Es gibt Leute, die fahren nur wegen Bayern München nach München. Aber die Stadt hat mehr zu bieten. Im Grunde ist es die ins Bayerische übersetzte Version von Dresden als Residenzstadt: noch viel größer, noch viel bombastischer, noch prahlerischer. Wie alte Fürstengeschlechter eben so sind, wenn sie die einfachen Leute mit Pomp und Schmackes beeindrucken wollen. Und so braucht Christina Meinhardt auch drei Spaziergänge, um das Wichtigste zu zeigen.
Der erste Spaziergang hat es schon in sich, denn er führt vom Marienplatz bis zur Theatinerkirche und berührt dabei kurz vorm Ziel auch noch den Hofgarten und die riesige Residenz der Wittelsbacher, die wohl größte Residenz, die sich deutsche Fürsten in ihren auserkorenen Residenzstädten je gebaut haben. Da kommen auch die Wettiner nicht mit. Auch nicht, was die Zahl der Museen betrifft, die in ihren alten Prachtbauten entstanden sind. Allein eine Tour durch alle von Christina Meinhardt vorgestellten Museen und Sammlungen dürfte den München-Besucher einen Monat lang beschäftigen.
Und ihn mit der Frage konfrontieren: Was sammeln die Leute eigentlich alles? Gemälde, Skulpturen und Kleinodien – das ist klar. Sie zeigen den Wittelsbacher Reichtum und ihren Anspruch, zu den führenden Fürstengeschlechtern Deutschlands gehören zu wollen. Im Residenzmuseum, im Antiquarium, im Reichen Zimmer und im Kaisersaal ist das alles in barocker Pracht zu besichtigen.
Und der Kaisersaal ist nicht nur Anspruch – zwei Wittelsbacher waren ja tatsächlich einmal Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, auch wenn der zweite dann gegen die Habsburger den Kürzeren zog.
Lauter Pinakotheken
Aber auch der zweite Spaziergang fordert den Neugierigen, der kein Museum und keine Ausstellungshalle auslassen kann. Mit Neuer, Alter und Pinakothek der Moderne ist er mittendrin im von den Wittelsbachern geschaffenen Museumsquartier. Spätestens hier merkt er, wie sich die Wittelsbacher ihre Residenzstadt schufen samt Prachtstraßen und opulent durchgeplanten Museumsquartieren.
Natürlich prägt so etwas die Selbstsicht der Leute. Das ist ja in Dresden mit seiner königlichen Vergangenheit nicht anders. Nur dass für gewöhnlich die Geschichte dazwischenfunkt und ihre Spuren hinterlässt. So wie die Novemberrevolution 1918, welche die Wittelsbacher genauso entthronte wie in Sachsen die Wettiner. Und beinahe hätte die deutsche Geschichte eine andere Wendung genommen.
Denn mit Kurt Eisner (nach dem auch in Leipzig eine Straße benannt ist) war die Bayerische Republik auf dem besten, nämlich einem progressiven Weg. Doch der USPD-Ministerpräsident wurde schon am 21. Februar 1919 von Anton Graf von Arco auf Valley auf dem Weg zur Konstituierung des Landtags ermordet. Einer der frühen Morde, mit denen die Ewiggestrigen hunderte liberale Vertreter der Weimarer Republik töteten und damit die junge Republik immer mehr auf ein zerstörerisches Gleis führten.
In Bayern bedeutete das – erst recht nach dem Sturz der Räterepublik – eine zunehmend konservativere Regierung. Und den ersten Knackpunkt, an dem die Republik in Gefahr geriet, gab es dann 1923 mit dem Putschversuch durch Hitlers NSDAP. Der zwar von der Polizei gestoppt wurde. Aber das verhinderte nicht, dass die Nazis zehn Jahre später München zur „Hauptstadt“ ihrer Bewegung machten und die Feldherrnhalle zur Hitlergruß-Stätte umfunktionierten.
Vom Siegestor zum Isartor
Das darf man dann wohl eine widersprüchliche Geschichte nennen. Damit müssen Städte wie München leben. Mancher wird deshalb wohl auch eher Spaziergang Nummer 3 bevorzugen, der vom Siegestor bis zum Isartor führt. Mit Englischem Garten, Bayerischem Nationalmuseum, Museum Fünf Kontinente und Deutschem Museum.
