถpferische Pause. Denn auch das hat er gelernt: Dass โ€žZeitโ€œ nicht das ist, was er da aus Europa mitgebracht hat, dieses drรคngende Gefรผhl, immerzu etwas machen zu mรผssen. Eher ist es das Geschenk, einfach einmal loslassen zu dรผrfen und schauen zu dรผrfen. Was davon dann zum Kunstwerk reift, das wird die Zeit dann zeigen. Aber erst einmal muss man wohl lernen, dass man diese Zeit hat. Und dass sie ein kostbares Geschenk ist.

Guido Pering โ€žAm Hohaiโ€œ EINBUCH Buch- und Literaturverlag Leipzig, Leipzig 2024, 17,40 Euro.

Empfohlen auf LZ

So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:

Ralf Julke รผber einen freien Fรถrderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar