Sachsen war 1837 ganz vorn dabei, als es um die Entstehung des Eisenbahnnetzes in Deutschland ging. Damals wurde das erste Teilstück der ersten Ferneisenbahnstrecke von Leipzig nach Dresden in Betrieb genommen. Das ging damals bis Althen. Und die Eröffnung war ein richtiges Volksfest – trotz aller Schwarzmalereien von Leuten, die die rasenden Geschwindigkeiten auf Schienen für des Teufels hielten. Sie behielten unrecht.

Wie so oft in der Geschichte. Aber ihre Nachfahren reden heute eben anderen gequirlten Blödsinn. Wie viel Zeit und Nerven verplempern wir mit den Quacksalbereien von Leuten, die die Realität nicht akzeptieren können und ihr windigen Gedanken für göttliche Eingebungen halten?

Natürlich sieht es um die Eisenbahnen in Sachsen nicht mehr ganz so euphorisch aus wie im Kapitel „Start 1837 – Der Tag des Dampfrosses“, das ja schon mit dem Wort Dampfross daran erinnert, dass damals Pferdegeschwindigkeit für die meisten Menschen das maximal Mögliche bedeutete. Einige Unentwegte glaubten sogar, mit ihren Rössern dem Dampfungetüm aus England Paroli bieten zu können. Doch Pferde und Reiter wurden schon nach kurzer Strecke einfach abgehängt.

Es hatte tatsächlich ein neues Zeitalter begonnen. Und für den Rest des 19. Jahrhunderts würden immer kräftigere Lokomotiven das Tempo vorgeben und Sachsen würde noch vor 1900 das dichteste Schienennetz in Deutschland haben.

Paläste für die Eisenbahn

So ist es auch nicht ganz falsch, Sachsen als Geburtsland der Eisenbahn in Deutschland zu bezeichnen. Einigen dieser Entwicklungen und der dafür verantwortlichen Leute geht Reinhard Münch in diesem 2012 erstmals erschienenen Büchlein nach. Das tatsächlich bei den Lesern auf nachhaltiges Interesse stößt. Denn Eisenbahn ist nicht nur Geschichte. Auch wenn sich die wahren Geschichten fast nur um Geschichte drehen – große, beeindruckende Geschichte, wenn man allein an die großen Bahnhöfe von Leipzig, Dresden und Chemnitz denkt.

Wobei allein der Leipziger Hauptbahnhof ein eigenes Kapitel „Der Palast der Eisenbahn“ bekommt, denn er erzählt nun einmal davon, wie groß und wie großartig Eisenbahn vor 100 Jahren gedacht war, bevor der Schienentransport Mitte des 20. Jahrhunderts massive Konkurrenz durch den Lkw-Transport auf den Straßen bekam.

Kaum noch vorstellbar, dass Reisen für die meisten Menschen bis dahin vor allem mit der Eisenbahn verbunden war. Und teilweise bis weit ins 20. Jahrhundert mit dampfenden Schwerkolossen am Zuganfang. Etliche dieser schweren Maschinen wurden in Sachsen gebaut, sodass auch die sächsische Lokomotivenproduktion ins Bild rückt. Und – im Kapitel „Die Flucht nach Bayern, Böhmen, Budapest“ – auch die Rolle der Eisenbahn als wichtigstes militärisches Transportmittel in den Kriegen von 1866 und 1871. Weshalb natürlich die Preußen so scharf waren auf sächsische Lokomotiven.

Mit der Eisenbahn nahmen die Kriege Europas industrielle Konturen an. Erst so wurden die Materialschlachten der modernen Kriege möglich. Am Ende waren es dann Dampfloks, die beim Aufräumen der Trümmer helfen mussten, worüber Münch im Kapitel „Mit Volldampf durch Leipzig“ erzählt. Zerbombt wurde die Stadt in wenigen Stunden, das Wegräumen der Trümmer mit bis zu 30 Schmalspurloks im Herzen der Stadt dauerte dann aber volle zehn Jahre. Kaum noch vorstellbar ist das Leben der Leipziger in dieser zertrümmerten Stadt, in der die Züge mit den aufgeladenen Trümmern zum Alltagsbild gehörten.

Gefährdete Infrastruktur

Eigentlich ist das eine Mahnung auch für heute – wenn Menschen nicht so vergesslich wären oder die tatsächlich geschehene Geschichte einfach ignorieren würden, während sie wieder von glorreichen Zeiten träumen. Glorreiche Zeiten aber enden immer in Trümmern.

