Wir befinden uns im Kafka-Jahr. Vor 100 Jahren starb der Prager Autor. Und da hatte sein Ruhm noch nicht einmal richtig begonnen. Es mussten erst die ganzen Verirrungen des 20. Jahrhunderts geschehen, damit dieser Meister der unvollendeten Geschichten geradezu zum Synonym einer irren Zeit wurde: ein kafkaeskes Jahrhundert, dem gerade ein nächstes kafkaeskes Jahrhundert zu folgen scheint. Da ist Hartmut Binders 1.000-seitiges Buch wie ein Geschenk an alle, die ihren Kafka lieben.

Tatsächlich sind es 1.088 Seiten mit noch viel mehr Bildern, das Sammelergebnis eines Mannes, der praktisch sein ganzes Autorenleben Kafka, Prag und der Prager Literatenwelt gewidmet hat. Schon einen ganzen Stapel Bücher hat Hartmut Binder zu Kafka und seinem Leben in Prag veröffentlicht.

Doch was er hier jetzt vorgelegt hat, ist sein opus magnum, praktisch eine detaillierte Kafka-Biografie mit allen seinen Lebensstationen in einem mit einem Band aller verfügbaren Bilder, die Kafkas Leben, seine Heimatstadt, seine Reisen, Freunde und Geliebten zeigen.

Auch sein Leipzig-Aufenthalt ist drin im Juni 1912, als er mit seinem Freund Max Brod den Verleger Ernst Rowohlt besuchte, um den ersten Buchveröffentlichungen den Weg zu bahnen.

Man läuft mit dem Jungen auf den Wegen seiner Kindheit, lernt das Prag um die Jahrhundertwende kennen und all die Orte, die direkt oder dichterisch verarbeitet in seinen Arbeiten vorkommen. Und natürlich lernt man auch Vater und Mutter kennen und – aus biografischen Texten zitiert und belegt – das schwierige Verhältnis Kafkas zu seinem Vater, der ihn zeitlebens spüren ließ, dass er nicht der Sohn war, den der Patriarch der Familie gewollt hat.

Vaterbilder, Frauenbilder

Ein ganz normales Leben könnte man sagen. Wären nur auch modernere Männer so sensibel und aufmerksam auf das, was sie im Leben anstellen und warum sie die falschen Muster ihrer Väter wiederholen. Den „Brief an den Vater“ hat Kafka seinem Vater nie geschickt, er wurde erst posthum veröffentlicht.

So wie etliche seiner Fragment gebliebenen Romane, die letztlich – wenn man genau hinschaut – die Welt immer wieder aus der Perspektive von Söhnen zeichnen, die sich in undurchschaubaren Situationen wiederfinden und nicht erfahren, wer da eigentlich über sie urteilt oder sie endlos vor der Tür warten lässt. Und warum.

Aber es ist kein düsterer Kafka, den uns die Bilder-Lebens-Reise von Hartmut Binder zeigt, sondern ein kluger junger Mann, der viele Freundschaften unterhielt und der auch auf Frauen Eindruck machte. Trotz all der ebenso unvollendet gebliebene Affären und Beziehungen mit Felice, Milena und Julie. Ganz abgesehen von den vielen Frauen- und Mädchenbekanntschaften, die allesamt dokumentiert sind.

Genauso wie Kafkas Selbstzweifel dokumentiert sind, ob er überhaupt zu einer Partnerschaft taugte. Allein schon das jahrelange Angezogensein, Zaudern und wieder Abstandnehmen mit Felice wäre ein echter kafkascher Lebensroman – genau so ohne Pointe wie seine Geschichten. Bei denen man letztlich sowieso das Gefühl hat, dass sie gar keine Pointen haben können.

