Vielleicht schreibt Veit Sprenger, im gewöhnlichen Leben Theatermann und Journalist, seine „Quickies“ tatsächlich so: beim Spazierengehen auf dem Smartphone. So wie andere Leute heute Texte lesen. Da kann man sich ja anpassen und Texte für diese Mobile-Junkies auch gleich auf dem Mobilgerät schreiben. Erst recht, wenn man – wie Sprenger andeutet – schon mit ganz anderen Handy-Generationen das Tippen im Laufen geübt hat.
Das Ergebnis sind dann kurze Texte. „Botschaften“, schreibt der Verlag. „Getipptes“, heißt es in Untertitel, wo man für gewöhnlich die Klassifikation findet, die Verlag und Autor für passend halten. Was ja immer dann spannend wird, wenn die Texte gar nicht in ein klassisches Genre passen wollen. In diesem Fall also das der Kurzgeschichten, das der Glossen oder der Reflexionen.
Obwohl sie zu Geschichten tendieren. Dazu ist Sprenger zu sehr Theatermann. Wenn man schon etwas erzählen möchte, dann sollte doch zumindest eine Spur von Es-geschieht-Was drin stecken. Was ja nicht nur Theaterleute suchen, sondern was eigentlich alle Menschen immerfort selbst auch suchen und in ihre Welt hineinprojizieren. Denn nur so wird die Welt für sie ja greif- und begreifbar.
Und wenn es zu komplex wird, suchen sie sich dann einfache – meist uralte – Erzählmuster, die das Erlebte und Gesehene mit einem Sinn versehen.
Immer auf Sinnsuche
Wir Menschen sind einfach nicht in der Lage, in der Welt keinen Sinn zu sehen. Auch wenn es oft genug Unsinn ist, Hauptsache, es lässt sich erzählen. Man denke nur an UFOs, Aliens, Geister und Verschwörungen aller Art.
Manche Leute sind ja regelrecht darauf versessen, ihren Un-Sinn in die Welt hineinzuinterpretieren.
Andere baden regelrecht in der Abstrusität ihres Lebens, dem wir ja zuschauen. Genau so, wie es Veit Sprenger hier tut. Es gibt haufenweise Dinge und Vorfälle, über die wir eigentlich nur den Kopf schütteln, weil sie uns schräg und seltsam vorkommen. Und noch während wir den Kopf schütteln, malt sich unser Gehirn von ganz allein die ganze Geschichte aus, vervollständigt sie hinten und vorne einfach mit den Flicken, die wir sowieso im Kopf haben, sodass das Seltsame, was wir sehen, zu einer ganzen Geschichte wird.
Die dann oft noch viel schräger ist als das, was wahrscheinlich wirklich vorgefallen ist. Manchmal sind es simple Satzfragmente, die auf einmal in seltsamste Erzählkonstellationen führen. So wie der Einstiegssatz in das Stück „Zum Kaffee“: „Meine beste Freundin wohnt im Wald …“
Was passiert, wenn man das tatsächlich ernsthaft ausmalt? Zumindest Verwirrendes, das man aber – wie Veit Sprenger – ganz trocken herunter erzählen kann. Wenn man schon mal im Wald ist, kann man sich das ja alles nüchtern ausmalen. Oder wie sieht eigentlich der Letzte Wille eines Notars aus? Was schreibt er da alles hinein und wer erbt dann eigentlich was? Schon das Hineinversetzen in den peniblen Geist eines Notars kann zu überraschenden Beziehungsweisen führen.
Das Mahlwerk im Kopf
Und wie funktioniert eigentlich das richtige Schlaraffenland, von dem man ja bei den Grimms nur die halbe Geschichte erfährt? Und sind die Leute, die da mit gebratenen Tauben gefüttert werden, eigentlich glücklich? Oder steht das „Schlar“ vor Affenland nicht eher für einen Fluch?
Man schaut ja im Grunde, wenn man sich durchs Sprengers Kleinstücke liest, in das Mahlwerk seines Kopfes hinein, das den Mahlwerken in anderen Köpfen natürlich ähnelt. Nur denken die meisten Leute eben einfach vor sich hin und kämen niemals auf die Idee, ihre Gedanken zu Ende zu spinnen, egal, wo sie diese hinführen. Und dass sie irgendetwas denken beim Gehen, merkt man ja, wenn sie mit ihrem Gerät vor einem hochschrecken, weil sie beim Laufen und Daddeln nicht auf den Weg geachtet haben.
Unser Gehirn ist zu manch eigentümlichen Eskapaden fähig. Es schlüpft auch in einen kleinen Bildschirm und blendet alles aus, was ringsum vor sich geht – andere Spaziergänger, Hunde, Kinder, Ampeln, Straßenbahnen und Lastkraftwagen, die meistens nicht so schnell bremsen können, wie einer mit Handy unterm Kipper liegt.
Aber Sprenger scheint geschützte Wege zu benutzen. Seine Kopfstücke enden nicht blutig oder im Krankenhaus. Eher auf Abwegen, wohin man gerät, wenn man durch den ein oder anderen Blickwinkel unterwegs dazu angeregt wird, sich über Dinge einen Kopf zu machen, die einen sonst nicht mal berührt hätten – das Ausschaufeln von Gräbern zum Beispiel aus der Perspektive des Grabenden, oder die Statusbefindlichkeiten eines Obdachlosenzeitungs-Verkäufers.
