Zugegeben, sie klingt etwas bemüht, kolportiert, die Überschrift. Wo es doch um ein sehr ernstes Thema geht. Denn „Demokratie braucht Religion“. So der Vortrags- und Buchtitel des bekannten Soziologen Hartmut Rosa (Friedrich-Schiller-Uni Jena), eingeleitet durch ein Vorwort von Gregor Gysi.
Gehalten wurde der Vortrag dem Thema entsprechend auf der Würzburger Diözesantagung Anfang 2022, er endet mit dem nicht überraschenden Plädoyer für ein Mehr an Religion in Politik und Gesellschaft. Sicherlich für manchen erschreckend ob der rückwärtsgewandten Haltung – in einer Zeit, in der vernünftige Köpfe mehr denn je gebraucht werden.
Für eine sichere Welt, die obendrein noch perspektivisch-friedlich das Überleben der Menschheit sichert. Soziologen, die nun auch religionsphilosophisch daherkommen, neigen oft zu den „großen Fenstern“, manchmal zu finsteren Dystopien, die aufgemacht und projiziert werden. Gerade das macht sie, wie ihr Problemgegenstand doppelt interessant. Denn hier wird bei Rosa das Problem mit einem zunächst schräg daherkommenden Ausweg verbunden.
Vorwort-Laudator Gysi lässt es erahnen. Es zielt auf einen Strukturschaden des vorherrschenden Spätkapitalismus. Die Wachstumsgier ökonomischer Eliten muss zwangsläufig zu sozialer und demokratischer Erosion der gesellschaftlichen Stabilität führen.
Und diese Wachstumsgier hat nicht nur die Eliten der Gesellschaft erfasst. Sondern sie ist tendenziell der Teil einer Lebensphilosophie geworden, die stark im Fordern und immer schwächer im (sozialen) Fördern geworden ist. Ja, es ist sogar gelungen, dass sich viele Menschen von rechtspopulistischen Führern viel versprechen, nämlich von ebendiesen „gerettet“ zu werden.
Die „Resonanz“, um einen Lieblingsausdruck von Rosa zu verwenden, zu den Vertreter*innen der herrschenden Politik ist gegenüber weiten Teilen des Volkes nicht mehr vorhanden. Oder sie befindet sich, beschönigend formuliert, im Dauerkrisenmodus. Hartmut Rosa hat ein besseres Bild dafür. Als „rasenden Stillstand“ beschreibt er den Lebensrhythmus, den Zustand unseres Landes. Und wir sind ja seine Bewohner und Bewohnerinnen …
Da stimmt beinahe jeder zu, trotz ermutigender Demo-Signale der zahlreichen Protestierenden gegen eine Rechtsentwicklung im Land, die viele zu Recht fürchten. Und daher gemahnt wird, dass „Demokratie und Freiheit“ nicht selbstverständlich sind und dafür gekämpft werden muss. Völlig richtig. Aber gleichzeitig bleiben die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Protestaktionen zweifelhaft.
Unsoziale Maßnahmen, Tendenzen, Strukturen werden nicht oder zu wenig infrage gestellt, die richtigen Fragen bleiben unbeantwortet oder bilden dauerhaft eine Leerstelle. Wie auch klar gesagt werden muss, was unsere demokratischen Vorfahren im 19. Jahrhundert bereits wussten: Freiheit – also die soziale Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben – ist neben der Definition als Grundrecht auch entscheidend abhängig vom ökonomischen Status der Person.
Dem homo politicus, mit einer Stimme und einer Stimmung. Rosa stellt richtigerweise fest, dass unser ökonomisches System in einen schwierigen Zustand geraten ist. „Das Gefühl »Lange geht das nicht mehr gut«, das ist zum kulturell dominanten Gefühl geworden.“ (S. 45)
Und deswegen: Wenn sich jede Krise, jede Schwierigkeit, ja, jedes Leid, ertragen lässt, dann braucht es ein Warum des Ertragens, wie bereits einer der gedanklichen Vorgänger Rosas, der österreichische Arzt und Psychoanalytiker Victor Frankl, feststellte. Und der es durch seine Odyssee durch zahlreiche faschistische Konzentrationslager auch „bewies“, dass sich das schlimmste Wie durch ein visionäres und/oder über-individuelles Warum erdulden und überleben lässt.