Krankheitsbilder, Reisebilder

Seine Erkrankung an Tuberkulose sah Kafka ja regelrecht als Strafe für seinen eigenen quälenden Umgang mit der Beziehung zu Felice. Doch während man erwartet hätte, seine letzten sieben Lebensjahre wären allein von der Krankheit geprägt gewesen, erfährt in Binders Buch, dass Kafka auch jetzt noch immer wieder auf Reisen ging, oft um Erholungsorte aufzusuchen.

Auch all diese Orte, an die Kafka reiste, dokumentiert Binder mit Karten und alten Ansichten, aber auch mit Porträts all der Menschen, denen er dort nachweislich begegnete. Sodass dieser Band auch ein regelrechtes Panoptikum der Persönlichkeiten ist, die irgendwie eine Rolle im Kafka-Kosmos spielten und manchmal auch als verwandelte literarische Gestalt in seinen Arbeiten auftauchten. Sodass man in gewisser Weise eben auch erfährt, woher Franz Kafka seine Anregungen nahm.

Das ändert natürlich auch den Blick auf seine Geschichten, die dadurch viel geerdeter erscheinen, direkt aus dem wirklichen Leben herausdestilliert – und trotzdem eigen- und einzigartig in der kafkaischen Sicht auf das Geschehen beschrieben. Dabei empfanden ihn die meisten Zeitgenossen, die ihn kennenlernten, als charmant, freundlich, als anregenden Gesprächspartner. Und die klügsten Köpfe seiner Zeit begriffen schon zu seinen Lebzeiten, was für ein Talent er war.

Auch wenn die Begegnungen etwa mit Egon Erwin Kisch und Kurt Tucholsky nur kurz gewesen sein dürften. Manchmal haben auch die Großen eine tief sitzende Scheu, die bewunderten Kollegen einfach in Beschlag zu nehmen.

Aber Kafka reiste nicht nur viel, er wanderte auch gern, sodass man in diesem Buch auch all die Gegenden in und um Prag kennenlernt, wo er mit Freunden nur zu gern unterwegs war und in beliebte Cafés, Restaurants und Gasthöfe einkehrte.

Lebensbilder, Wanderbilder

Man lernt auch seine Arbeitsstelle und seine Vorgesetzten und Kollegen kennen, die den Dr. jur., der geradeso seine juristischen Abschlüsse geschafft hatte, achteten als kompetent und zuverlässig. Obwohl es für Kafka immer nur ein Brotjob war, die Basis für ein eigenes Lebenseinkommen und die dringend nötige Unabhängigkeit von seinem Vater, der sogar das Leben seiner Verlobten durchleuchten ließ, weil er die Kontrolle über den Sohn nie aufgeben konnte.

Auch nicht die über seine Familie. Dazu gibt es einige sehr schöne biografische Kurzstücke, die zeigen, wie patriarchisch und gefühllos er mit seiner eigenen Familie umging. Da wundert man sich nicht mehr, dass Kafkas jüngere Schwester Ottla letztlich die wichtigste Bezugsperson für Franz war, die sich mit ihrem Landwirtschaftsbetrieb in Zürau ebenfalls auf Distanz zum Vater brachte. In Zürau erlebte Kafka einige der unbeschwertesten Tage seines Lebens, obwohl die damals aufgenommenen Fotos schon zeigen, wie ihn die Krankheit zeichnete.

Wäre das Buch nicht so gewichtig, man könnte es geradezu als Wanderführer auf Kafkas Spuren mitnehmen und die historischen Bilder mit der Gegenwart vergleichen. Aber wer mit Kafka aufgewachsen ist, weiß ja auch im Kopf zu wandern. Für den ist dieses Buch tatsächlich eine Lebensreise, auf der immer wieder neue Persönlichkeiten auftauchen, die zeigen, dass Kafkas Wege durch die Welt nie wirklich einsam waren.

Und ganz bestimmt nicht so einsam wie die seiner Hauptfiguren, die den Rätseln ihres Daseins stets allein gegenüberstehen, ohne sie wirklich lösen zu können.

Auch, weil sie die Dinge permanent infrage stellen und nie wirklich als gegeben hinnehmen. Was wieder an Kafkas schwierige Frauenbeziehungen erinnert. Erst ganz zum Schluss – mit Dora Diamant – scheint er es geschafft zu haben, auch körperliche Nähe zuzulassen und sich auf die anpackend junge Frau einzulassen. Noch eine Geschichte, die am Ende Fragment bleibt, weil die Lungenerkrankung gar kein anderes Ende zuließ.

Bilder einer Stadt

Trotzdem wirkt die so bebilderte Lebensgeschichte viel heller und farbiger als all die verrückten Romane Kafkas. Aber dafür steht nun einmal der „Brief an den Vater“ irgendwie doch im Mittelpunkt, der eben auch daran erinnert, dass der Grundton für unsere Lebenserzählungen in der frühen Kindheit angelegt wird.

Dort sammeln wir die Erfahrungen und Bilder, die unsere Sicht auf das Leben prägen. Und eben auch die Geschichten, die einer dann spätnachts in der Stille der Alchemistengasse (die natürlich auch gezeigt wird) niederschreibt.

Und dazu gehört – das betont Binder extra – natürlich auch das Erleben eines multikulturellen Prags, in dem sich tschechische, deutsche und jüdische Kultur nicht nur auf engstem Raum begegneten, sondern auch befruchteten. Das reiche literarische Leben Prags in dieser Zeit hat genau in dieser kulturellen Vielfalt seine Wurzeln. Was bei vielen der kleinen Biografien in diesem Band natürlich auch jedes Mal eine tragische Note hat.

Denn nach ihrem Einmarsch zerstörten die deutschen Faschisten auch das jüdische Leben in der Stadt, verhafteten und deportierten nicht nur viele Bekannte und Zeitgenossen Kafkas, sondern auch mehrere seiner nächsten Angehörigen.

Kafkas Bücher lesen sich ja oft so, als hätte er das alles schon vorausgeahnt. Und ganz sicher ist der Humus des Faschismus auch genau in der menschlichen Entfremdung angelegt, in falschen Männer- und Väterbildern.

Zeit-Bilder

Aber eigentlich hat Kafka etwas viel Größeres beschrieben, das machen gerade die zu jedem Bild zitierten Lebenszeugnisse deutlich: Die Verstörung eines klugen Prager Jungen in einer Welt, in der gewalttätige Patriarchen eigentlich schon wie Überbleibsel der Vergangenheit wirkten.

Sprachlose Überbleibsel, denn außer Brüllen und Befehlen haben sie den Jüngeren gegenüber irgendwie nichts zu sagen. Hätten sie schon. Aber es ist durchaus anzunehmen, dass Kafkas Vater den Brief, den sein Sohn da 73 Seiten lang an ihn schrieb, auch nicht verstanden hätte. Oder schlicht nie gelesen hätte, auch wenn ihn Kafka persönlich vorbeigebracht hätte. So desinteressiert, wie er auch an den zu Kafkas Lebzeiten erschienenen Büchern war.

So betrachtet schimmert eigentlich in allen Kafka-Romanen das Problem des Sohnes auf, der von seinem eigenen Vater so, wie er war, nie akzeptiert wurde. Und der irgendwann auch merkte, dass er diesem Vater zum Trotz schrieb, weil das die deutlichste und stärkste Form der Auflehnung war.

Wer also in Kafkas Welt eintauchen möchte, bekommt hier die kompakteste und umfassendste Einladung, genau das zu tun. Auch mit vielen Fotos, bei denen man auf den ersten Blick nicht ahnt, dass auch Franz Kafka darauf zu sehen ist – manchmal ganz schüchtern am Rand, als hätte er sich nur zufällig mit aufs Bild verirrt, obwohl neben ihm lauter Frauen und Männer stehen, die zu seinem allerengsten Lebenskosmos gehören.

Hartmut Binder „Franz Kafka. Ein Leben in Bildern“ Vitalis Verlag, Prag 2024, 99,90 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar