Umfragen nach den bedeutendsten deutschen Politikern gibt es immer wieder. Allerlei Medien verรถffentlichen solche Rankings. Doch was die Bรผrger รผber die Bedeutung der Politiker denken, muss ja nicht mit dem รผbereinstimmen, was die Politiker selbst รผber ihre Kollegen denken. Also fragten Aljoscha Kertesz und Bernd Haunfelder 2021 einmal alle Bundestagsabgeordneten und fast 1.900 Landtagsabgeordnete an und baten sie um ihre fรผnf bedeutendsten deutschen Politiker/-innen.
506 Abgeordnete antworteten tatsรคchlich. Auch auf die Frage, welche fast vergessenen Politiker/-innen unbedingt ebenfalls auf die Liste gehรถrten. Das Ergebnis ist natรผrlich ebenfalls ein Ranking, das auf den ersten Blick einige รhnlichkeiten hat mit den Rankings aus Bevรถlkerungsbefragungen. Aber schon in der Spitze gibt es leichte Verschiebungen.
Aber das Ergebnis ist auch ein richtiges โWho is whoโ in der Politik der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zumindest, was den Westen betrifft. Denn aus der Funktionรคrsgarde der DDR haben es nur Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und Erich Honecker in die Liste geschafft und aus der รbergangszeit 1989/1990 dann Hans Modrow, Lothar de Maiziรจre und Gรผnter Krause.
Gehรถren die รผberhaupt in die Liste? Natรผrlich. Sie haben deutsche Politik geprรคgt und mitgestaltet. Aber ihr Auftauchen in der Liste รคndert natรผrlich nichts daran, dass โ auรer Angela Merkel โ ausschlieรlich westdeutsche Politiker die Spitze dominieren. Natรผrlich kommt hier auch der Parteienproporz mit ins Spiel. Unionspolitiker werden genauso eher Leute aus dem eigenen Lager benannt haben wie die aus der SPD, der Linken oder von Grรผnen und FDP. Oft sind es ja die Vorbilder aus den eigenen Reihen, die die heute Aktiven einst dazu animierten, in die Politik zu gegen.
Einmal Kollegen wรผrdigen
Aber Kertesz und Haunfelder wollten das Lagerdenken sowieso auflรถsen und baten deshalb auch Politiker aus anderen Partuien, kleine Wรผrdigungstexte รผber die Berรผhmten zu schreiben. Ein Vorhaben, das das Vorhaben beinah zum Scheitern brachte, denn viele Angefragte, die eigentlich zugesagt hatten, lieferten nicht. Der politische Alltag fraร sie auf und der Wunsch nach einem Wรผrdigungstext blieb liegen.
Was natรผrlich die Beitrรคge, die dennoch gekommen sind, umso wertvoller macht. So schrieb etwa Wolfgang Thierse den Wรผrdigungstext fรผr Willy Brandt, der das Ranking gewonnen hat. Was im Vergleich mit vielen Rankings aus deutschen Medien รผberrascht, wo meist Konrad Adenauer an der Spitze liegt, manchmal auch getoppt von Helmut Kohl.
Die durchaus kritische Wรผrdigung fรผr Helmut Kohl, der diesmal die drittmeisten Stimmen bekam, schrieb Bernhard Vogel, vielen noch bekannt als Ministerprรคsident von Rheinland-Pfalz und Thรผringen. Der einzige Politiker, der zwei Bundeslรคnder regierte. Bei Konrad Adenauer, der die zweitmeisten Stimmen erhielt, denkt man eigentlich, da mรผsste sich ganz leicht jemand finden, der den ersten Bundeskanzler wรผrdigt. Aber augenscheinlich war schon das ein Fall von โzu viel Arbeit und Stressโ.
Also schrieb Bernd Haunfelder hier den kurzen biografischen Abriss, der den Mann vorstellt, der die ersten Jahre der Bundesrepublik prรคgte.
Freunde und Kontrahenten
Es gibt auch unter den groรen Portrรคts, die alle auf den Rรคngen bis 27 Platzierten bekamen, jede Menge, bei denen Haunfelder in die Tastatur greifen musste โ was er freilich meist noch ausfรผhrlicher tat, sehr wohl wissend, dass die jรผngeren Generationen gerade mit den Politikerinnen und Politikern der frรผhen Bundesrepublik nichts mehr anfangen kรถnnen.
Obwohl es alles Persรถnlichkeiten waren, die in Zeitungen und auf dem Bildschirm prรคsent waren, wortgewaltig manche, streitbar und manchmal auch als Star ihrer Partei. Manchmal auch umstritten, in Skandale verwickelt, rรผcksichtslos oder geprรผgelt von Niederlagen.
Und da entsteht eigentlich der grรถรte Reiz an diesem Buch. Denn da sie meist auch in den Biografien anderer Politiker auftauchen, auch in denen ihrer liebsten Gegner, entstehen viele sich ergรคnzende Sichten auf diese Berรผhmten. Und das nicht nur, wenn die Gegner aus anderen Parteien ins Bild kommen, sondern auch die Konkurrenten aus der eigenen Partei โ etwa bei Helmut Kohl, der ein riesiges Talent hatte, seine fรคhigsten Konkurrenten auszuschalten und ungefรคhrlich zu machen.
Und einige tauchen hier auf โ von Franz Josef Strauร รผber Kurt Biedenkopf bis zu Heiner Geiรler. Leute, die in der Geschichtsbetrachtung oft nur als Randgestalt erscheinen, die aber die CDU prรคgten und vieles von dem organisierten und anstieรen, wofรผr Kohl dann die Lorbeeren einsammelte.
Aber wer dann die Platzierten hinter Brandt, Adenauer und Kohl sieht, merkt schnell, dass in diesem Buch tatsรคchlich geballte politische Geschichte der Bundesrepublik steckt.
Schon auf Platz 4 folgt Angela Merkel, die 2021 gerade ihr politische Laufbahn nach 16 Jahren als Bundeskanzlerin beendet hatte, gefolgt von Helmut Schmidt, den die Deutschen nach dessen Sturz durch Kohl und Lambsdorff erst so richtig lieben lernten, Ludwig Erhard, der โVaterโ des Wirtschaftswunders, Hans Dietrich Genscher, der beliebteste aller deutschen Auรenminister, und dann gleich Strauร, mit dem man erstmals eintaucht in die bayerischen Profilierungskรคmpfe.
Politik abseits der Macht
Und auch in der Spitzengruppe trifft man auf Persรถnlichkeiten, die man so weit oben nicht vermutet hรคtte, weil sie nie Bundeskanzler oder auch nur Ministerprรคsidentin waren. Und die dennoch mehr waren als nur populรคre Gestalten in den Medien โ das geht mit Regine Hildebrandt los und hรถrt mit Gregor Gysi und Herbert Wehner nicht auf. Oft verbinden sich mit ihnen wichtige Weichenstellungen oder politische Ideale, die die von Kompromissen geprรคgte Alltagspolitik nicht einlรถsen konnte.
Was sich etwa mit der Grรผnen-Politikerin Petra Kelly verbindet, mit Norbert Blรผm, dem โsozialen Gewissen der CDUโ oder mit Renate Schmidt, die eine รคhnliche Rolle fรผr die SPD spielte.
Wobei die 27 ersten Plรคtze nicht nur von 27 Personen besetzt sind, denn gerade bei den einstelligen Ergebnissen mussten sich mehrere Politikerinnen und Politiker in einen Platz teilen. Tatsรคchlich sind es 52 Personen, die mindestens sieben Stimmen bekamen. Darunter auch Frauen wie Elisabeth Selbert und Lieselotte Funkcke, die sich fรผr die Gleichberechtigung der Frau in der Bundesrepublik schon einsetzten, als die junge Republik noch durchwachsen war von Paternalismus und Mรคnnerdominanz.
Wer an diese Frauen erinnert, erinnert eben auch daran, dass es bis heute nicht selbstverstรคndlich ist, dass im Grundgesetz, Artikel 3, steht: โMรคnner und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fรถrdert die tatsรคchliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Mรคnnern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.โ
1949 war das noch viel weniger selbstverstรคndlich. Und einige Parteien mit ihrer grauhaarigen Mรคnnerdominanz haben es je bekanntlich bis heute nicht verinnerlicht.
Streit gehรถrt zur Politik
Vielleicht ist es sogar gut, dass Haunfelder die meisten biografischen Beitrรคge schreiben musste. So wird vieles von dem, was hinter den Kulissen in der Politik passiert, sichtbar, merkt man, dass auch politische Wirksamkeit von Eigenschaften wie Durchsetzungsvermรถgen, Ausdauer und dickem Fell abhรคngt. Wer sich nicht durchbeiรt in die Spitzenรคmter und auch nicht bereit ist, sein Fell zu Markte zu tragen, wird nichts erreichen.
Deswegen ist es medialer Blรถdsinn, wenn heute Artikel um Artikel รผber โvรถllig zerstrittene Parteienโ geschrieben werden und dem Wahlvolk der Eindruck vermittelt wird, politisches Tagesgeschรคft sei ein einziges Gezรคnk und die Leute wรผrden sich in gegenseitigem Niedermachen regelrecht zerstรถren. Eher erzรคhlen solche Artikel vom wachsenden Dilettantismus in der politischen Berichterstattung. Man weiร nichts mehr, hat keine Kontakte mehr zu den โstreitendenโ Protagonisten, kann also auch nicht sagen, worรผber da gestritten wird.
Und eigentlich sollten es gerade DDR-Bรผrger gelernt haben: Nichts ist schlimmer als Parteien, in denen nicht mehr gestritten werden darf.
Dass das innerparteiliche Streiten und Um-Posten-Kรคmpfen der Normalzustand aller bundesdeutschen Parteien war von Anfang an, das bemerkt man in den Beitrรคgen in diesem Buch geradezu beilรคufig. Was nie ausschloss, dass sich da auch Respekt und Freundschaft รผber Parteigrenzen hin entwickeln konnte. So schreibt Sachsens Ministerprรคsident Michael Kretschmer tatsรคchlich รผber seinen grรผnen Kollegen in Baden-Wรผrttemberg, Winfried Kretschmann. Eine Konstellation, die man sich eigentlich รถfter gewรผnscht hรคtte.
Politik prรคgen mit Haltung
Leichter ist es natรผrlich, als langjรคhriger Wegbegleiter รผber ein politisches Vorbild zu schreiben โ so wie Helge Braun รผber Angela Merkel oder Brigitte Zypries รผber Gerhard Schrรถder, der es tatsรคchlich in dieses Buch geschafft hat. Wir begegnen Bundesprรคsidenten, die das Land prรคgten, ohne tatsรคchlich Macht zu haben โ von Walter Scheel รผber Gustav Heinemann bis zu Johannes Rau und Richard von Weizsรคcker.
Und dabei werden nicht nur vergangene politische Epochen wieder lebendig (und so nebenbei sichtbar, wie viel Politik in 75 Jahre passt), man bekommt auch ein Gefรผhl dafรผr, welche Weichenstellungen die Bรผrger der Bundesrepublik oft รผber Jahre beschรคftigten und auch begeisterten.
Willy Brandts Ostpolitik gehรถrt dazu natรผrlich genauso wie der Kampf um den NATO-Doppelbeschluss, fรผr den Helmut Schmidt seinen Hut nehmen musste, wรคhrend Helmut Kohl ihn umsetzte. Man wird dabei auch daran erinnert, dass es mehrere Phasen in der bundesdeutschen Geschichte gab, in denen รผber Krisen und Stagnation lamentiert wurde und die Opposition (und die Haudrauf-Medien) nur zu gern vom โkranken Mann Europasโ redeten.
Aus Krisen lรคsst sich ja auf diese Weise meist ein gutes politisches Geschรคft machen. Und manche der hier Aufgelisteten beherrschten dieses Geschรคft, andere hatten ihre Bedenken und Skrupel. Und es ist nun einmal so: Die Wรคhlerinnen und Wรคhler belohnen am liebsten die Siegertypen, Leute, die โkeine Schwรคche zeigenโ.
Obwohl gerade Haunfelder in mehreren Beitrรคgen mit sehr viel Recht darauf hinweist, dass zur Politik und zur Ehrlichkeit dem Wรคhler gegenรผber eigentlich auch eine respektvolle Fehlerkultur gehรถrt. Solche Politiker, die so ein Format haben, hat es in der Bundesrepublik wirklich nicht viele gegeben. Was eben auch damit zu tun hat, dass Fehlereingestรคndnisse meist keine guten Wahlergebnisse nach sich ziehen.
Schade eigentlich.
Standhaftigkeit, Ehrlichkeit und Wรผrde
Stattdesden bleiben manche Politiker in Erinnerung, die versucht haben, ihre Fehler und Fehltritte bis zum bitteren Abgang auszusitzen โ sie tauchen dann eher mit weniger Stimmen auf. Und bei manchen kann man dabei seufzen: Was fรผr ein politisches Talent, und dann doch gestolpert. Manchmal einfach รผber eine zusammengeschusterte Doktorarbeit.
Aber auch das gehรถrt dazu. Gerade die 52 im vorderen Feld Platzierten zeigen, wer tatsรคchlich das politische Geschehen seit 1949 geprรคgt hat. Fรผr Jรผngere dรผrfte das die Begegnung mit einer fast unbekannten Welt sein. Und dabei auch mit der Entwicklung einer Republik, die sich im Lauf der 75 Jahre immer wieder verรคndert hat. Manch einer rennt zwar heute noch mit Bewunderung fรผr Leute wie Erhard, Strauร und Dregger herum. Aber mit ihrer Art, Politik zu machen, wรผrden sie heute wie Fremdkรถrper wirken.
Und gerade Wolfgang Schรคuble, der von Kohl bis Merkel Bundespolitik mitgestaltete, benennt in seiner Wรผrdigung fรผr Annemarie Renger, immerhin eine der bekanntesten Politikerinnen der SPD, drei wichtige Dinge, die er sich von Politikerinnen und Politikern besonders wรผnschte (und bei Renger fand) โ die Verรถffentlichung dieses Buches hat er ja leider nicht mehr erlebt: Standhaftigkeit, Ehrlichkeit und Wรผrde.
Wenn tatsรคchlich nur Menschen auf unserem Wahlzettel stรผnden, die das auch in ihrem politischen Agieren verkรถrpern โ Wรคhlen kรถnnte so schรถn sein.
Vielleicht ein bisschen Geschichte machen
Ist es aber bedauerlicherweise nicht. Das wusste auch Schรคuble, der kurzzeitig eben auch als neuer Bundeskanzler gehandelt wurde, nachdem Helmut Kohl รผber seine diversen ausgesessenen Affรคren gestolpert war. Aber diese Belohnung fรผr sein tapferes Durchhalten war ihm nicht vergรถnnt.
Und so werden eben auch ganz menschliche Schicksale sichtbar. Und damit ein Teil von Politik, der meist vergessen wird in der medialen Berichterstattung: Dass hier tatsรคchlich Menschen aktiv sind, fรผr die Politik oft ein ganz elementares Anliegen ist. Ein ganz persรถnlicher Versuch, die Gesellschaft ein bisschen besser zu machen oder ins groรe Rad der Geschichte zu greifen, Geschichte zu gestalten.
Was wirklich bleiben wird, entscheiden sowieso kรผnftige Generationen. Auch kรผnftige Politikergenerationen, die mรถglicherweise die Gewichte in so einem Ranking noch einmal deutlich verschieben, weil sie merken, dass die eine oder der andere mit seiner politischen Arbeit dennoch zukunftsweisender war als so mancher, der heute in (fast) jeder Talkshow zu sehen ist.
ljoscha Kertesz, Bernd Haunfelder (Hrsg.) โDeutschlands bedeutendste Politiker nach 1945โ, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2024, 18,50 Euro.
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