Ja, was ist das nun geworden? Ein Langgedicht? Ein Making-of a Poem? Eine Poetโ€™s Poetry? Das weiรŸ Frieda Paris am Ende auch nicht. AuรŸer, dass sie ihre Leserinnen und Leser mitgenommen hat in ihre Werkstatt, wo sie von Juli 2022 bis Oktober 2023 an diesem poetischen Text gearbeitet hat. Die Werkstatt befindet sich in Wien. Und es ist auch das erste Buch von Frieda Paris, die sehr wohl gelesen hat, was berรผhmte Dichterinnen und Dichter zum Dichten geschrieben haben.

Das zitiert sie auch gern in ihrem langen poetologischen Text, den sie tatsรคchlich mit der Absicht begonnen hat zu erkunden, was denn nun โ€“ fรผr sie selbst โ€“ ein Gedicht ist. โ€ždass dieses erste Buch, an dem ich schreibe / eins wird / das vorwiegend aus Texten besteht, / die ich bereits gedacht habe oder verstreut, / dass es ein poetologisches Buch sein wird.โ€œ

Arbeitsanweisung und Gebrauchsanweisung. Nur: Wie denken sich Dichterinnen das Dichten? Was passiert da? Wie wird aus dem ganz gewรถhnlichen Sprachsalat des Tages ein Gedicht? Also etwas Anderes, etwas, das mehr beinhaltet als die oberflรคchliche Botschaft?

Das haben auch die Berรผhmten nur umkreist. Denen sehr wohl bewusst war, dass man dafรผr ganz bestimmt nicht in ein Lexikon der Literaturwissenschaften schauen darf. Literaturwissenschaftler klassifizieren erst hinterher, wenn das Insekt tot auf der Nadel steckt und nicht mehr weglaufen kann. Und erkennbar wird, dass es in die รผblichen Klassifizierungen nicht passt.

Was bei den meisten guten Gedichten der Fall ist. Denn die erkunden den Raum unserer Weltwahrnehmung. Bis in die Sprache hinein. Etwa das titelgebende โ€žNachwasserโ€œ, das natรผrlich fรผr Verunsicherung sorgt. Ein kaputtes Wort? Ein Schreibfehler? Ein Tastenabrutscher?

Alles, was glรคnzt

Vielleicht. Das ist nรคmlich egal. Manchmal sind es solche Ausrutscher, die uns zeigen, dass unsere schรถne deutsche Sprache (die auch in Wien gesprochen wird) voller Doppelbรถdigkeit und Bildhaftigkeit ist. Gedichte leben von Bildern. Und von unserer Fรคhigkeit, Unschรคrfen und Abgrรผnde zu erkennen. Und Gesagtes und Geschriebenes wรถrtlich zu nehmen.

โ€žals Kind haben mich meine Eltern Elster genannt / was glรคnzte, musste ich eine Weile fรผr mich / haben und halten ins Licht.โ€œ So beginnt Frieda Paris ihre Erkundung รผber das Schreiben und das Zur-Dichterin-Werden. Genau so geht es nรคmlich los. Bildhaft. Anschaulich.

Auch das Erkunden des eigenen Schreibtischs mit seinen Zettelbergen. Und die Erkundung im Nachlass von Friederike Mayerรถcker, aus dem Frieda Paris zwei Archivboxen durchgearbeitet hat. Spurensuche nach dem Poetischen, danach, wie die berรผhmte Mayrรถcker zu ihren Gedichten kam. Und man stolpert natรผrlich darรผber: Gedichte liegen in der Luft. Sie tauchen als Signal in Gesprรคchen auf, als Gedanke am Wegrand, als eine Zeile aus einem Brief, die einen nicht mehr loslรคsst. Das ist das, was die Dichterinnen und Dichter von den gewรถhnlichen Vergesslichen unterscheidet: Sie lassen sich einfangen.

Sie verhakeln sich, stutzen. Sie lassen sich ein auf die Mehrdeutigkeit unseres Lebens. Zu der unsere Sprache geradezu einlรคdt. Unsere Muttersprache. Manche Mรผtter bringen uns Sprache genauso bei: als ein Gespinst von Sagbarem, Denkbarem. Und manchmal braucht man doch Wortmรผtter, wie Paris sie nennt, jene Sprachbegabten, die uns mit ihren Bรผchern zeigen, wie Poesie entsteht. Scheinbar ganz ohne Anstrengung. Als wรคre das ganz leicht.

Was es ja auch ist, wenn man sich โ€“ wie die Autorin โ€“ einfach einlassen kann darauf, was ihre Gedanken ihr eingeben, auf Assoziationen, Anklรคnge, Waschzettel, Wortlisten, Gedankenwege. Und obwohl sie mehrere Dichterinnen und Dichter zitiert (Sarah Kirsch, Paul Celan, Hilde Domin, Ingeborg Bachmann usw.), kehrt sie zu einer immer wieder zurรผck โ€“ zu Friederike Mayrรถcker. โ€žwie soll ich sie nennen? Schmerzlich vermisste Dichterin / :Kรถnigin der Poesie, wie sie in einer Jubelschrift genannt wird.โ€œ

Wortmutter

Sie nennt sie dann einfach Wortmutter. Als kรถnnte man sich mehrere Mรผtter aussuchen โ€“ eine extra fรผrs Dichten und Wortesagen. Zum Weben am Gespinst des eigenen Schreibens, zu dem sich Frieda Paris auch extra noch ein Du ausdenkt. Denn ohne Gegenรผber funktioniert Lyrik nicht, ohne jemanden, der zuhรถrt. In diesem Fall einen Vogel auf der Schulter, der aufmerksamst begleitet, was sie da tut und zusammenwebt.