Das letzte liegt dann schon auf der Museumsinsel in der Isar, womit dann auch dieses Flüsschen zur Geltung kommt, das die Münchner schon früh der wilden Freiheit überlassen haben, sodass es heute zum Baden und Erholen einlädt. Da kann dann Dresden genauso wenig mithalten wie Leipzig. Man könnte ein bisschen neidisch werden. Oder sich einfach freuen, dass das Isartor noch steht, das von der einstigen Münchner Wehrhaftigkeit erzählt. Aber nicht nur.
Denn genau hier hat das Valentin-Karlstadt-Museum seine Heimstatt gefunden. Und da weiß man endlich, wofür es sich wirklich lohnt, nach München zu fahren: wegen Karl Valentin und Liesl Karlstadt, das „berühmteste deutsche Komikerduo“, wie Christina Meinhardt schreibt. Das sich so herzlich abhebt vom sonst in Bayern gepflegten Humor (der mehrfach auf den drei Spaziergängen erwähnt wird, weil allerorten alle möglichen Volksspaßmacher gewürdigt werden).
Aber Valentin und Karlstadt unterliefen diese ganze Volkstümelei gründlich und den biederen Alltagssinn des braven Bürgers sowieso. Weshalb sie auch von Leuten wie Brecht, Tucholsky und Feuchtwanger gewürdigt wurden.
Es sind nicht nur Völkerschaften, die sich selbst viel zu ernst nehmen. Denn wenn sie sich ernst nehmen, werden sie nostalgisch und jammern sich in eine schön angemalte Vergangenheit zurück. Das wusste schon Valentin besser, wenn er in aller Trockenheit sagte: „Die Zukunft war früher auch besser.“ Und mancher Dampfplauderer in deutschen Parlamenten würde erröten, wüsste er, dass auch dieser Spruch von Karl Valentin stammt: „Es ist alles schon gesagt, nur noch nicht von jedem.“
Auf der Seite der Sieger
Das Siegestor haben die Bayern übrigens nicht für Franz Beckenbauer gebaut, sondern als ruhmreiche Erinnerung an den Sieg über Napoleon – obwohl sie genauso wie die Sachsen die meiste Zeit schön mit dem Kaiser der Franzosen marschiert sind, aber kurz vorm Finale noch schnell die Kurve kriegten und auf der anderen Seite kämpften. So wird man auch zum Sieger der Geschichte. Auf bayerische Weise.
Unterwegs erinnert Christina Meinhardt auch noch an solche Münchner Sonderbarkeiten wie die Brezenreiter die Weißwurst und den hier heimischen Blauen Reiter (das Pendant zur Dresdner Künstlergruppe „Die Brücke“). Und man begegnet Leuten, die zu dieser Stadt gehörten – wie Franz Josef Strauß, der hier polterte und regierte, oder Hans Magnus Enzensberger, der hier einige der schönsten Essays in deutscher Sprache schrieb.
Eine Stadt der Widersprüche eben, die einst aus einem simplen pekuniären Grund genau hier „bei den Mönchen“ gegründet wurde: nämlich als Zollstation an einer von Heinrich dem Löwen gebauten Brücke über die Isar, über die die bayerische Salzstraße führte. Vorher hatte der Bischof Otto von Freising mit seiner Brücke die schönen Zölle kassiert, bevor Heinrich seine Brücke zerstörte.
Das erfährt man natürlich gleich in der Einführung „München gestern und heute“, die ihre Pointe in „bierseliger Gemütlichkeit“ findet. Aber eigentlich fährt man doch lieber wegen Karl Valentin und Liesl Karlstadt an die Isar. Auch aus einem Gefühl heraus, dass es solche Typen heute nicht mehr gibt. Die Leute, die es sonst so gibt, nehmen sich viel zu ernst. Und das Schlimme ist: Die meinen es auch noch so.
Christina Meinhardt „München“ Lehmstedt Verlag, Leipzig 2024, 9 Euro.
Keine Kommentare bisher