Und dabei ist das menschliche Wirken sowieso schon gefährdet, inzwischen auch durch immer mehr Wetterextreme, die mit dem (von Menschen verursachten) Klimawandel immer unberechenbarer und heftiger werden. Dazu gehörte auch die Flut von 2002, die auch die Eisenbahninfrastruktur im Müglitztal und in Eilenburg an der Mulde zerstörte. Auch das alles fast schon wieder vergessen.

Selbst die Tatsache, dass damals auch der Dresdner Hauptbahnhof überschwemmt wurde und der Eisenbahnbetrieb im Elbtal für Tage unterbrochen war, weil auch die Elbe Rekordhöchststände erreichte und die Bahndämme durchweichte.

2002 war das alles noch frischer als heute, wirkte noch einzigartiger. Heute wird es von vielen anderen Flutkatastrophen überblendet. Als würden wir uns daran gewöhnen, dass teure Infrastrukturen immer häufiger zerstört werden und das alles dann für teures Geld wieder repariert werden muss. Vorsorglich denken ist augenscheinlich keine politische Tugend mehr.

So betont es Münch natürlich nicht, auch wenn er es doch erstaunlich fand, wie gewaltig die Zerstörungen durch das Hochwasser von 2002 allein im Schienennetz waren.

Pünktlichkeit und Verlässlichkeit

Eher ein reines Erinnerungskapitel ist dann die Geschichte des Reichsbahnausbesserungswerks Engelsdorf, das – auch das fast vergessen – aufs engste verbunden ist mit der Entstehung des Fußballclubs Lokomotive Leipzig. Auch das erzählt Münch, dem es am Ende aber auch wichtig ist, auf all die Eisenbahninitiativen in Sachsen hinzuweisen, die vor allem auch die Technik des Lokomotiven-Zeitalters bewahren, aber auch einige der verbliebenen Schmalspurstrecken betreuen, die ohne dieses Engagement längst stillgelegt worden wären.

Heute sind der Wilde Robert und die anderen echte Tourismus-Attraktionen und bedienen ein Zeitgefühl, das heute geradezu gemächlich wirkt in einer Atmosphäre, in der sich alles noch einmal beschleunigt hat, einem Zwang zur Effizienz unterworfen, der mit den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen nichts mehr zu tun hat.

Vielleicht lesen die Menschen deshalb so gern Bücher über die Geschichte der Eisenbahn. Auch aus Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Bahn noch für Pünktlichkeit und Berechenbarkeit stand. Nicht weil man die Bahn heute so mies machen möchte, wie das Zeitungskommentatoren nur zu gern tun. Sondern weil die heutige „Unpünktlichkeit“ Folge eines falschen Denkens über Beschleunigung und Atemlosigkeit ist, der Menschen nur noch zu expedierten Frachtstücken macht, damit irgendwer seine Rendite steigern kann.

Verlässlichkeit ist mit so einem Denken nicht zu schaffen. Auch danach sehnen sich Menschen. Und stehen dann perplex auf dem Bahnsteig, weil der Zug nicht kommt und keiner einem sagt, warum er nicht kommt. Manchmal ist es ein Unfall wie der, der 1913 am Harrasfelsen geschah. Auch dazu gibt es eine Geschichte. Da hätte Reinhard Münch tatsächlich viel, viel mehr erzählen können. Aber dann wäre es auch ein sehr, sehr dickes Buch geworden. So ist es ein kleiner, aber treffender Ausschnitt aus der sächsischen Eisenbahngeschichte, die natürlich noch nicht zu Ende ist.

Denn auch im 21. Jahrhundert zeigt die Eisenbahn immer wieder, dass sie für viele Mobilitätswünsche der Menschen die bessere Lösung wäre. Wären da nicht die Anbeter einer heillosen Individualität, die immer glauben, sie müssten schneller sein als alle anderen und wären deshalb wichtiger.

Das kommt so nebenbei mit zum Tragen, wenn Münch Eisenbahngeschichte erzählt, dass es eben immer ein Gemeinschaftsprojekt war. Und bis heute ist. Trotz aller Streckenstilllegungen und Privatisierungen.

Reinhard Münch „Wahre Geschichten um Sachsens Eisenbahnen“ Tauchaer Verlag, 2. Auflage, Leipzig 2024, 12 Euro.

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