Wer diese Daphne ist, erfährt man natürlich nicht. Darum geht es dem Leipziger Lyriker Bertram Reinecke auch nicht. Ihm geht es nicht um Idyllen oder gar romantische (oder unromantische) Zeitgedichte. Das hat er schon in mehreren Gedichtbänden gezeigt, die er im eigenen Verlag Reinecke & Voß veröffentlicht hat. Ihm geht es um Form. Um Regeln. Er weiß, dass Gedichte aus Sprache entstehen und Regeln dabei helfen, Gedichte „sprechen“ zu lassen.

In seinem Essay, den er dem Band beigegeben hat – „Jedes Gedicht laboriert an seiner eigenen Sprachnot“ –, versucht er das Thema zu greifen. Was nicht ganz einfach ist, denn damit arbeitet er gegen Mühlen an. Und gegen das, was die zeitgenössische Literaturkritik gerade als Norm für das betrachtet, was ein Gedicht ist – und was nicht. Was natürlich ansteckend ist.

Denn solche Vorstellungen vom „richtigen Gedicht“ beeinflussen auch Jurys, die dann natürlich jene Lyrikerinnen am liebsten mit Preisen behängen, die ihre Ansicht nach auf dem neuesten Stand der Gedicht-Verfassung sind. Auch wenn die Texte banal sind. Was soll’s? Hauptsache die neueste Mode.

Und Mode kann streng sein. Und dumm. Und lächerlich sowieso. Und oft schreibt dann ein Literaturtheoretiker nur von anderen ab, heben Kritiker zu Lobgesängen an, obwohl die Gedichte bestenfalls noch die Eingeweihten im Himmel der Gedichtklassifizierung ansprechen. Dass Gedichte ganz anders funktionieren, viel traditioneller und irdischer, das wissen zumindest die Autorinnen, die sich tatsächlich ernsthaft mit dem Stoff beschäftigen.

Heißt: Mit ungefähr 2.500 Jahren Ringen von berühmten und nicht so berühmten Dichtern, eine gebundene Form für das zu finden, was sie in Sprache bringen wollen.

Der Stoff, aus dem Gedichte sind

Formen sind nicht Schall und Rauch. Das merkt jeder, der sich – wie Reinecke – seit Jahren ernsthaft mit klassischen Formen der Lyrik beschäftigt. Und das nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch. Und so findet man diese Formen auch in diesem Band: Sonette, Oden, Elegien, Lieder …

Und nicht nur das. Denn Reinecke nutzt auch den inhaltlichen Stoff vergangener Jahrhunderte, um seine Texte entstehen zu lassen. In einer Passage seines Essays geht er explizit auf das Maschinenhafte möglicher Gedichtproduktion ein, das, was entsteht, wenn einer nur konsequent Regeln anwendet auf jeglichen Stoff.

Woher er den Stoff genommen hat und was er damit angestellt hat, erklärt Reinecke im Anhang in einem umfangreichen Anmerkungsteil. Wer es beim Lesen der Gedichte selbst noch nicht gemerkt hat, stolpert hier über Dylan Thomas, Eichendorff, Brentano usw. Und natürlich über die Dichterinnen und Dichter des 17. Jahrhundert, die Reinecke ja besonders mag, weil sie so eindrucksvoll die gebundene Form pflegten.

Und so schnappt er sich die strengen Formen und ein paar eindrucksvolle Verse und arbeitet daraus neue Texte. Und das Erstaunliche ist: Es funktioniert. Auf einmal begegnen sich die Welt-Erfahrungen des 17. oder 19. Jahrhunderts mit denen eines Autors in der Gegenwart, den genau dieselben elementaren Freuden, Ängste, Besorgnisse umzutreiben scheinen.

Mit Betonung auf scheinen, weil Reinecke selbst auch betont, dass er sich als dichterisches Ich möglichst nicht in seine Texte verirrt. Er hält so manches für einen grandiosen Irrtum, was heutige Rezensentinnen über Subjektivität und Ungewöhnlichkeit schreiben und schreiben und schreiben. All den Kram, den man dann doch nicht in den Gedichten wiederfindet, weil das Streben nach Einzigartigkeit am Ende nur leere Hüllen projiziert hat. Von den inhaltlichen Wüsten der Postmoderne ganz zu schweigen.

Regeln und Würde

Wie kommt also Inhalt in die Gedichte? Produzieren sie diesen gar von selbst, wenn man sie nur einfach durch die Regelmaschine jagt? Nicht unbedingt. Aber das Regelhafte korrespondiert mit etwas, was manche jüngeren Autorinnen nicht sehen wollen – oder können. Denn in der Schule wird es ja auch nicht vermittelt: Dass auch unsere Sprache von der Regelhaftigkeit lebt, dass ihr das Musikalische, Gebundene eingebaut ist und Gedichte das – sofern der Autor Talent hat – hörbar machen. Und sicht- und lesbar sowieso. Es bindet das, was wir sonst „so dahin“ reden, gibt ihm Form und Würde.

Ein Wort, das Reinecke in seinem Essay zwar nicht verwendet. Man muss das Gedichteverfassen nicht genauso verstehen wie er. Doch er beweist mit seiner Auswahl, dass Dichten genau so funktioniert, dass Gedichte immer etwas mit Würde zu tun haben. Denn damit machen sie sichtbar, was sonst weggeplappert wird. Würde und Regel schaffen Aufmerksamkeit – für den Ton, das Erzählte, die Stimmung, das Gefühl.

