Als der Krieg in Europa im April 1945 zu Ende ging, lagen auch große Leipziger Bibliotheken in Schutt und Asche. Besonders schlimm erwischt hatte es die Leipziger Stadtbibliothek, die – anders als Deutsche Bücherei und Universitätsbibliothek – ihre Bestände nicht außerhalb der Stadt in Sicherheit gebracht hatte. Im Ergebnis waren nicht nur die Räume der Bibliothek im Städtischen Kaufhaus zerstört, sondern auch der größte Teil der historisch wertvollen Bestände. In diesem Buch kümmert sich Hassan Soilihi Mzé einmal um diese Bibliotheken.
Er stellt sie alle drei systematisch nebeneinander und zeichnet ihre Schicksale bis zum Ende der 1960er Jahre nach. Das ist eine Zeit, die heute bestenfalls noch die Hochbetagten kennen, die damals als junge Leser die Bibliotheken nutzten. Und die selbst dann wohl auch nur wenig von dem mitbekamen, was hinter den Kulissen passierte.
Denn da mussten nicht nur Kriegsschäden repariert werden. Jüngere erinnern sich noch an den halbfertigen, halbkaputten Zustand der Universitätsbibliothek, für die kurz nach dem Krieg die Mittel nur reichten, einen Teil des 1891 fertiggestellten Gebäudes zu sichern und dem Betrieb wieder zur Verfügung zu stellen. Für eine komplette Wiederherstellung fehlte im armen Arbeiter-und-Bauernstaat das Geld.
Buchbestände und Bibliothekspersonal
Aber auch der Umgang mit den Buchbeständen änderte sich. Die waren – zum Glück – vor den verheerenden Bombenangriffen 1943 1944 in Schlösser und Bergwerksstollen im mittelddeutschen Raum ausgelagert worden. Was sie zwar rettete – aber nicht den Streit mit den sowjetischen Besatzungstruppen ersparte, bei denen oft ein Kommandeur die Befehle des anderen nicht akzeptierte. So kam zwar der Großteil der Bestände nach einigen Interventionen wieder zurück in die Bibliothek – wertvolle Teilbestände aber gingen als Kriegsbeute nach Moskau.
Und damit endete das Drama nicht, denn die neuen Machthaber versuchten natürlich auch in der Universitätsbibliothek das durchzusetzen, was sie „demokratischer Zentralismus“ nannten. Nämlich die Konzentration aller Weisungsbefugnisse auf parteilicher Ebene, also der von SED-Genossen, auch dann, wenn sie nicht die fachlichen Kompetenzen wie die zumeist bürgerlichen Bibliotheksleiter aufwiesen. Die hatten noch die ersten Jahre der Uni-Bibliothek geprägt, bis auch sie aus ihrem Amt gedrängt wurden.
Vorgänge, die alte Aktenbestände genauso verraten wie die Erinnerungen der Betroffenen. Aber in dieser Weise ist der Historiker Hassan Soilihi Mzé der Erste, der anhand der drei wichtigsten Leipziger Bibliotheken erzählt, wie damals der Elitenwechsel vonstattenging – und zwar weit über die Säuberungen gleich ab 1945 hinaus, als die tatsächlich schwer belasteten Mitläufer des NS-Regimes auf Weisung der SMAD aus ihren Ämtern entfernt wurden.
Vorbild Großer Bruder
Aber das war nur die erste Phase. Die zweite begann schon wenig später mit dem großangelegten Umbau der gesamten Bibliothekslandschaft in der sowjetischen Besatzungszone bzw. der frühen DDR. Was besonders die Leipziger Stadtbibliothek traf, die bis dahin eine wissenschaftlich arbeitende Bibliothek war, welche die Bücherschätze der Stadt verwahrte. Heute unvorstellbar reiche historische Quellen, von denen aber die meisten bei den Bombenzerstörungen verloren gingen.
