Wie kein anderer hat sich Stefan Gotthelf Hoffmann mit dem Leben und der Familiengeschichte des sozialistischen Schriftstellers Friedrich Wolf beschäftigt. Eine Familiengeschichte, die auch das Leben seiner Söhne Markus und Konrad Wolf einschließt, der eine einst Chef der Auslandsaufklärung des MfS, der andere einer der markantesten Regisseure der DDR. Doch ihre Karrieren sind erst verständlich, wenn man nicht nur die Prägungen durch ihren Vater kennt.

Wie kam es, dass die beiden Söhne ohne Widerstreben führende Funktionen im sozialistischen SED-Staat übernahmen und auch nie daran zweifelten, dass sie sich der sozialistischen Sache unterordnen mussten? Womit sie ja nicht die einzigen waren. Doch berechtigtermaßen betrachtet Hoffmann ihre mehrfach überlieferten Äußerungen zu ihrem Schaffen und ihre Einstellung zum SED-Staat und zum Sozialismus mit kritischem Blick. Dem Blick des Psychologen, der genau weiß, dass Menschen durch ihre Familiengeschichte geprägt werden.

Viele ignorieren das, tun so, als hätten sie aus eigener Entscheidung den Weg eingeschlagen, den sie dann gelaufen sind. Und auf den ersten Blick – auch in Hinblick auf Aussagen von Zeitgenoss/-innen, die Friedrich Wolf und seine Familie kannten, scheint nichts darauf hinzudeuten, dass die Söhne dann zu überzeugten Anhängern eines Staates wurden, der seine Bürger bevormundete und ideologisch indoktrinierte.

Die Zeitzeugenaussagen erzählen von einer weltoffenen und keineswegs autoritären Erziehung. Und auch Friedrich Wolfs Veröffentlichungen zur Erziehung aus den 1920er Jahren deuten auf ein sehr modernes Verständnis von Erziehung hin.

Das Trauma eines ungesühnten Mordes

Doch das Problem ist auch bei Friedrich Wolf: Die Erziehung geht falsche Wege, wenn der Erzieher um seine eigenen Prägungen nicht weiß und die Traumata der eigenen Familie verdrängt und ignoriert. Und die Familie Friedrich Wolfs war massiv traumatisiert. Was Stefan Gotthelf Hoffmann schon in seinem in zwei Bänden erschienenen Buch „Der ‚Nordecker Judenmord‘.“ ausführlich dargelegt hatte.

Dieser Mord passierte 1884 im hessischen Dorf Nordeck, wo Friedrich Wolfs Großeltern väterlicherseits – Johanna und Salomon Wolf – brutal von einem ihrer Schuldner ermordet wurden. Was schon schlimm genug war. Aber der Mörder wurde dann in einem Aufsehen erregenden Gerichtsprozess frei gesprochen, ein Prozess, der von antisemitischen Kampagnen und Medienberichten begleitet wurden. Und nicht nur, dass die Antisemiten um den antisemitischen Agitator Otto Böckel triumphierten.

Der freigesprochene Täter überzog die Familie Wolf auch noch jahrelange mit falschen Wiedergutmachungsforderungen, sodass die Familie auch noch jahrelang mit ungerechtfertigten Geldzahlungen bedroht war. Das prägte ganz offensichtlich das Leben von Friedrichs Vater Max Wolf. Und da dieser nie die Chance hatte, das erlebte Trauma zu verarbeiten, prägte das zwangsläufig auch seinen Sohn Friedrich.

Wie sich Traumata vererben

Es ist das Schweigen über das Erlebte, das dafür sorgt, dass die Verletzungen aus der Vergangenheit sich in den nächsten Generationen „vererben“.

„Das Schweigen verhindert nicht, dass innere Bilder der Eltern, die ihre Panik, Angstzustände und Albträume betreffen, auf die Kinder übergehen“, schreibt Hoffmann.