Und das passiert sogar dann, wenn der Autor nicht einmal eigene Zeilen verwendet, sondern sich freimütig am schon existierenden Material bedient, wohl wissend: Gedichte lauern überall. Oder sollte man sagen: das Poetische?

Was an seinen aus alten Armee-Dolmetscher-Lehrbüchern destillierten Texten („Nur für den Dienstgebrauch!“) deutlich wird. Hier wird das Konkrete sichtbar, so wie die Offiziere im Zweiten Weltkrieg in den besetzten Gebieten fragen mussten, wenn sie etwas über die Lage im Ort erfahren wollten. Das Regelhafte des Frageschemas trifft auf einen begrenzten Wortschatz, der sich auf konkrete Tatbestände reduziert.

Und auf einmal merkt man: Wer nach der Welt fragt, bekommt bildhafte Antworten. Es entstehen dichte Texte, die merken lassen, dass unsere Weltwahrnehmung eigentlich schon Poesie ist. Nur: Die sieht man als Dichter. Für einen verhörenden Offizier sagen die Sätze ganz bestimmt etwas Anderes aus. Das heißt: Der Kontext verändert Text und Wahrnehmung.

Geschundenes Griechenland

Auch das ist so etwas, was viele Lyriker der Gegenwart nicht wissen. So gelesen, klingt Reineckes Essay nicht nur kämpferisch, sondern auch ein bisschen bissig. Denn natürlich leidet einer, der nun wirklich das lyrische Gen hat, darunter, wenn mit falschen Thesen in der Literaturkritik schlechte Lyrik gehypt wird. Oder gar Texte, die eigentlich so saft- und leiblos sind, dass sie mit Poesie gar nichts mehr zu tu haben.

Wobei es auch Reinecke nicht lassen kann, doch eine Handvoll sehr persönlicher Gedichte in das Buch zu mogeln. Die findet man dort, wo er insbesondere seine Liebe zur Lyrik des alten Griechenlands in Verse gießt. Verse, die die antiken Formen von Ode und Elegie auf die desaströse Gegenwart anwenden, eine Gegenwart verbrennender Olivenhaine, ertrinkender Flüchtlinge und katastrophaler Flüchtlingslager wie Moria.

Die Klagen der antiken griechischen Lyriker werden zu Klagen der Menschen im heutigen Griechenland. Und auf einmal merkt man, dass der Ton noch immer stimmt. Dass wir noch immer genauso ausgesetzt und hineingeworfen sind in die Welt, wie die Lyrikerinnen des antiken Griechenlands. Oder wie die jung verstorbene und geniale Dichterin Sibylla Schwarz aus dem 17. Jahrhundert, deren Werk Reinecke inzwischen in einem Doppelband herausgegeben hat.

Entleerte Avantgarde

Eine Würdigung, die Reinecke viel umfassender sieht. Denn besonders erschüttert ihn die Besessenheit des modernen Feuilletons von dem, was so gern Avantgarde genannt wird. Nur halt mit dem falschen Verständnis einer Avantgarde, die jedes Mal alle Brücken hinter sich abbrennt – was Reinecke als regelrechten Zivilisationsbruch versteht.

Denn frühere Avantgarden verstanden sich auch deshalb als Vorhut, weil sie sich auf das Bewährte und die Vorgänger beriefen. Eigentlich macht Avantgarde ohne Vor-Geschichte so gar keinen Sinn. Ihr müsste das Gewordene und das Herkommen eingebaut sein.

„Dass Kunst sich nicht vereinnahmen lassen sollte, ist selbstverständlich, aber eine Avantgarde, die nur zur Beleuchtung der Freiheit ihrer Schöpferin dient, ist, abgesehen von diesem Zweck natürlich, zu nichts zu gebrauchen“, schreibt Reinecke in seinem Essay.

Das Ergebnis wären dann nur noch Markenartikel. Gut vermarktbar. Aber ansonsten ziemlich gehaltlos und herkunftslos. Was zwar jede Menge mit dem heute gepflegten und völlig irren Freiheitsbegriff zu tun hat, wie er auch im politischen Bereich vermarktet wird. Aber am Ende ist es eine armselige Freiheit – ohne Herkunft und Widerhall, nur noch auf sich selbst bezogen.

Da wird dann deutlicher, warum Reinecke so vehement für ästhetische Spielregeln wirbt und gegen den „regelfeindlichen Furor“ („Freiheit wozu?“) spricht. Dafür wirbt er umso emsiger für die kreative Anwendung expliziter Regeln, denn erstaunlicherweise schaffen erst – selbst auferlegte – Regeln tatsächlich die Spielwiese für Individualität.

Sie geben dem dichterischen Sprechen Kontur und Klarheit und zwingen gerade deshalb zum aufmerksamen und deutlichen Sprechen. Da ist das Gegenteil der heute so gern praktizierten Konturlosigkeit, die Texte auch in Beliebigkeit abdriften lässt. Als hätten irgendwelche bekloppten Maschinen sie geschrieben. Logisch, dass Reinecke auch seine dezidierte Meinung zur Fähigkeit von „Künstlicher Intelligenz“ hat, unverwechselbare Poesie verfassen zu können.

So wird das Buch ein bisschen mehr als nur ein simpler Gedichtband. Eher eine eigene Poetologie mit einem kämpferischen Essay, der Form und Regeln in der Dichtung deutlich das Wort redet.
Bertram Reinecke „Daphne, ich bin wütend“ Poetenladen, Leipzig 2024, 19,80 Euro.

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