Hat Geschichte einen Sinn? Oder ist aller Glaube an Fortschritt und Besserung der Menschheit falsch, weil er auf falschen Prämissen beruht? Stecken wir heute wieder in lauter Vorstellungen vom Verfall und Ende der Zivilisation, weil die Versprechungen durch Fortschritt und Wohlstand vor unseren Augen zerplatzen? Das sind einige der Fragen, die sich die Autoren dieses Sammelbandes stellen. Haben gar Zerfall von Kirche und Gesellschaft etwas miteinander zu tun?

Oder zerfallen sie gar nicht? Sondern sind nur Opfer eines Zeitgeistes, der „aufs Tempo beim Aussortieren der ererbten Gedankenmöbel setzt“, wie es Sebastian Kleinschmidt im Prolog zu diesem Essay-Band formuliert?

Neben einigen Politik- und Kulturwissenschaftlern haben vor allem Theologen mitgeschrieben an diesem Band. Es ist ja ihr ureigenstes Problem: Was bleibt von aller Theologie übrig, wenn die Menschen nicht mehr an Gott oder Götter glauben? War es denn nicht eben noch so, dass ohne Glauben die Moral in der Welt nicht funktioniert, wie es Stefan S. Jäger in seinem Beitrag diskutiert?

Mit Bezug auf Hans Joas schreibt er: „Ebenso sei nach Joas aber auch die Ansicht, dass es ohne Religion zu einem Verfall von Werten und Moral komme und eine Gesellschaft ohne Religion desintegriere, empirisch nicht aufzuweisen: ‚Säkularisierung führt bisher nicht nachweislich zu Moralverfall.‘ Vielmehr gibt es einen Vertrauens- und Relevanzverlust im Blick auf die Kirche als moralischer Autorität, der sich bereits im kulturellen Gedächtnis fortsetzt.“

Nicht nur die Philosophen interpretieren die Welt

Es kommt also auch darauf an, woher man auf die „Zerfallserscheinungen“ einer Gesellschaft schaut. Oder – wie es Wolfgang Thierse in seinem Beitrag andeutet: Wir Menschen interpretieren die Welt. Und wenn wir lauter Verfall im Kopf haben, sehen wir nur noch Verfall. „Die Reaktionen auf die Erschütterungen, Infragestellungen und Herausforderungen unseres gewohnten Lebens sind höchst unterschiedlich.

Nichtwahrhabenwollen auf der einen Seite, Verlustwut auf der anderen, trotziges Bestehen auf dem Weiter-so hier und apokalyptische Ungeduld da und in jedem Fall die Erwartung, das Verlangen, dass die Politik schnell handelt, schmerzlose Lösungen, ja Wunder vollbringt. Und da demokratische Politik das nicht so kann, wie gewünscht, nehmen Politikerverachtung und Demokratieverdruss zu.“

Was hier anklingt, wäre eigentlich einen eigenen Essay wert gewesen: die Heilserwartung gegenüber „der Politik“. Eine Erwartungshaltung, die „Heilsbringer“ und „Retter“ geradezu ins Zentrum aller Lösungen rückt. Sind die Menschen also zu blöd, Politik rational und vernünftig zu betreiben?

Das geht, so Thierse – noch mit einem anderen Phänomen einher: Ihn „irritiert die ideologische Überhöhung von Ablehnungen. Sichtbar wird ein problematisches Freiheitsverständnis: Autonomie, (Miss-)verstanden als selbstbestimmte, individuelle Selbstverwirklichung, gilt ja als der höchste Wert unserer Gesellschaft. Regisseur des eigenen Lebens zu sein, das ist ein schönes Bild dafür – und ein verräterisches: Die Anderen, die Mitmenschen sind dann wohl die Assistenten, gar die Statisten meiner Lebensregie.

Freiheit bekommt auf diese Weise Fetisch-Charakter, als habe man sie von Natur aus, als sei sie Eigentum. Und wird so zum Gegenstück des Sozialen, zum Widerpart von Solidarpflichten.“

Haben wir Solidarpflichten gegeneinander? Natürlich. Sie sind der Kitt unserer Gesellschaft.

Gut und frei?

