Leipzig ist eigentlich eine überschaubare Stadt. Dass sie trotzdem zu den zehn größten Städten Deutschlands gehört, merkt man meistens erst, wenn man die doch sehr überschaubare City verlässt und über den Promenadenring ausschwärmt. Was den Lehmstedt Verlag schon vor einiger Zeit dazu veranlasste, eine besondere Reihe mit Stadtteilspaziergängen aufzulegen. Und diesmal geht’s in einen Ortsteil, von dem für gewöhnlich – obwohl citynah gelegen – kaum mal die Rede ist.
Auch geschichtlich bedingt. Denn die städtebaulichen Entwicklungen in der Nordvorstadt begannen viele Jahrzehnte später als in der Südvorstadt oder der Ostvorstadt, zu denen solche Spaziergänge auch schon vorliegen. Auch in der Westvorstadt setzten die Entwicklungen früher ein, während der Norden des alten Leipzig noch lange Zeit vom heute fast vergessenen Gerberviertel dominiert war, wo die Leipziger Gerber hier außerhalb der Stadtmauern ihrem doch sehr geruchsintensiven Handwerk nachgingen.
Einen wirklich wahrnehmbaren architektonischen Punkt setzte hier zwar schon der Bankier Eberhard Heinrich Löhr mit seinem Palais, aus dem später das heute noch existierende Hotel Fürstenhof wurde. Aber eine richtig noble Wohngegend wurde das lange nicht.
Dafür entstanden hier markante Infrastrukturen, die das Quartier geraume Zeit prägten – wie das Stadtbad, die Stadtwerke mit ihrer großen Gasanstalt, Ernst Pinkerts Ausflugslokal mit seinen Tierschauen, aus denen später Zoo und Kongresshalle hervorgingen, und die Kasernenanlagen, welche die nördliche Nordvorstadt lange Zeit zu einem Militärstandort machten.
Die dabei gebauten Kommandanturen findet man heute organisch im Häuserensemble eingerahmt. Hier stampft kein Militär mehr, kein Offizier brüllt seine Mannschaften zusammen.
Kirchen, Volkshochschule, Synagoge
Aber natürlich begegnet man mit Heinz Peter Brogiato und Katja Haß auf dem Spaziergang auch dieser Geschichte. Und damit auch der langen Suche der Nordvorstadt nach einem eigenen Gesicht. Zwar kamen Ende des 19. Jahrhunderts die Stadtplanungen endlich auch zu Ergebnissen. Aber nein, so richtig denkt man selbst auf dem geometrisch angelegten Nordplatz mit Michaeliskirche und Leibniz-Gymnasium nicht daran, dass das hier irgendwie der Mittelpunkt des Ortsteils sein könnte.
Dass es trotzdem mehr als das zu entdecken gibt, wird deutlich, wenn man nicht nur das Hochhaus der Sparkasse in Löhr’s Carré umrundet oder das einst von Japanern errichtete Hotelhochaus „Westin“. Man lernt auch die Leipziger Volkshochschule und ihre Geschichte kennen, die zum Glück verschonte Brodyer Synagoge und die Reformierte Kirche am Nordrand des Quartiers, von deren Turm aus am 9. Oktober 1989 der beeindruckende Demonstrationszug der Leipziger gefilmt wurde.
Man muss nur losgehen und genauer hinschauen. Auf einmal wird Geschichte sichtbar. Manchmal auch nicht. Wie am Zoo-Parkhaus, wo man das kriegszerstörte König-Albert-Gymnasium erinnern könnte und damit über einen Lausbuben namens Hans Gustav Bötticher stolperte, besser bekannt als Ringelnatz. Hier hat er getagträumt, aber man sieht’s nicht mehr.
Likörfabrik, Naturkundemuseum und ein unfertiges Hotel
Davon leben ja manche Stadtquartiere, dass man um ihre einstigen Bewohner und Besucher weiß. Die berühmte Gaudigschule wird gestreift, Hugo Gaudig gewürdigt, den die Schülerin Gerda Taro hier nicht mehr kennenlernte. Auf einmal werden Persönlichkeiten sichtbar, die hier lebten und arbeiteten – wie der Gremanist Georg Witkowski, der Maler Werner Tübke, der Musikinstrumentenbauer Ludwig Hupfeld und Zoogründer Ernst Pinkert.
Natürlich gibt es sie, diese Menschen, die hier namhaft tätig waren. Bis hin zu Wilhelm Horn, mit dessen Namen noch heute die ehemalige Likörfabrik in der Prellerstraße und der Leipziger Allasch verbunden sind.
40 Stationen läuft man mit diesem Büchlein ab und hat hinterher wirklich ein Stück Leipzig für sich entdeckt, das eher selten einmal Aufmerksamkeit bekommt. Auch nicht die der Entdeckungsfreudigen, die durchaus aufhorchen, wenn ihnen die Geschichte des ehemaligen MDR-Funkhauses in der Richterstraße erzählt wird, die von ehemaligen Kommandanturen und Intendanturen, von Kippenbergs Villa oder vom Herder-Institut, wo seit 70 Jahren sprachliche Brücken geschlagen werden.
Kurz berührt werden auch die Alte Burg (die hier möglicherweise ja mal stand) und die Blaue Mütze (die erst durch einen Leipziger Kabarettisten blau geworden ist). Und auch das markante Naturkundemuseum wird nicht ausgelassen, genauso wenig wie das einst berühmte Hotel Astoria, von dem der Bucheintrag tatsächlich hofft, dass es bis Ende 2025 umgebaut werden könnte. Wonach es aber derzeit gar nicht aussieht.
Und weil viele einzelne Stationen noch keinen Ortsteil ergeben, führt auch in diesem Büchlein ein kleiner historischer Exkurs in die Geschichte der Nordvorstadt ein, erwähnt Kammgarnspinnerei, Robotron und Ring-Messehaus. Da dürfte selbst so mancher Leipziger stutzen, weil er davon noch nichts wusste. Oder es vergessen hat, weil er lange nicht da war. Oder einfach nur gedankenlos durchgefahren ist durch Pfaffendorfer Straße oder Gerberstraße.
Es gibt ja kein Schild, das einen daran erinnert, dass man gerade in der Nordvorstadt unterwegs ist.
Heinz Peter Brogiato, Katja Haß „Leipziger Spaziergänge. Nordvorstadt“ Lehmstedt Verlag, Leipzig 2024, 7 Euro.
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