Menschen entscheiden oft nicht rational. Sie lassen sich verfรผhren, glauben nur zu gern falschen Versprechungen, schรถnen Mรคrchen und Heilsversprechen. Und sie sind auch nur zu bereit, an die wildesten Legenden zu glauben, wenn es um Macht und Herrschaft geht. Es ist eine letztlich 10.000 Jahre alte Beziehung, die Alexander Rauch mit diesem Buch zu beleuchten versucht, auch wenn er sich vor allem auf Mythen der letzten 3.000 Jahre bezieht.

Die auch nicht alles Mythen sind. Der Begriff Mythos ist ein diffuser Begriff. Das versucht Rauch in seinem Buch auch ein wenig zu diskutieren.

Aber worum es tatsรคchlich geht, bringt der Wikipedia-Beitrag mit dieser Definition auf den Punkt: โ€žAnders als verwandte Erzรคhlformen wie Sage, Legende, Fabel oder Mรคrchen gilt ein Mythos (sofern dieser Begriff nicht in seiner umgekehrten Bedeutung als ideologische Falle oder Lรผgengeschichte verwendet wird) als eine Erzรคhlung, die Identitรคt, รผbergreifende Erklรคrungen, Lebenssinn und religiรถse Orientierung als eine weitgehend kohรคrente Art der Welterfahrung vermittelt.โ€œ

Es geht um Kohรคrenz, das Gefรผhl der Menschen, dass ihr Bild von der Welt mit der Wirklichkeit รผbereinstimmt. Dass alles, was sie erleben, auch begreifbar ist und sinnvoll. Nur bringen Machtgefรคlle immer Dissonanzen, Konflikte und Irritationen mit sich. Das war schon immer so.

Weshalb sich Menschen schon frรผh Geschichten ausgedacht haben รผber den Ursprung vom Macht und Herrschaft. Hier haben sรคmtliche Gรถtter ihren Ursprung, alle Religionen, sรคmtliche Rituale, mit denen Macht zelebriert wird.

Die Inszenierung von Macht

Alexander Rauchs Buch ist eine Reise in diese Welt โ€“ auch wenn die Grenzen flieรŸend sind. Nicht jedes Ritual ist mythisch zu deuten, nicht jeder Mythos lebt ewig. Manches, was tradiert wird, ist lรคngst seiner mythischen Deutung entledigt, wรคhrend anderes die Menschen weiterhin in ihren Bann schlรคgt, weil es irgendein heimeliges Gefรผhl in ihnen wachruft. Weshalb man einen Begriff eigentlich vermisst, auch wenn er im Kapitel zum โ€žbarocken Gesamtkunstwerkโ€œ und zum religiรถsen Theater anklingt: Inszenierung.

Das wird bei Rauchs schรถner Analyse zu den Elementen des Sonnenkรถnigtums um Ludwig XIV. deutlich: Macht lebt von der Inszenierung. Sie gibt den Beherrschten ein Bild von der โ€žOrdnung im Kosmosโ€œ. Und den Herrschenden ebenso. Die โ€“ jahrtausendelang als โ€žgottgegebenโ€œ verstandene โ€“ Ordnung legitimiert Macht. Und sie kaschiert die dunkle Seite der Macht: die Gewalt.

Ordnung heiรŸt immer auch Unterordnung. Titel, Orden und Uniformen erzรคhlen genau davon. Deswegen wurden Soldaten auch in Zeiten des Absolutismus prรคchtig ausstaffiert: Der Untertan wurde zum uniformierten Teil der Macht.

Man merkt auch bei Rauch: Nicht alles ist Mythos. Viele groรŸe Mythen der Macht sind lรคngst zur Legende geworden. Was auch mit dem Niedergang der Religionen zu tun hat, die jahrhundertelang Trรคger mythischer Weltvorstellungen waren, Stabilisatoren irdischer Machtverhรคltnisse. Umstรคnde, die dann โ€“ fรผr Europa โ€“ die Reformation genauso infrage stellte wie etwas spรคter die Aufklรคrung. Gerade letztere ganz zentral beschรคftigt damit, alte Mythen zu demontieren und der Rationalitรคt in Wissenschaft und Gesellschaft das Wort zu reden.

Populismus und Mythen

Was leider nicht das Ende mythischer Weltvorstellungen und Verfรผhrungen war. Die Verfรผhrer der Welt bewiesen ja danach, wie leicht es fรคllt, neue Machtverhรคltnisse mit neu erfundenen Mythen zu begrรผnden, fein gemixt mit alten Vorurteilen. Denn Mythen haben einen enormen politischen Vorteil: Sie geben den Leuten eine Matrix, wie sie die Welt begreifen kรถnnen. Ein simples, aber emotional aufgeladenes Bild.