Die zum Schultersitzer gewordene Ungeduld, die Schreibende auch kennen, auch wenn sie so tun, als hรคtten sie unendlich viel Zeit fรผrs Schreiben. โ€žWann sind wir da? / ich kann dir nicht sagen, mein Vogel / Zeit und Ort nehmen hier andere Rรคume ein โ€ฆโ€œ

Dichterinnen wissen, wie poetisch die moderne Physik von Einstein und Heisenberg ist. Denn das erleben sie jedes Mal, wenn sie schreiben und tatsรคchlich in den flow kommen. Wenn das Schreiben selbst lebendig wird und das Ertastbare zum Greifen nah zu sein scheint. Denn wer anfรคngt, ein Gedicht zu schreiben, weiรŸ nicht, wo ihn das hinfรผhren wird. Es ist eine andere Dimension.

โ€žwieder bin ich in eine Wiederholung gefallen / Variationen davon, lasse sie stehen / am Anfang der Schreibprozesse / der GroรŸen Wortmutter / stand eine Losigkeit / oder verfรผhrerische Wildnisseโ€œ. Denn Schreiben muss man sich trauen. Sich drauf einlassen und vergessen, was in den Rechtschreibรผbungen aus dem Schulbuch stand. Wo Eindeutigkeit gefordert war. Strenge Deutlichkeit. Kein Abirren und Trรคumen. Fรผrs Trรคumen ist meistens im Leben kein Platz. Deswegen gibt es die Dichtung mit ihrer Verwirrnis und Losigkeit.

Sonst kommt es ja zu Unklarheiten. Und Unordentlichkeiten. Wo kรคmen wir da hin?

Pfingstrose

Kinder kennen das noch, denn sie wachsen mit Uneindeutigkeiten auf, bis ihnen einer Ordnung und Disziplin beibringt. Und Sich-an-die Regeln-Halten. Damit brechen Gedichte. Und deswegen erleben wir auch welche, wenn wir noch Kind sind. Es muss nur aufgeschrieben werden. โ€žich habe / seine einzige Pfingstrose / mit einer Schulschere / vom Stรคngel geschnitten.โ€œ

So leicht passiert ein Gedicht. Davon sind etliche eingestreut in das, was unter Frieda Parisโ€™ Hรคnden dann doch irgendwie zu einem Poem in progress geworden ist, einem Werkstattgedicht, in dem sie versucht, das Dichten selbst zu fassen. Was einfach nicht gelingt. Weil es sich nicht fangen lรคsst. Jeder spรผrt, wenn etwas poetisch geworden ist. Aber wenn man es seziert, hรถrt es auf zu glitzern. So ist das.

Und deshalb erfindet sich jeder Dichter praktisch eine eigene Poetik. Und hรคlt sich nicht dran. โ€žWie weit gehst du fรผr das Schรถneโ€œ, fragt Paris nach dem kleinen Pfingstrosengedicht. โ€žweit / zu weitโ€œ.

Man kรถnnte auch hinzufรผgen: Nie weit genug. Das ist nรคmlich das Beunruhigende beim Gedichteschreiben, dass immer etwas รผbrig bleibt, etwas sich nicht fangen lรคsst mit Worten. Manchmal fehlen einem einfach die Worte. Oder sind einem noch nicht ausgerutscht.

Sodass man merkte: Es gibt auch Abwege und Umwege. Oder Erschรผtterungen und รœberraschungen, sodass sich ein ganz anderes Gedicht auftut, dem man folgen kann. Wenn man sich nur traut, die ausgetreteten Wege zu verlassen. Die Poesie also im Jetzt zuzulassen, in Zettelkรคsten oder den Worten groรŸer Wortmรผtter.

Mayrรถcker bleibt drin

โ€žeiner sagt: nimm die Mayrรถcker raus / ich sage: Nein / in eine Sprache spuren und aus ihr heraus.โ€œ

Denn manchmal lehren uns die Anderen, wie man zu Sprache kommt. Wo man (wieder) sprechen lernt in der Fรผlle der Sprache, die man sich wiederholen muss, wenn man groรŸ ist. Deswegen hat sie die Mayrรถcker natรผrlich nicht aus dem Text genommen. Im Gegenteil. Im Grunde ist es der Versuch, die Verlorene wiederzufinden und ins Gedicht zu holen. Wenn auch nur zitatweise.

Suchend, wie das nun einmal ist, wenn sich eine auf den langen Weg macht, eine Poetik zu schreiben mitten aus dem Leben heraus. Was sie dabei findet, ist zumindest das, was uns im Alltag meistens fehlt: die Poesie unseres Sprechens und Denkens. Und das Gefรผhl dafรผr, dass wir in Poesie leben. Und nicht nur in lauter elenden Notwendigkeiten.

Eine Lockerungsรผbung fรผr alle, die lรคngst das Gefรผhl haben, dass ihnen etwas fehlt im Leben: das schรถne Uneindeutige, das selbst das Gewรถhnliche glitzern lรคsst, das uns passiert. Denn wenn wir es aus der Kiste nehmen und genauer anschauen, merken wir erst, dass es glitzert. Es ist uns tatsรคchlich passiert. Und wem erzรคhlen wir das jetzt? Wer hรถrt zu? Die Frage, die alle Dichterinnen bewegt. Einer muss zuhรถren. Sonst klappt das nicht.

Frieda Parisโ€žNachwasserโ€œ Voland &; Quist, Berlin und Dresden 2024, 22 Euro.

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