Über Häuser und Wände, Mini-Atombomben in der Hosentasche oder die Erwartungshaltung des Briefkastens, wenn man nach längerer Abwesenheit nach Hause kommt. Also ganz gewöhnliche Ereignisse aus unserem heutigen Alltag, der sich bei genauerer Betrachtung ja erst in seiner ganzen Verrücktheit entpuppt.
Die Heidenangst vorm Kopfkino
Wir nehmen so vieles als gegeben hin, das eigentlich nur ziemlich grotesk ist. Festsäle zum Beispiel (feiern die eigentlich selbst?), Sonnenuhren, Nationalzirkusse, gestresste Köche, und sowieso: Schlamperei. Manchmal muss man es einfach durcherzählen und durchdeklinieren, um die Sache am Schlafittchen zu packen. Und dann mit trockener Strenge einfach in die Groteske hineinzutreiben.
Und manche Stückchen aus Sprengers Tastatur sind schlichtweg solche Grotesken – so wie die von dem Liebespärchen, das sich extra für die erste Liebesnacht eine Insel aufschütten lässt. Oder die vom armen Diogenes, dessen Fass ein paar übermütige Teenagerinnen vernageln und ins Meer rollen lassen.
Passiert Ihnen nicht? Niemals?
Das wäre schade. Aber das glaube ich nicht. Oder nur zum Teil. Denn natürlich schauen die Meisten so gebannt auf ihr tragbares Telefon, weil sie eigentlich mit all dem hadern, was unterwegs für gewöhnlich in ihrem Kopf passiert – diesem Kopfkino, das zu uns Menschen gehört, seit wir gelernt haben, auf zwei Beinen zu gehen. Wer läuft, hat den Kopf frei. Das nutzt der Kopf natürlich aus. Das ist sein Job. Beim Laufen findet er die dollsten Geschichten.
Nur hatten unsere mammutjagenden Vorfahren kein elektronisches Gerät mit dabei, auf dem sie ihre Einfälle gleich mal verschriftlichen konnten. Dafür gibt’s heute keine Mammuts mehr.
Dafür jede Menge Vorurteile, die sich natürlich auch als Geschichtenkeim in Sprengers Tastatur verirren – Vorurteile über die Deutschen und ihren Hitler, die reichen Frauen von Bari oder die Probleme des Winters in heutigen Zeiten, wo es für Winter einfach nicht mehr kalt genug wird.
Es gibt einen schönen Schiffsuntergang mit netter Touristenbespaßung und ein paar schöne Gedanken über Dreck (ohne den in Finnland nichts wüchse), einen schwermütigen Zaren, der nicht mehr grausam sein wollte, oder Katarina Witts Träume in Sarajevo.
Was tun wir da eigentlich?
Da muss man nicht erst drauf kommen. Das liegt so herum oder suppt auch oft genug aus überlaufenden Medienkanälen. Weil irgendwer immer über irgendein abseitiges Thema schwatzen will. Und schon ist es passiert und unser Kopfkino springt an. Und genau das zeigt Sprenger hier in einem Büchlein voller kurzer, kürzerer und kürzester Texte, die davon leben, dass sie das sowieso schon Abstruse, was wir täglich erleben, noch drei, vier Windungen weiterdrehen.
So wie beim Überklettern eines Absperrseils, das natürlich sofort das Wachpersonal auf den Plan ruft, das wissen will, was wir da tun. Eigentlich braucht man wirklich nur ein paar richtig verquere Antworten, mit denen die Wächter nichts anfangen können, und sie lassen einen laufen.
Denn zum Hintergrund gehört ja immer auch, dass die Aufpasser selbst lauter groteske Regeln im Kopf haben, nach denen wir funktionieren sollen. Und wir haben gelernt, diese Quatschregeln zu befolgen.
Das ist schon blöd.
Aber das merken wir eben nur, wenn wir uns das Ungenehmigte nur ein bisschen weiterdenken. So wie der Bodyguard, der das Undenkbare tut und sich danach trotzdem brav an die Regeln hält. Aber trotzdem erzähle ich hier das Buch und seine Pointen nicht. Manchmal gibt es auch keine, so wie das im richtigen Leben eben auch ist, wo die meisten Geschichten so sang- und klanglos vorbeigehen, dass wir kaum merken, dass uns gerade etwas Unerhörtes passiert ist.
Meistens haben wir die Aufmerksamkeit nicht. Oder nicht die Geduld, es schnell in die Tasten unseres Mobilgeräts zu tippen, damit es wenigstens für ein Weilchen festgehalten wird. Vielleicht könnten wir es auch anderen erzählen. Wenn uns später überhaupt noch einfiele, was uns passiert ist.
Und weil wir es nicht festgehalten haben, ist es eben wie nie passiert. Und deswegen glauben die meisten Leute, ihr Leben sei völlig ereignislos. Sie haben’s einfach nicht gemerkt, was ihnen alles passiert ist. Und nicht aufgeschrieben. Dumm für sie. Aber sie können sich ja dieses Büchlein kaufen und wenigstens erfahren, was einem gewissen Veit Sprenger so alles eingefallen ist beim Spazieren.
Veit Sprenger „Wie sie im Vergnügungspark ihre Toten bestatten“ Literatur Quickie Verlag, Hamburg 2024, 19 Euro.
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