Thierse kommt dann noch ausführlich auf die Identitätsdebatte, die er selbst nach einem Artikel in der „FAZ“ erlebt hatte. Und verpasst eigentlich einen schönen Ausflug in die Welt falsch verstandener Freiheit. Da wäre in diesem Buch nämlich manches schlüssiger geworden. Dann ginge es nämlich auf einmal um die Frage, was Gesellschaft ist. Und was sie zerstört.

Denn die Befunde, die Annette Weidhas in ihrem Beitrag anführt, stimmen ja – und sind erschreckend genug: „Gut und frei? Danach sieht unsere Welt nicht gerade aus. Die Zahl der Menschen, die unter autokratischer und diktatorischer Herrschaft leben müssen oder unter Gesetzlosigkeit und Armut leiden, wird immer größer. Aber auch die Demokratien der westlichen Welt stecken in unzähligen Zwängen und scheinbar unauflösbaren Konfliktlagen, die durch mancherlei Bösewichte verschärft werden.“

Und sie stellt sich eine ganz ähnliche Frage wie Thierse: „Und was ist mit uns selbst als je einzelnem Individuum? Gut und frei, erfolgreich bei der Suche nach dem Glück? Warum wird dann der Ton in unseren gesellschaftlichen Debatten immer rauer, intoleranter und selbstgerechter?“

Thomas A. Seidel beschäftigt sich – auch aus diesem Grund – in seinem Essay mit dem „Unheil der Heilsgeschichte“. An dem die Autoren und Ausleger der Bibel nicht ganz unschuldig sind. Denn so kam ja überhaupt erst die Idee in die Köpfe der Menschen, dass Geschichte einen Sinn haben könnte und am Ende für alle ein Heil stünde. In der Neuzeit und speziell in der Aufklärung wurde das von der Idee eines Fortschritts hin zu einer besseren Gesellschaft und dann in den Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts erst recht zu einer neuen, nun als machbar deklarierten Heilsgeschichte.

Und Seidel weist nicht zu Unrecht darauf hin, dass es vor allem Politiker/-innen sind, die sich dem Wählervolk als Heilsbringer darbieten, die aktuell besonders erfolgreich zu sein scheinen. Er deutet auch an, dass er diese Leute ganz im historisch-religiösen Sinn als „Schwärmer“ versteht.

Leute, die wie die religiösen Schwärmer des Mittelalters entweder eine „aufsteigende religiöse oder säkulare Heilsgeschichte“ verkünden (die dann in der Regel in einer Diktatur endet) oder – alternativ – „eine einlinige, absteigende Unheilsgeschichte.“ Sprich: eine apokalyptische Sicht auf die Welt, nach der alles in Zerfall und Niedergang befunden wird.

Angstmachen und Ent-Mutigen als Politikstil

Wobei einige Beiträge die Apokalyptik gerade da zu entdecken meinen, wo sie eigentlich nicht zu finden ist – bei Fridays for Future und der Letzten Generation (auch wenn deren Selbstbenennung so klingt). Denn beide Bewegungen sind auf Handeln ausgerichtet. Während es vor allem populistische Politiker und Parteien sind, die den Niedergang permanent im Munde führen und das Angstmachen und Ent-Mutigen geradezu zur politischen Performance gemacht haben. Menschen aber, die das Gefühl bekommen, gegen den Niedergang gar nichts mehr tun zu können und mit ihren Ängsten alleingelassen werden, sind nur zu bereit, neuen „Heilsbringern“ nachzulaufen. Auch dann, wenn sie von deren finsteren Botschaften immer tiefer ins Missvergnügen hineingezogen werden.

Da geht die – falsch verstandene – Freiheit ihre unheilige Schwersternschaft mit den propagierten Untergangsgesängen ein.

Was tun?

Das deuten einige Autoren durchaus an. Nicht nur bei der Beschäftigung mit der biblischen Sündenproblematik, die außerhalb der Religion scheinbar keine Rolle spielt. Aber tatsächlich hat sie eine – auch im säkularen Bereich – wirksame Entlastungsfunktion. Denn sie enthebt den Menschen der Verdammung zur gelingenden Freiheit, gesteht ihm Fehler und Schwächen zu, auch Irrtümer und Abhängigkeiten. Und sie ermöglicht es vor allem, die Welt nicht immerzu voller absoluter Erwartungen zu sehen, sondern als eine Welt voller Möglichkeiten.

