Svetlana Lavochkina ist eine besondere Schriftstellerin. Nicht nur, weil sie seit 1999 in Leipzig lebt und an der Waldorfschule Englisch unterrichtet. Sie veröffentlicht ihre Bücher auch auf Englisch, sodass der Verlag Volang & Quist mit ihr eine ukrainische Autorin im Programm hat, die auf Englisch schreibt und von der Leipziger Autorin Diana Feuerbach ins Deutsche übersetzt wird. Und zwar eindrucksvoll. Und es überrascht nicht, dass auch in ihrem dritten Buch die Ukraine das eigentliche Thema ist.
Genaue, jener Teil der Ukraine, in dem Svetlana Lavochkina aufgewachsen ist und der seit 2014 unter den Eroberungsgelüsten des Nachbarn Russland leidet, der Ostukraine. So gesehen ist „Carbon“ auch eine Hommage an ein geradezu legendäres Industriegebiet, die Kohlekammer der einstigen Sowjetunion, wo Alex aufwächst, der in Lavochkinas „Lied von Donezk“ eine der beiden zentralen Rollen spielt, auch wenn sein Besuch in den Eingeweiden des Berges nur kurz und am Ende schmerzhaft ist.
Sein Leben wird er jedenfalls nicht mit Staublunge vorzeitig als Bergmann beenden.
Genauso wenig, wie Lisa ihr Leben als Englischlehrerin vielleicht im schönen Saporischschja, wo Svetlana Lavochkina geboren wurde, beschließen wird. Ein wenig erinnert Lisas Schicksal an das der Dichterin. Auch Lisa nutzt die Zeit des Aufbruchs nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, um ihr Glück in der großen weiten Welt zu suchen und zu einer gefragten Dolmetscherin auf internationalen Kongressen zu werden.
Leben ist Poesie
Das klingt erst einmal nur nüchtern. Aber das „Lied von Donezk“ ist tatsächlich ein Lied, ein großer Gesang, der die Schicksale der Beiden, die sich fast am Ende nur kurz und folgenreich im fernen München begegnen, in einem großen poetischen Teppich verwebt, in dem Lavochkina zeigt, was man aus ganz gewöhnlichen Leben machen kann, wenn man nur die Poesie darin sichtbar macht.
Dann sind es nämlich keine gewöhnlichen Leben mehr, sie strahlen. Sie machen den Menschen als Helden seiner Lebensreise sichtbar. Als Sternenfunken in einem Kosmos, in dem politische Umwälzungen ihre Lebenslandschaften immer wieder verändern.
Wenn sie es nicht gar selber tun wie Alexander und Lisa. Alexander gezwungenermaßen, nachdem er zum Bauernopfer in einen Korruptionsskandal geworden ist und Jahre im Knast verbracht hat, wo er erstmals als Kunstschmied tätig wurde. Er ging auf die Suche nach dem, was ihm im Leben eigentlich Freude machen würde. Das Olivenernten im Griechenland ist es jedenfalls nicht, auch wenn er dort die Frau seines Lebens kennenlernt und mit ihr zurückkehrt nach Donezk, wo er für sich eine Laufbahn als Kunstschmied aufbaut.
Ein erfüllter Traum, könnte man meinen. Während es Lisa sogar in die USA in das Reich einer seltsamen religiösen Sekte verschlägt. Bildhaft für ganz bestimmt viele Frauen aus de Ukraine, die im Westen ihr Glück suchten. Am Ende ist es der Herr Wasser aus Bayern, der ihr so etwas bietet wie einen sicheren Hafen.
Und ihr trotzdem die Freiheit gibt, jedes Jahr ein halbes Jahr als Dolmetscherin in die Welt zu reisen. Eine Welt, die die gefragte Dolmetscherin mit sehr kritische Augen sieht: „Manche Gelehrte behaupten, eine Geschichte kann nur / Durch blutig geschriebene Stifte oder malträtierte Tastaturen entstehen.“
Wie wir in Geschichten leben
Doch das Gedicht, in dem es Svetlana Lavochkina thematisiert („Kalter Flamingo“) bietet genau hier auch eine Art eigenes Programm des Erzählens: „Experten wie ich glauben jedoch, dass Erzählen ganz ohne Wörter auskommt.“
Es geschieht einfach. Und es stimmt ja auch: Wäre das Leben ohne Poesie, würden sich die meisten Menschen einfach den Strick nehmen, denn dann wäre keine Erwartung mehr darin, kein Hoffen auf eine neue Wendung. Deswegen passiert so etwas Ähnliches, wie es Lavochkina hier in zum großen Reigen versammelten und gewebten Gedichten vorführt: Wir singen uns alle unser eigenes Lied vom Leben, baden in seine Fülle, sind berauscht, wispern, malen uns aus, wie es weitergehen könnte.
Und merken überwiegend erst hinterher, dass wir schon wieder in neue Geschichten geraten sind. So wie Alex mit Lara, die ihm endlich ein Kind gebären wird. Hoch schwanger ist sie, Alex hat sich mit seiner Schmiedekunst etabliert. Doch es ist das Jahr 2014.
Es ist das Jahr, das dafür sorgt, dass Alex’ Geschichte nicht gut ausgehen kann. Man liest das bedrohliche Datum viel früher, als man dann erfährt, wie das Leben von Lara und Alex endet. So poetisch erzählt, dass man den Schmerz nicht spürt, aus dem alle Strophen gebaut sind. Ein Schmerz vor allem über die Sinnlosigkeit dieses Vergehens – und die Zerstörung einer Welt voller Poesie.
Es ist ja so, dass einige Leute tatsächlich immer noch glauben, Geschichte müsste mit blutigenT astaturen geschrieben werden, Menschenleben wären nichts wert. Ihre Fantasielosigkeit ist ihr und unser Unglück. Sie haben kein Gefühl dafür, wie mit jedem Menschen eine reiche, unersetzliche Geschichte vergeht. Und wie dadurch unsere Welt immer ärmer wird.
Wie der Krieg die Poesie verschlingt
Wobei Svetlana Lavochkina ja schon in ihren früheren Bücher „Die rote Herzogin“ und „Puschkins Erben“ gezeigt hat, wie genussvoll sie aus dem Brunnen der ukrainischen Literatur schöpft und wie sehr dieses Erzählen von der Lust am Grotesken, Märchenhaften und Heldenhaften lebt. Denn wenn man den Menschen nicht klein macht und nicht so tut, als wäre das alles nur gewöhnliches Vorsichhinleben, dann wird er zum Helden seiner Geschichte.
Reif für Epen und Königsdramen. Oder eben auch die große Legende von der Gründung der Metallindustrie im Donezkbecken, dort, wo der Brennstoff für die Schmelzöfen unter der Erde lag: Kohle, Carbon.
Ein Ort, wo Bergleute genauso zu den mythischen Helden ihres kurzen Lebens werden wie Komponisten, Dichter, ein Liebhaber, der sich der schönen Lisa „Hughes-kohlenschwarz, Prokofjew-heftig“ offenbarte.
Nur das Ende ist kein Happyend: „Ich schrieb deine Doktorarbeit für dich zu Ende. / Auf deinem Teppich, dünn wie ein Atom, / flogst du heim zu deiner Frau / und deinem Krieg.“
Der eigentlich nicht Alexanders Krieg war, der ihn am Ende aber trotzdem verschlingt. Und man weiß ja längst, dass mit ihm seine Geschichte, sein Traum, seine Poesie vergehen. Es ist auch ein Lied über das Verschwinden jeder Poesie aus der Welt, wenn Leute mit leeren Gesichtern Schicksal spielen. Und so nebenbei eben auch ein Lied für das geschundene und nun seit zehn Jahren unerreichbare Donezk. Ein Liebeslied voller Trauer.
Aber auch voller erzählerischer Wucht. Das hätte auch als Roman erzählt werden können. Aber kein Roman macht so sichtbar und lesbare, dass Leben Poesie ist. Und wer das sieht, der fängt keine Kriege an. Der lernt eher Sprachen, wie Lisa, für die sich damit Welten öffneten: „Ab der fünften Klasse lernten wir Englisch. / Und es regnete neue Sprachschätze für mich. / Ich riss meine russische Festung ab / und baute an ihrer Stelle einen Palast.“
Auch davon erzählt dieses Poem: vom Mauern-Niederreißen und Die-Welt-Öffnen. Mit einer forcierten Sprachfreude, die man auch in der Übersetzung von Diana Feuerbach wiederfindet. Denn nur im Kopf brauchen unsere Geschichten keine Wörter. Wenn wir sie erzählen wollen, beginnen sie zu leuchten, wenn wir es lernen, farbenreich und lustvoll zu erzählen.
Und nachlesbar machen, dass Sprachen keine Festungen sind, sondern Brücken. Manchmal fliegende Teppiche. Wege in die Welt sowieso. Und natürlich auch Truhen voller Erinnerungen an eine von Idioten zerstörte Welt.
Svetlana Lavochkina „Carbon. Ein Lied von Donezk“ Voland & Quist, Berlin und Dresden 2024, 22 Euro.
Keine Kommentare bisher