„Denn das Kind absorbiert die verdrängten oder nicht verarbeiteten Erfahrungen der traumatisierten Eltern. Die Weitergabe des Traumas erfolgt nicht durch ein bestimmtes Ereignis, sondern durch dessen Folgen. Nicht der Verlust an sich, sondern das ungelöste Trauma und dessen fehlende Verarbeitung tragen entscheidend zur transgenerationalen Weitergabe von seelischen Verletzungen bei.“

Und das Entscheidende dabei ist: Die Kinder wissen nichts davon. Auch weil es nicht ausgesprochen wird. Was übrigens ein zentrales Forschungsergebnis der Psychologie mit den Traumata der Kriegskinder und Kriegsenkel nach dem Zweiten Weltkrieg war. Die Kinder nehmen das, was die Eltern nicht auszusprechen bereit oder in der Lage sind, trotzdem als unterschwellige Botschaft auf.

Wenn Kunst zur Waffe wird

Hoffmann zeigt, wie sich genau das auch im Werk Friedrich Wolfs manifestiert und wie er gerade deshalb zu einem Schriftsteller wurde, der seine Lebensaufgabe darin sah, eine bessere Welt zu schaffen und sich völlig in den Dienst dieser Sache zu stellen. Was ihn freilich auch zu einem der bedeutendsten Dramatiker in der Weimarer Republik machte mit Dramen wie „Cyankali“ und „Profesor Mamlock“ und dem von ihm 1928 geprägten Slogan „Kunst ist Waffe“.

„Wolfs Worte, seine Kunst, seine Literatur waren seine ‚Kampfmittel‘. Andere Waffen außer seiner Kunst besaß der Schriftsteller und Pazifist nicht“, schreibt Hoffmann. „Er brauchte diese Waffe unbedingt, sie besaß eine essentielle Bedeutung für ihn, denn sie hatte ganz offensichtlich auch die Funktion, eigene Lebensängste abzuwehren.“

Und so verändert sich, je genauer sich Hoffmann die Beziehung Friedrich Wolfs zu seinen Söhnen anschaut, auch der Eindruck vom scheinbar unbeschwerten Familienleben. Denn wenn es um die „Sache“ ging, war Friedrich Wolf streng und eigentlich unerbittlich. Sein Anspruch, jederzeit einsatzbereit zu sein und sein Leben völlig seinem Schreiben zu widmen (sodass er selbst dann meist nicht verfügbar war für die Kinder, wenn er in seinem Schreibzimmer arbeitete), wurde so auch zu verinnerlichten Botschaft an die Söhne, die dem Vater nur so gerecht werden konnten, dass sie sich ebenfalls ganz und gar „der Sache“ opferten.

Das „störende“ Kind

Womit sie ja nicht die einzigen waren in diesem zerrissenen 20. Jahrhundert, die ihr eigenes Leben so den – unausgesprochenen – Erwartungen ihrer Väter unterordneten. Hoffmann spricht sogar von einem „familiären Betriebssystem“, in dem Friedrich Wolf möglichst alle Störungen unterband – und seinen Söhnen beibrachte, das Betriebssystem nicht zu stören.

Nur mit Lena gelang ihm das nicht, der Tochter, die er 1934 mit Lotte Rayss hatte, die dann in die Stalinschen Verfolgungen geriet und 16 Jahre im Gulag verbrachte, während ihr anfangs ihre Tochter entzogen wurde. Hier wird ein anderes Kinderschicksal sichtbar, eines, in dem dem Kind jegliche Geborgenheit und jeder familiäre Schutz entzogen wurde. Und Friedrich Wolf reagierte immer wieder falsch auf das Schutzbedürfnis des Kindes, dessen Lebensweg sich dann entsprechend katastrophal gestaltete.

Der stille Rebell Konrad

Aber auch das wird verständlich aus Friedrich Wolfs eigener Traumatisierung in frühester Kindheit. Auf einmal wird die Geschichte einer berühmten Familie geradezu beispielhaft dafür, wie sich die traumatischen Erfahrungen vergangener Generationen in den Kindern und Enkeln fortpflanzen und Lebenshaltungen und Versagungen bedingen.

Die Welt „wird eng“, wie Hoffmann feststellt. Die unausgesprochenen Erwartungen und Ansprüche der Eltern bestimmen die Lebensentscheidungen der Kinder – und diese geraten (wie insbesondere Konrad Wolf) in tiefe Konflikte mit ihrem eigenen Leben, in denen sich eigentlich die unausgefochtenen Konflikte mit dem übermächtigen Vater spiegeln. So wie es Konrad Wolf in seinen Filmen mehrfach thematisiert hat, in denen „kritische Töne gegen die Beeinflussung der Kunst durch Obrigkeiten“ unübersehbar sind, wie es Wikipedia formuliert.

Nur wirklich selbst öffentlich rebellieren, das war ihm nicht gegeben. Trotz seiner publikumswirksamen Filme über Außenseiter der Gesellschaft hat er sich stets als „linientreuer Verfechter des SED-Parteiregimes“ gezeigt, stellt auch Wikipedia fest. Der Widerspruch ist ofensichtlich. Genauso wie sein Bruder Markus hat er den „Auftrag“, den ihnen ihr Vater quasi mitgab, sich ganz der „Sache“ zu opfern, nie infrage gestellt.

Ein mitleidloses Land

Und es braucht dann schon den genauen Blick des Psychologen, der hier anhand einer schriftlich gut dokumentierten Familiengeschichte zeigt, wie sich die traumatischen Erlebnisse einer jüdischen Familie aus Hessen in den Kinder- und Enkelgenerationen fortpflanzt als Prägung und Erwartung.

Womit diese Familiengeschichte auch beispielhaft wird für die Generation Friedrich Wolfs und das Agieren der zutiefst von der kommunistischen Sache überzeugten Kämpfer und Funktionäre, die sich auch nie die Zeit nahmen, die traumatische Vergangenheit aufzuarbeiten. Und damit neue Traumata schufen, die das Leben ihrer Kinder prägten.

Und das ganzer Gesellschaften, muss man hinzufügen. Hoffmanns Reise in die Familiengeschichte der Wolfs ist im Grunde auch ein Schlüssel zum Aufstieg und Versagen der kommunistischen Idee im 20. Jahrhundert. In Ansätzen beantwortet er eben an der Person Friedrichs Wolfs, warum deren wichtigste Akteure so hart und unerbittlich waren. Und warum sie das Leid und die Verunsicherung der eigenen Kinder nicht sahen. Nicht sehen konnten und nicht sehen wollten.

Von denen ja bekanntlich einige trotzdem rebellierten. Auch das gab es. Aber typischer war für diese Kinder der Elite, dass sie die Erwartungen ihrer (abwesenden) Väter mit aller Macht zu erfüllen versuchten. Und auch da scheiterten viele.

So wie am Ende das ganze Ländchen DDR und seine verunsicherte Partei scheiterte, weil sie den Draht zum Leben und zur Freiheit des Kindseins völlig verloren hatte. Unübersehbar herrschte der paternalistische Wunsch, alles im Griff und unter Kontrolle zu behalten und die Kinder zu angepassten Erfüllern der väterlichen Erwartungen zu machen.

Ausgekämpft

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, bekommt auch die DDR-Geschichte eine völlig andere Textur, wird auch deutlich, was in einem Land passiert, in dem seine wichtigsten Funktionäre keine Gefühle und kein Mitleid (mehr) zeigen dürfen, sich ganz einer blutleeren „Sache“ verschreiben und dann auch noch erwarten, dass alle anderen 17 Millionen Menschen genauso auf den Wunsch nach einem selbstgestalteten Leben verzichten. Das muss schiefgehen.

Aber es gehört zur grundlegenden Funktionsweise eines autoritären Staates. Und auch deshalb ist der Blick auf die „führenden Vertreter“ so trübselig. Als wären es gar keine Menschen aus Fleisch und Blut, sondern tatsächlich nur Funktionsträger.

Eine Rolle, die die Söhne Friedrich Wolfs je auf ihre Weise annahmen. Obwohl gerade die Filme Konrad Wolfs von etwas anderem erzählen. Etwas, das nicht ausgesprochen werden durfte, wenn man den unantastbaren Vater nicht beschädigen wollte.

Und das alles wurzelt in einer Tragödie vor 140 Jahren und einem Trauma, über das damals nicht gesprochen werden durfte. Gerade dieses (Ver-)Schweigen sorgt aber dafür, dass darunter dann auch die Kinder und Enkel leiden. Selbst wenn sie selbst nicht begreifen, woher das Leiden stammt. Und warum am Ende das Gefühl bleibt, gar nicht das eigene Leben gelebt zu haben. Was noch viel tragischer ist.

Stefan Gotthelf Hoffmann „Die weite Welt wird eng. Einblicke in die Familienbiographie Friedrich Wolfs“, Edition Schwarzdruck, Gransee 2024, 22 Euro.

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