Wer keine Angst davor hat, Fehler zu begehen (und fehlerhaft zu sein) und vielleicht auch nur kleine Fortschritte zu erreichen, der handelt und probiert auch verschiedene Möglichkeiten aus, auch und gerade dann, wenn die Probleme scheinbar unlösbar riesig sind. Wie die von Menschen erzeugte Klimakrise, welche die Apokalyptiker unter den Populisten lieber leugnen, als auch nur einmal zuzugeben, dass man durchaus versuchen kann etwas zu tun und schlimmste Folgen abzumildern.

Warum geht es eigentlich in einer Gesellschaft?

Und da ist man bei einem Aspekt, der bei Thierse und einigen anderen Autoren freilich nur anklingt – nämlich der Frage nach einer solidarischen Gemeinschaft. Denn die ist unter die Räder gekommen. Und das trifft auch die Kirchen, die ja nicht nur zerbröseln, weil sich längst erwiesen hat, dass der Staat viel besser in der Lage ist, Gerechtigkeit herzustellen in einer Welt, in der es absolute Gerechtigkeit (und absoluten Frieden) nicht gibt.

Die Stärke der einzelnen Essays ist eher, dass sie – aus teilweise sehr theologischer Sicht – den Blick darauf öffnen, worum es in einer Gesellschaft eigentlich geht. Warum Menschen in Krisen trotzdem handlungsfähig und zuversichtlich bleiben können, auch wenn sie nicht wissen können, was am Ende dabei herauskommt.

Das braucht auch die Tugend, die Mitmenschen in ihrem Anderssein respektieren zu können. Mit den Worten von Henning Wrogemann: „Eine plurale, freiheitliche und demokratische Gesellschaft lebt von dem Meinungsstreit der Bürger, um in der diskursiven Auseinandersetzung zu Lösungen zu kommen.“ Was aber, wie er betont, einen „Respekt im Blick auf die Würde der anderen Person“ erfordert.

Was zumindest ahnen lässt, was mit einer Gesellschaft passiert, in der der Respekt vor dem Anderen verloren geht, Abwertungen und Persönlichkeitsverletzungen zur Regel werden und nicht das (gemeinsame) Suchen nach Lösungen zur Politik wird, sondern das Verteufeln des Gegners. Denn dann ist auch ein Ergebnis, dass die politischen Akteure auf einmal in völlig verschiedenen Welten zu leben scheinen. Sie können nicht mehr miteinander reden, weil sie nicht mehr dieselbe Welt teilen.

Die gemeinsame Wirklichkeit

Was Sebastian Kleinschmidt schon im Prolog als eine wichtige Aufgabe beschreibt: „Eine gemeinsame, für alle kenntliche Realität entsteht nur durch Verständigung. Und kann nur durch Verständigung erfahren werden.“

Das darf man durchaus auch als Kritik an den komplett falsch programmierten „Social Media“ verstehen, die diese Vereinzelung in völlig verschiedenen Welt-Blasen geradezu zum Prinzip gemacht haben. „Wo keine Verständigung, dort keine gemeinsame Wirklichkeit, wo keine gemeinsame Wirklichkeit, dort kein Vertrauen. Auch kein Vertrauen in Demokratie.“

Demokratie braucht die gemeinsame Wirklichkeit, sonst zerfällt sie ganz einfach. Und da steht dann auch am Ende des Bandes die Frage: Wo bleibt da die Kirche? Oder ist ihr Problem auch, dass sie sich nicht mehr als Teil der gemeinsamen Wirklichkeit begreift?

Das darf durchaus als Frage stehen bleiben. Auch für all die theologischen Lehrstühle im Land, die meist sehr bibellastig versuchen, den Vertrauensschwund der Kirchen irgendwie aus der um sich greifenden Säkularisierung zu begreifen.

Sebastian Kleinschmidt, Friedemann Richert, Thomas A. Seidel (Hrsg.) „Bild der Welt und Geist der Zeit“ Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2024, 35 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar