Wir haben nur dieses eine Leben. Den meisten Menschen ist das sehr wohl bewusst. Doch sie leben nicht danach. Nur zu gern laufen sie Propheten und Fรผhrern hinterher, die ihnen ein Glรผck jenseits der Horizonte versprechen. Oder Reichtum so unerhรถrt, dass sie darin ersaufen wie Kรถnig Midas. 2019 hat Martin Hรคgglund dieses Buch in New York verรถffentlicht. Es hรคtte unsere politischen Diskussionen รคndern kรถnnen. Doch das hat es nicht getan.

Und das hat Grรผnde. Genau die Grรผnde, die der Professor fรผr Humanities an der Yale University in diesem Buch benennt. Ein Buch, das Philosophien und Weltsichten zusammenbringt, die sich an Lehrstรผhlen so eigentlich nie begegnen. Was auch damit zu tun hat, dass an ziemlich vielen Lehrstรผhlen der Philosophie, der Theologie und der ร–konomie ein falsches Bild von der Welt verkรผndet wird. Es sitzt in unseren Kรถpfen. Und mit Bezug auf unser รถkonomisches Denken hat es fatale bis katastrophale Folgen. Die Zerstรถrung unserer Lebensgrundlagen gehรถrt dazu.

Worauf Hรคgglund im zweiten Teil des Buches sehr intensiv zu sprechen kommt. Denn Worte wie Wachstum, Globalisierung, โ€žschlanker Staatโ€œ und โ€žWohlstandโ€œ gehรถren seit Jahrzehnten zum offiziellen Glaubensrepertoire, mit dem Regierungen eine Politik betreiben, die unser Klima und unsere Lebensgrundlagen immer weiter zerstรถrt, den sozialen Zusammenhalt zerfrisst und die Ressourcen vernichtet, die uns allen eigentlich ein gutes Leben ermรถglichen kรถnnten.

Was man bei Karl Marx tatsรคchlich findet

Und auch โ€žlinkeโ€œ Parteien spielen das รผble Spiel mit. Und das auch deshalb, weil ihre Sprecher den Urvater linken Denkens, Karl Marx, nicht gelesen und auch nicht verstanden haben. Genau diesen Karl Marx, den die siegreiche CDU 1990 fรผr tot erklรคrte. Was ganz einfach war, denn auch die Genossen selbst haben ihn da schon lange nicht mehr gelesen.

Schon gar nicht mit dem aufmerksamen Blick eines Martin Hรคgglund, der sich gefragt hat: Was hat dieser Marx eigentlich wirklich gefragt und untersucht? Worum ging es ihm eigentlich? Um eine Revolution, um die so viel zitierte โ€žDiktatur des Proletariatsโ€œ? Um dauernde Klassenkรคmpfe? Oder gar kommunistische Ein-Parteien-Diktaturen?

Nichts dergleichen. โ€žDer Schlรผssel zu diesem Verstรคndnis des Versprechens eines sรคkularen Lebens findet sich im Werk von Karl Marxโ€œ, schreibt Hรคgglund gleich in seiner Einleitung. โ€žMarxโ€™ Denken wird oft mit den totalitรคren kommunistischen Regimen des 20. Jahrhunderts gleichgesetzt, doch ich mรถchte zeigen, dass er der wichtigste Erbe der sรคkularen Verbindung von Freiheit und Demokratie ist. Im Gegensatz zu Weber und anderen politischen Theologen sehnte sich Marx nicht nach einer vormodernen Welt.โ€œ

Aber bevor Hรคgglund zu Marx kommt, beschรคftigt er sich ausfรผhrlich mit dem, was er sรคkularen Glauben nennt. Ein Glaube, der anders als die Religionen dieser Welt den Menschen nicht auf ein Reich jenseits des eigenen Lebens vertrรถstet, auf irgendein Nirwana, in dem dann alle Sorgen verschwunden sind, die Seele nur noch Hosianna singen muss.

Und sonst? Natรผrlich hat Hรคgglund recht, wenn er alle gรคngigen Vorstellungen vom Leben nach dem Tod fรผr stinklangweilig, entsetzlich und beklemmend hรคlt, eigentlich alles โ€žErlรถsungsโ€œ-Bilder, die selber tot sind. Denn was sind wir noch, wenn wir uns nicht mehr sorgen, wenn nichts mehr einen Sinn hat, weil es nichts mehr gibt, um das man kรคmpfen kann und um das man fรผrchten muss?

Unser endliches Leben

Und ausfรผhrlich geht Hรคgglund mit vielen Zitaten von weltberรผhmten Philosophen und Theologen darauf ein, dass sie allesamt ein falsches Bild vom Leben zeichnen. Eines Lebens, das nur deshalb einen Sinn hat, weil es endlich ist, weil wir alle wissen, dass uns nur eine kurze Zeit auf dieser Welt gegeben ist, eine gefรคhrdete Zeit, in der uns Unglรผcke und Glรผck passieren, Mรผhsal und Freude, haufenweise Dinge, mit denen wir nicht rechnen.

Aber wir wissen alle, dass wir genau in dieser kurzen Spanne das tun sollten, was uns wirklich wichtig ist, was uns glรผcklich macht, bereichert und froh, am Leben zu sein.

Nichts an der Ewigkeit ist erstrebenswert, stellt Hรคgglund fest. Und geht ausfรผhrlich auf zwei der faszinierendsten Autoren ein, die mit ihren Bรผchern gezeigt haben, dass alles, was im Leben wirklich wichtig ist, genau darin passiert.

Oder passiert ist โ€“ selbst in Momenten, in denen wir es gar nicht gemerkt haben. Das brachte Marcel Proust dazu, seinen mehrbรคndigen Roman โ€žAuf der Suche nach der verlorenen Zeitโ€œ zu schreiben, in dem er rรผckblickend nach all den Momenten sucht, die eigentlich das Leben seines Romanhelden Marcel gewesen sind.

Und wรคhrend Proust im Nachhinein versucht, das vergangene Leben in einer Intensitรคt zu erfassen, wie sie zuvor kein Schriftsteller festgehalten hat, hat der Norweger Karl Ove Knausgรฅrd in seinem โ€žMin Kampโ€œ-Zyklus mitten in seinem Leben als Mann, Vater und Schriftsteller angesetzt und praktisch live erkundet, was fรผr ihn eigentlich das Leben ist.

In einer intensiven Selbstbefragung, die auch die Frage einschlieรŸt, wie sehr jeder fรผr sich verantwortlich ist fรผr das, was er lebt, tut, verwirklicht. Auch fรผr und mit den Menschen, die ihm ans Herz gewachsen sind.

Freiheit ohne Abhรคngigkeit gibt es nicht

Denn Leben besteht aus Begegnungen, aus Nรคhe, Berรผhrungen und Sich-abhรคngig-Machen von Anderen. Man steckt mit seinen ganzen Gefรผhlen mittendrin โ€“ und lรคsst sich damit auf alle Gefรคhrdungen ein, die uns Angst und Sorge machen.

Und genau das ist der Punkt, an dem sich richtiges, erfรผlltes Leben von all den Heilsversprechungen der Religionen und der modernsten Religion, der von Konsum und Profit, unterscheidet, die allesamt darauf zielen, das intensive Leben im Jetzt zu entwerten und die Menschen auf ein leidloses Danach vertrรถstet. Auf ein Glรผck, das man sich kaufen kann. Komsumieren statt Verletzungen riskieren.

Doch tatsรคchlich ist es unser Wissen um unsere Endlichkeit, die unserem Leben erst Tiefe und Wert verleiht. Wir sind nur kurz da. Und wir kรถnnen alles verlieren, was uns wichtig ist. โ€žNur wer von der Zeit aufgerissen wurde, kann bewegt und berรผhrt werdenโ€œ, schreibt Hรคgglund. โ€žNur wer sterblich ist, kann das Wunder spรผren, am Leben zu sein.โ€œ

Und deshalb funktionieren alle Philosophien und Theologien nicht, mit denen heute immer noch gefeierte Denker uns einreden wollen, Ziel von Glauben mรผsste die Befreiung von Verlust und Schmerz sein. Intellektuell mag das fรผr Leute wie Augustinus und Kierkegaard gelungen sein. Im realen Leben aber ganz bestimmt nicht. Denn gerade der Verlustschmerz macht uns โ€“ mit aller Heftigkeit โ€“ klar, dass wir etwas verlieren, was uns wirklich wichtig war.

Erst der Schmerz zeigt uns, wie sehr wir etwas oder jemanden geliebt haben. Man kann das Geliebte nicht verlieren, ohne diesen Verlust zutiefst zu spรผren. Weshalb auch all die Grabsprรผche nicht funktionieren, der oder die Tote seien jetzt in einer โ€žbesseren Weltโ€œ. Denn auch fรผr die Hinterbliebenen gilt nun einmal: Die Verstorbenen sind nicht mehr da. Das Beglรผckende ihrer Anwesenheit ist nicht mehr erlebbar.