Das erspart nicht nur die Mรผhe beim Erfassen einer hochkomplexen Wirklichkeit โ€“ es entlastet auch. Auch im Miteinander in der Gruppe. Denn Dissonanzern hรคlt der Mensch nicht aus. Er will geliebt und akzeptiert sein. Im gemeinsamen Glauben โ€“ woran auch immer โ€“ wird man eins. Weshalb heute nicht nur Kรผnstler (Genies) verehrt werden wie einst die Heiligen der rรถmischen Kirche, sondern auch Politiker. Die modernen Medien machen es mรถglich. Populismus ist ohne moderne Mythen nicht denkbar. Er lebt geradezu davon.

Und damit gibt er den Menschen etwas, was mit dem Verschwinden der Religionen scheinbar verloren gegangen ist.

Das ist nรคmlich die andere Seite dessen, was Alexander Rauch erzรคhlt: Dass Menschen verfรผhrbar sind durch Inszenierungen, dass sie โ€žverzaubertโ€œ werden wollen und mit der ruppigen Wirklichkeit gar nicht behelligt werden wollen. Das ist das Spielfeld fรผr die Verfรผhrer, die Narzissten und Populisten. Und genau hier werden alte Mythen zum Instrumentarium und immer wieder revitalisiert.

Was den Blick etwas verรคndert: Nicht Mythen schaffen die Vorstellungen des Menschen von der Welt, sondern Menschen erschaffen Mythen, um Macht zu inszenieren. Und dabei greifen sie auf all die Requisiten zurรผck, die vergangene Generationen sich zurechtgebastelt haben โ€“ Kronen, Altรคre, Throne, pompรถse Bauten, Orden, theatrale Rรคume.

Inszenierung im geschlossenen Raum

Es รผberrascht nicht, dass auch Wagner mit seinem โ€žGesamtkunstwerkโ€œ vorkommt in diesem Buch, mit seinen verdunkelten Rรคumen und dem versteckten Orchester. Die Inszenierung des Mythos bedingt den Ausschluss der Wirklichkeit. Er funktioniert nur im Raum seiner Inszenierung. Es gibt einige Stellen in Rauchs Reise durch die Mythen-Geschichte der Menschheit, die รผber den Mythos als sinnstiftende Geschichte hinausweisen und zeigen, dass Mythen vor allem Instrumente zur Inszenierung von Macht sind.

Oder mit den Worten Rauchs: โ€žGeschichte zeigt, Mythen wurden und werden immer wieder neu gebildet, nicht selten, um Macht zu generieren, รœberlegenheit und Unterdrรผckung zu legitimieren, Vorurteile zu festigen.โ€œ

Womit er sich selbst widerspricht, wenn er kurz zuvor schrieb, es wรคre der Mythos, โ€žder Tempel und Kathedralen gebaut hatโ€œ. Den auch seine Reise durch die Geschichte zeigt, dass es immer die Mรคchtigen waren, die sich Tempel und Kathedralen bauen lieรŸen, um diese dann zu Symbolen des Mythos zu machen. Gebaut haben sie sowieso andere, wie schon Brecht feststellte: โ€žWer baute das siebentorige Theben?โ€œ

Die Requisitenkiste der Geschichte

Die Mรคchtigen spannten die armen Teufel ein, um die riesigen Symbole der Macht aus dem Boden zu stampfen. Und Rauch nennt einige Reiche, in denen so Macht demonstrativ in bombastischen Tempeln zelebriert wurde โ€“ stets in Verbindung mit einem รœberlegenheits-Mythos, der die Herrschaft der gerade Mรคchtigen als gรถttlich, gottgegeben, โ€žhistorischโ€œ bemรคntelte und dabei jedes Mal tief in die Klamottenkiste der Geschichte griff.

Auch bei Wagner und den Nazis war das so, die ohne die alten germanischen Gรถtter- und Heldensagen gar nicht auskamen. Das wetterleuchtet heute noch im Wortbombast der neuen Vรถlkischen.

Da und dort deckt Rauch die Herkunft einiger Rituale und Symbole auf โ€“ bis hin zum wohlgenรคhrten Bundesadler โ€“, deren Herkunft aus alten Mythen uns gar nicht mehr bewusst ist. Als wรคre es verschรผttet. Was aber so ganz die Sache nicht trifft, den gerade solche Symbole zeigen, dass sie auch ohne Mythos funktionieren und Macht bedeuten.

So gesehen ist es ein Buch, das zum Nachdenken anregt. Auch รผber die Frage, wie leicht verfรผhrbar wir sind โ€“ nicht nur fรผr neue Mythen, sondern auch durch die Inszenierungen von Macht, Herrschaft und รœberlegenheit. Und wie schwer es dabei fรคllt, die von der Aufklรคrung postulierte rationale Ebene immer wieder zurรผckzugewinnen. Und sich vom Bombast einer Inszenierung nicht schon wieder ins Bockshorn jagen zu lassen.

Alexander Rauch โ€žMythos und Machtโ€œ Edition Hamouda, Leipzig 2024, 20 Euro.

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