Danach hätte die Stadtbibliothek durchaus als wissenschaftliche Bibliothek mit kleinerem Bestand weitermachen können. Aber da es so etwas im als Vorbild genommenen sowjetischen Bibliothekswesen nicht gab, wurde sie letztlich abgewickelt und mit den bestehenden Volksbüchereien zusammengelegt.
Dass damit auch eine kompetente Bibliotheksleiterin wie Edith Rothe (Tochter des Leipziger Oberbürgermeisters Karl Rothe) demontiert und persönlich beschädigt wurde, gehörte zu den damaligen Methoden, mit denen die neuen Funktionäre ihre Ansichten und Vorstellungen durchsetzten.
Hassan Soilihi Mzé kann mehrere solcher Schicksale skizzieren, mit denen „bürgerliche“ Fachleute aus Amt und Funktion gedrängt wurden. Einige gingen dann zu recht tief enttäuscht in den Westen, andere waren gebrochen.
Bereinigte Bestände
Und noch etwas kam hinzu. Denn gleich nach 1945 waren natürlich auch die Bücherbestände gereinigt und sämtliche NS-nahe Literatur aussortiert und in „Giftschränken“ weggesperrt worden. Aber der Stalinismus kennt mehr Feinde, als sich ein gewöhnliche Sterblicher nur ausdenken kann. Und so wurde im Lauf der Zeit die Liste der „unerwünschten“ Bücher immer länger und auch sämtliche Literatur, die in irgendeiner Form nicht zur offiziellen Parteilinie passte, fiel der Aussortierung anheim.
Und weil die Uni-Bibliothek als wissenschaftliche Bibliothek auch haufenweise Fachliteratur aus westlichen Verlagen einkaufte, versuchte die SED natürlich auch früh, die komplette Kontrolle über die Bibliothekseinkäufe im Westen zu bekommen und diese zu steuern. Ein Phänomen, das besonders die Universitätsbibliothek betraf – wobei Hassan Soilihi Mzé durchaus feststellen kann, dass die Kontrolle nie wirklich komplett war.
Deutlich unbeschadeter ging die Deutsche Bücherei durch all diese Prozesse – was zum Teil auch an der stabilisierenden Rolle von Heinrich Uhlendahl lag, der sich dem NS-Regime nicht angedient hatte und im Westen – vor allem bei den dortigen Verlegern – ein enormes Vertrauen genoss. Aber es hatte auch mit dem Wissen der sowjetischen Besatzer zu tun, dass die DB auch ein Pfund war in der Auseinandersetzung mit dem Westen, wo man schon bald nach dem Krieg daran ging, eine eigene Nationalbibliothek in Frankfurt am Main aufzubauen.
Kontrolliertes Lesen
Aber der tragischste Fall bleibt am Ende die Leipziger Stadtbibliothek, die mit ihren Restbeständen in Barthels Hof unterkam, in Räumen, die dann ab den 1980er Jahren auch dort eine Komplettsperrung nötig machten. Ihren Charakter als wissenschaftliche Bibliothek der Stadt büßte sie ein, auch wenn sie heute auch wieder im Sinne der Stadt Nachlässe und Archivbestände sammelt und die Musikbibliothek beherbergt.
Aber in der Summe erfährt man mit Hassan Soilihi Mzé, dass das Unter-Kontrolle-Kriegen dessen, was die Menschen und auch die Studierenden im Osten zu lesen bekamen und was nicht, auch die öffentlichen Bibliotheken nicht verschonte und dort gravierende Konsequenzen auch für die dort tätigen Bibliothekare hatte. Parteibücher zählten mehr als Qualifikationen.
Dass das am Ende einem ganzen Staatswesen die Grundlage entzieht, wissen wir ja. In diesen frühen Umbauten steckt schon die ganze Tragödie der späten 1980er Jahre. Aber Hassan Soilihi Mzé beendet seine Erforschung dieser frühen Jahre mit dem Jahrgang 1968/1969, als die Umgestaltung der Bibliothekslandschaft in Leipzig im Wesentlichen abgeschlossen war.
Hassan Soilihi Mzé „Geöffnet – Gelenkt – Umgebaut“ Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2024, 33 Euro.
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