Vergรคnglichkeit und Fรผrsorge

Weshalb Hรคgglund von all den Trรถstungs-Philosophien gar nichts hรคlt. Sie trรผgen. Sie gaukeln uns etwas vor, was im realen Leben keinen Sinn ergibt, weil es uns ablenkt davon, dass zur ganzen Intensitรคt unseres Daseins eben nicht nur Glรผck und Freude gehรถren, sodern auch der tiefe Schmerz, wenn wir Geliebte darin verlieren.

Und das alles ergibt natรผrlich eine andere Art Glauben, der ganz auf dieses Leben im Jetzt gerichtet ist, auf seine Gefรคhrdung und โ€“ mit Blick auf den riesigen Kosmos, in dem wir mit unserem winzigen Planeten kreisen โ€“ seine Einmaligkeit. โ€žDas ist der Kern des sรคkularen Glaubensโ€œ, schreibt Hรคgglund, als er sich mit der Interpretation Kierkegaards von einer der beklemmendsten Stellen in der Bibel beschรคftigt: der Opferung Isaaks durch Abraham.

Denn mit dieser Gottesunterwรผrfigkeit, mit der Abraham seinen Sohn auf den Schlachtaltar legt, haben die Menschen seit 2.500 Jahren ihre Probleme. Es ist eine entsetzliche Szene. Denn tatsรคchlich denken wir alle ganz anders. So wie es Hรคgglund schreibt: โ€žEs lohnt sich, um das, was man liebt, zu kรคmpfen, obwohl es vergรคnglich ist und eben wegen dieser Vergรคnglichkeit der Fรผrsorge bedarf. Im Gegensatz dazu macht die doppelte Bewegung des religiรถsen Glaubens Abraham hinsichtlich Isaaks Endlichkeit gรคnzlich verantwortungslos.โ€œ

Man merkt schon, wie Hรคgglund seine Leser wirklich an die Hand nimmt und zeigt, dass Religionen den Menschen gar nicht erlรถsen kรถnnen, ihn bestenfalls zur Unterwerfung unter โ€žGottโ€œ bringen und damit zum klaglosen Hinnehmen des Schicksals. Und zu einem Weltbild, das mit der Realitรคt nichts zu tun hat, eine Realitรคt, die uns nicht von irgendeiner hรถheren Macht auferlegt ist (die dann nichts Blรถderes will, als uns fรผr unsere โ€žSรผndenโ€œ auch noch leiden zu lassen), sondern das eine Geschenk ist.

Ein Wunder, wenn man bedenkt, wie jedes einzelne Kind mit der Geburt zum Leben erwacht und staunend in einen Kosmos schaut, der unfassbar scheint, voller Mรถglichkeiten und รœberraschungen.

Die Reiche von Freiheit und Notwendigkeit

Und da ist man dann bei Karl Marx, der sich eigentlich in all seinen dicken Bรผchern mit der Frage beschรคftigt hat, wofรผr wir eigentlich leben und arbeiten, wofรผr also die Gesellschaft da ist und unsere wirtschaftliche Organisation, in der sich schon zu Marxโ€™ Zeiten die Menschen entfremdet fรผhlten, gezwungen, ihre Lebenszeit der Arbeit zu opfern, genauer: der Lohnarbeit.

Denn Lohnarbeit definiert die รถkonomischen Verhรคltnisse in der kapitalistischen Gesellschaft, die Marx eigentlich nur in ihren Anfรคngen erlebte โ€“ aber eben das Wesentliche schon sah und hinterfragte. Und in unheimlicher Detailliertheit analysierte, wie der Kapitalismus funktioniert und warum er so und nicht anders funktionieren kann.

Und warum nicht nur das permanente โ€žWachstumโ€œ geradezu der Heilige Gral dieser Gesellschaftsform ist, sondern auch der Zwang dazu, immer mehr Bereiche der Welt und des menschlichen Lebens der Verwertung zu unterwerfen, immer neue Geschรคftsfelder zu erschlieรŸen โ€“ bis in den Privatbereich hinein โ€“ und damit der Schaffung von Profit zu unterwerfen.

Was eigentlich dazu fรผhren mรผsste, dass durch immer effektivere Produktion die Bedรผrfnisse aller Menschen immer besser und schneller abgedeckt werden kรถnnten, die Menschen also mehr Zeit fรผr sich selbst haben mรผssten. Das โ€žReich der Freiheitโ€œ also, in dem wir als Menschen tรคtig werden, weil wir im Tรคtigsein Erfรผllung und Selbstbestรคtigung finden, mรผsste also wachsen, das โ€žReich der Notwendigkeitโ€œ, in dem wir fรผr den simplen Erhalt unseres Lebens schuften mรผssen, mรผsste hingegen schrumpfen.

Doch wir erleben das Gegenteil: Immer stรคrker dringt die Vermarktung all unseres Lebens in unseren Alltag ein, wir leben โ€“ wenn auch auf vรถllig andere Art als die Proletarier zu Marxโ€™ Zeiten โ€“ in einem Dauerstress, der uns auch kรถrperlich signalisiert, dass wir immerzu im โ€žReich der Notwendigkeitโ€œ und der Zwรคnge, Geld zu verdienen, leben. Aber das, was unserem Leben tatsรคchlich Wert verleiht โ€“ das selbstgestaltete Leben, in dem wir uns als Mensch verwirklichen, schrumpft, ist fรผr viele Menschen gar nicht mehr wahrnehmbar.

Entfremdete Zeit

Das ist genau die Stelle, an der unser endliches Leben mit einem Wirtschaftsprinzip kollidiert, das freie Zeit nicht als Wert begreifen kann und deshalb alle erreichbaren Ressourcen verschlingt, um immer mehr Gรผter zu produzieren und Profit zu machen. Und das steckt lรคngst in unseren Kรถpfen und auch im Handeln und Denken unserer Politik, dass โ€žWachstumโ€œ immerfort das oberste Ziel sein sollte und mit ihm die komplette Verwertung menschlicher Arbeitskraft bzw. menschlicher Zeit.

Denn es ist unsere Lebenszeit, die da verwertet und verwurstet wird, die wir opfern, um dem Wachstumswahnsinn einer Gesellschaft zu genรผgen, die gar nicht mehr weiรŸ, wofรผr wir eigentlich auf der Welt sind.

โ€žUm ein Leben zu fรผhren, mรผssen wir in irgendeiner Form praktisch รผberlegen, was wir tun sollten und weshalb wir es tun sollten,โ€œ schreibt Hรคgglund. โ€žDiese Frage verstehen wir nur, wenn wir unser Leben fรผr zu kurz halten. Weil wir die Begrenztheit unserer Lebenszeit als Problem sehen, kรถnnen wir uns fragen, wie wir es verbringen sollten. Wรคre sie kein Problem und stรผnde fรผr uns nichts auf dem Spiel, kรถnnten wir keine normative Beziehung zu unserem Tun und unserem Schicksal haben. Es wรคre uns gleichgรผltig, ob wir unsere Zeit freiwillig oder gezwungenermaรŸen verbringen.โ€œ

Das ist genau das Thema, mit dem Marx sich beschรคftigt hat. Und was logischerweise zu der Erkenntnis fรผhrte, dass der Kapitalismus รผberwunden werden muss. Was wir aber nur schaffen kรถnnen, wenn wir unseren Wertbegriff รคndern. Ist Profit das Wichtigste in unserem Leben, oder ist es seine Erfรผlltheit?

Dass das nicht leicht ist, wusste auch Marx, der aber โ€“ anders als es alle Ideologen im Gefolge von Lenin und Co. behaupteten โ€“ nie propagierte, das dafรผr die Demokratie abgeschafft werden mรผsste. Genau das wรคre fatal, denn eine menschlichere Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass Menschen gemeinsam und bewusst die Zukunft gestalten und nicht eine Clique rรผcksichtsloser Parteifunktionรคre.

Die Heilige Kuh Wachstum

Aber diese Irrfahrt des kommunistischen Denkens im 20. Jahrhundert hat eben leider auch die Apologeten befeuert, die mit ihren รถkonomischen Theorien den Menschen einredeten, sie mรผssten sich dem โ€žMarktโ€œ unterordnen und immerfort โ€žMehrwertโ€œ produzieren, sonst brรคche der ganze Laden zusammen.

Insbesondere die ignoranten Ideen eines August von Hayek nimmt Hรคgglund hier aufs Korn, denn sie sind der Nukleus, aus dem alle heutigen neoliberalen Denkgebรคude bestehen, die nicht den Wunsch der Menschen nach einem selbstbestimmten und menschengerechten Leben in den Mittelpunkt stellen, sondern den โ€žMarktโ€œ und das permanente Wachstum der Profite, BIPs und Aktiendepots.

Die รœberproduktion, die unsere Lebensgrundlagen verschlingt und unser Klima zerstรถrt, ist das zentrale Element dieses Denkens, das bei Strafe der politischen Vernichtung nicht infrage gestellt werden darf.

Hรคgglund ist sich nur zu bewusst, dass eine solche Infragestellung der propagierten Glaubenssรคtze des Profits politisch ganz schwer umzusetzen ist. Er erinnert dabei an den Leidensweg von Martin Luther King. Denn die Akteure im Name von โ€žWachstumโ€œ und Kapital haben alle Machtmittel auf ihrer Seite. Die Verachtung von Menschen, die sich dem Leistungsdruck der entfesselten ร–konomie nicht fรผgen, ist allgegenwรคrtig.

Und sie hรถrt bei der propagierten Verachtung der โ€žLeistungsverweigererโ€œ nicht auf. Sie hat sich lรคngst auch als wรผtende Polemik gegen den Sozialstaat etabliert, der in den Augen der neoliberalen Politiker nichts als Geldverschwendung ist, eine Verpulverung โ€žunserer Steuergelderโ€œ.

Obwohl gerade der Sozialstaat รผberhaupt erst ermรถglicht, dass Menschen mit niedrigem oder gar keinem Einkommen รผberhaupt ein niedrigschwelliges menschliches Leben leben kรถnnen. Auch wenn die Freirรคume, es wirklich selbstbestimmt zu leben, denkbar klein sind.

Gestohlene Lebenszeit

Genau an diese Menschen hat Karl Marx die ganze Zeit gedacht. Dem sehr wohl bewusst war, dass gerade den Malochern mit religiรถsen Heilsversprechen eingeredet wurde, sie wรผrden dann im Jenseits fรผr all ihre Schinderei belohnt. Doch genau an dieser Stelle entpuppen sich Kapitalismus und Religion als kompatibel, stellt Hรคgglund fest: โ€žBeide verhindern, dass wir in der Praxis erkennen, wie uns mit unserer Zeit unser eigenes โ€“ einziges โ€“ Leben weggenommen wird.โ€œ

Und oft genug sind es gut bezahlte Lobbyisten, die mit religiรถser Scheinheiligkeit dann daher kommen und den Leute einreden, das alles sei so gottgewollt und โ€žalternativlosโ€œ. Genau mit solchen Phrasen aber wird die Grundlage jeder Demokratie ausgehebelt, die nun einmal das Grundprinzip zum Inhalt hat, dass es keine heiligen Gesetze und keinen alternativlosen Weg in die Zukunft gibt. Schon gar nicht unter Missachtung der Freiheit der Menschen.

Denn wo die Mehrheit in ihren Entscheidungen fรผr ein selbstbestimmtes Leben nicht frei ist, ist โ€žFreiheitโ€œ ein Luxusgut und auch eine Ware, aber nicht das Ziel gesellschaftlichen Handels. Aber genau das sollte sie sein, stellt Hรคgglund fest: โ€žAus diesem Grund muss auch die Form unseres Zusammenlebens Gegenstand demokratischen Handelns sein. Wir kรถnnen uns nicht auf religiรถse Dogmen berufen, um eine Debatte zu beenden oder ein Gesetz zu legitimieren. Wir sind dem Gesetz nicht unterworfen (wie in der Religion), sondern sind selbst Subjekte des Gesetzes.โ€œ

Und dann stellt er im Grunde die simpelste aller Aufgaben: โ€žWir mรผssen Grรผnde fรผr unser Verstรคndnis des Gemeinwohls angeben und gemeinsam รผber die besten Wege dorthin nachdenken.โ€œ

Wer dieses Denken verbietet, weil es nicht profitabel ist, hat schon das Simpelste nicht verstanden. Oder will es nicht verstehen, weil es ihm egal ist, ob die Menschen unten im Gestรคnge der Gesellschaft รผberhaupt zum Nachdenken darรผber kommen, was eigentlich ein reiches und lebenswertes Leben ist. Natรผrlich ist das Absicht. Was denn sonst?

Es ist ein erhellendes Buch, das vor allem all jene bestรคrken dรผrfte, die das Gefรผhl nicht loswerden, immerzu ein falsches Leben zu leben, aber nicht ihr eigenes mit all seinen Schรถnheiten, Begeisterungen und der Angst, dass es viel zu schnell zu Ende geht.

Martin Hรคgglund โ€žDieses eine Lebenโ€œ C. H. Beck, Mรผnchen 2024, 32 Euro.

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