Rosa S. 22: „Wenn eine Gesellschaft gezwungen ist, sich permanent zu steigern, zu beschleunigen, sich voranzutreiben, aber den Sinn der Vorwärtsbewegung verliert, dann ist sie in einer Krisensituation.“
Daher ist die Frage nicht abwegig, ob diesen „Sinn“ des Lebens, der einer „Wohlstandgesellschaft“ als soziale Gemeinschaft abhandengekommen zu sein scheint. Sie steht über dem privaten Leben, das manche nach wie vor als komfortabel ansehen dürfen und auch sollen. Oder ist es der Wachstumsimpuls, der uns alle beherrscht und den wir nicht zu bezähmen verstehen? Dann hätten wir wohl auch nichts Besseres verdient, dass diejenigen uns regieren, die fordern, dass wir auf der Jagd nach weiterem Wachsen unnötigen „Ballast“ abwerfen … (Wäre doch nach kalter Logik nur konsequent, oder?)
Es sei denn, wir besinnen und auf kollektiv verbindende Werte, die im Handeln attraktiver erscheinen müssen, als den ungeheuer anstrengenden, aggressiven Umgang in der Individualitätsgesellschaft. Werte, die eben die Siegermentalität in dieser „Jeder-gegen-Jeden“-Rechthaberei überstrahlen, sie zudecken oder gar lächerlich machen. Oder auch Halt geben beim so notwendigen Verlieren, bei Verlusten, bei Ängsten aller Art.
Nimmt man jetzt das Wort Religion in den Mund, verzieht er sich zum vielleicht wundernden Schmunzeln. Übersetzen kann man es mit Rückbindung, ich würde Rückbesinnung noch hinzugeben. Oder Zurückschauen. In dem Fall bedeutet es ein Innehalten, Reflektieren, Ablenken vom Wachsen-Müssen.
Rosa berichtet es nebenbei – ebenfalls schmunzelnd – als ihm seine Studenten erklärten, dass Religion nur eine der vielen Arten von Aberglauben sei. Aber man kann schon fragen, so der Autor weiter, ob eine Rückbindung an Mythen und (Märchen?) – also Glauben, nicht auch hinderlich in der effizienten Alltagsorganisation sei, einen Anachronismus darstelle. Und Kirche überdies einen massiven Vertrauenseinbruch durch menschliches Versagen oder nur randständiges Engagement gegen soziales Unrecht erlitten habe.
Aber christliche Werte, die ein soziales Vorbild mit einem „hörenden Herzen“ beschreiben, seien dennoch heute mehr denn je gefragt, ja notwendig. Christus nicht als leidender Verlierer, sondern als ein Revolutionär des menschlichen Friedens, mit der Vision einer Vorbild-Rolle – darüber lässt es sich gut nachdenken, spinnt man den Rosa-Faden weiter.
Ein Christus als Orientierungsfigur? Und wenn es nur ein Bei-sich-sein ist, wissend, nicht allein auf der Welt zu sein, bedeutet. Dann ist das schon viel. Wenn Selbstbewusstsein nicht mit Arroganz verwechselt wird. Erkennend, dass in jedem Sieg der Keim einer potenziell kommenden Niederlage steckt. Demokratisch „übersetzt“ heißt das, sich humanistisch weiterzubilden, nicht nachzulassen im Aktiv-Sein, soziale Teilhabe möglichst vieler zu organisieren.
Rosa abschließend: „Demokratie ist das zentrale Glaubensbekenntnis unserer Gesellschaft, aber sie erfordert eben Stimmen, Ohren und hörende Herzen.“ Liest sich fast wie eine Predigt, Hartmut Rosa, auf 76 Seiten.
Rosa, Hartmut. Demokratie braucht Religion. Mit einem Vorwort von Gregor Gysi. Kösel-Verlag. 2022.
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