Es gibt sie von jedem Leipziger Ortsteil: Ansichtskarten, die einst wie selbstverständlich in alle Welt gesandt wurden, mit kurzen Grüßen: Ich war hier! Und was es zu erzählen gab, erzählte einfach das Bild auf der Schauseite: herrliche Ausflugsziele, verlockende Restaurants, stolze Rathäuser oder auch einfach Straßen und Häuser, wie sie waren, wo eine aber wirklich wohnte und damit zeigen konnte: So sieht das hier bei mir aus.

Die Karten wurden in riesigen Auflagen gedruckt. Und sie haben sich – zum Glück – zu einem beliebten Sammelgut gemausert. Die Sammler bieten Schätze, Schätze für Historiker und solche Bände, wie sie Pro Leipzig nun seit Jahren Stück für Stück für einen Ortsteil nach dem anderen vorlegt, ob Südvorstadt oder Connewitz, Lindenau oder Knauthain und Umgebung. Stets in Zusammenarbeit mit erfahrenen Sammlern, die ihre Sammlungen ordentlich sortiert haben und meist schon jede Ansicht verortet haben.

Denn natürlich sieht es vielerorts schon lange nicht mehr so aus wie vor 100 oder 120 Jahren, in der Hochzeit der Ansichtskarten, die auch in Leipziger Großverlagen in riesigen Stückzahlen hergestellt wurden. Oft bewahren die Ansichtskarten Straßen- und Ortsansichten, die heute völlig verschwunden sind. Das trifft auch auf Leutzsch zu, das erst spät eine ähnliche industrielle Entwicklung nahm wie etwa Plagwitz oder Lindenau.

Sodass sich um 1900, als die ersten Ansichtskarten mit Leutzscher Ansichten gedruckt wurden, noch viele alte dörfliche Strukturen erhalten haben. Selbst noch in der Ortsmitte, dort, wo heute der Park am Wasserschloss zum Verschnaufen einlädt. Vom einstige Wasserschloss erzählen ja heute nur noch die Erdwälle.

Schnell noch ein Rathaus bauen

Selbst heutige Bewohner von Leutzsch werden stutzen und bei vielen Ortsansichten ins Grübeln kommen, weil die Situation vor Ort sich gründlich verändert hat. Wo seit 120 Jahren das eindrucksvolle Leutzscher Rathaus steht, befand sich zuvor die Leutzscher Kinderbewahranstalt. Was daneben mit Hans-Driesch-Straße, Rückmarsdorfer und Georg-Schwarz-Straße als riesige Kreuzung eher zum Weglaufen einlädt, war mal ein ruhiger Dorfplatz. Die riesige Straßenkreuzung reißt das alte Leutzsch heute regelrecht auseinander.

Viele Aufnahmen damals wurden vom Leutzscher Wasserturm aus gemacht, der längst wieder aus dem Ortsbild verschwunden ist. Genauso, wie die imponierende Landschaft aus Restaurants und Ausflugslokalen, denn Leutzsch lag vor 120 Jahren noch im Grünen. Seit 1856 hatte es einen Bahnanschluss, weshalb es sich lohnte, in Leipzig in den Zug zu steigen und bis Barneck zu fahren, um dann gleich in Bahnhofsnähe in eins der dortigen Ausflugslokale einzukehren, die allesamt über riesige Freisitze verfügten.

Man konnte das direkt mit einem Waldspaziergang in der Burgaue verbinden und die legendäre Königseiche besuchen, die damals ebenfalls Ansichtskarten zierte.

Und natürlich hat jedes dieser Restaurants eigene Ansichtskarten herstellen lassen, die man beim Einkehren dann erwerben und gleich in Leutzsch in den ersten dort aufgestellten Briefkasten werfen konnte. (Später bekam Leutzsch sogar eine eigene Post, auch die kommt ins Bild.)

Da die Zeit der Ansichtskarten gerade die Jahrzehnte der großen Industrialisierung und Verstädterung umfasst, kann man regelrecht zuschauen, wie sich das Dorf Leutzsch zu einem städtischen Vorort entwickelte, zu einer Stadtgemeinde, deren Gemeinderat noch 1902 den Bau eines eigenen stolzen Rathauses beschließen konnte.

Da hatte Leutzsch seit 1899 sogar schon Straßenbahnanschluss und die Linie L (ab 1918 Linie 17) bog natürlich am Rathaus ab und fuhr durch die Bahnhofstraße (heute Rathenaustraße) direkt zum Bahnhof. Quer durchs Leutzscher Villenviertel, von dem ebenfalls dutzende Ansichtskarten existieren. Jeder Villenbesitzer tat augenscheinlich per Ansichtskarte kund, wie nobel er jetzt im idyllischen Leutzsch lebte.

Verschwundene Orte

Und so wird natürlich auch dieser Band – angereichert mit historischen Karten – zu einer richtigen Zeitreise, lernt man einen Leipziger Ortsteil kennen, der sich lange Zeit noch durch eine ordentliche Grenzstraße (heute Prießnitzstraße) vom benachbarten Lindenau abgrenzte. Eine Grenze, die freilich ihren Sinn verlor, als die städtische Bebauung sich entlang von Georg-Schwarz-Straße und Lindenauer Straße (heute William-Zipperer-Straße) schloss.

Aber nicht nur die vielen Gasthöfe, die Bauerngüter und der Wasserturm sind verschwunden. Alte Ansichtskarten erzählen auch vom legendären Prießnitzbad mit seinem eisenhaltigen Wasser, von der Geschichte des Schützenhauses oder von der beliebten Waldgaststätte „Zum Wilden Mann“, die direkt an der Bahnlinie Leipzig-Großkorbetha lag. Da werden viele Zugreisende sehnsüchtig hinausgeschaut haben, wenn sie da an schönen Tagen vorüberfuhren: Dort jetzt sitzen! Und die Sitzenden werden den Zügen nachgeschaut haben: Wohin fahren die nur?

Und da in der Ecke sieht man auch eine Karte mit Waldweg und Blockhaus. Aber das steht wirklich im Wald, anders als das Blockhaus auf Seite 157, das die beiden Autoren den Lesern als großes Rätsel aufgeben. Denn für das auf dieser Ansichtskarte abgebildete Blockhaus, das es 1899 gegeben haben muss, konnten sie den genauen Ort nicht lokalisieren, an dem es stand.

wäre also eine echte Suchaufgabe für Leutzscher, die noch ein Familienarchiv haben und ein großes familiäres Gedächtnis, ob noch irgendjemand weiß, wo dieses Blockhaus gestanden haben könnte.

Vielleicht an der Wolfswiese oder am Meerlinsenanger? Auch über alte, sprechende Flurnamen stolpert man, bei denen man sich fragt, warum man dann die Straßen, die darauf entstanden, nicht danach benannt hat. Damit wäre Ortsgeschichte auch im Straßennamen bewahrt worden. So wie die Ausflugsstimmung zu jener Zeit, da die Leipziger sich noch in Zug und Straßenbahn setzten, um ihre Sonntage in einem der großen Leutzscher Biergärten zu verbringen.

Noch nicht so sehr beim Fußball, der wohl zu spät nach Leutzsch kam, um noch im Goldenen Zeitalter der Ansichtskarte gewürdigt zu werden.

Wilfried Grylla, Thomas Nabert „Leutzsch. Ein Ortsteil auf alten Ansichtskarten“h Pro Leipzig, Leipzig 2024, 22 Euro

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar