Es war eines der besten Weihnachtsgeschenke, aus dem alten Jahr noch. Aufklärung unterm Tannenbaum. Philipp Blom – „Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung“. Bislang unbekannter Autor, schwieriger Denkgegenstand. Klar war ja bisher immer, was „Aufklärung“ bedeutet. Logisch. „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. 1784 vom Königsberger Idealismus-Urvater Kant in die Geburtsurkunde des nach Emanzipation strebenden Bürgertums gestempelt. (Ich spare mir an dieser Stelle den Kommentar zur Debatte um den jetzt „umstrittenen“ Nestor der bürgerlichen Philosophie. Im philosophischen Denken war er in seiner Zeit ein Revolutionär.)
So wird es an den Schulen gelehrt, so lernen es die Schüler. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Daran gibt es doch nichts zu zweifeln, oder? Bei Philipp Blom (*1970), dem studierten und promovierten Philosophen, Historiker und Publizisten erhält man hinsichtlich des erwähnten Denkgegenstandes guten Nachhilfeunterricht. Sein neuestes Werk mit dem metaphorischem Impulstitel beginnt ohne Umschweife, die Notwendigkeit des Erscheinens zu erklären …
„Was denn, schon wieder eine neue Aufklärung? Ja, gerade jetzt, und notwendiger denn je. Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung¹ scheint kaum auf das grell beleuchtete 21. Jahrhundert zuzutreffen, aber tatsächlich hat das Licht des luziden Nachdenkens² kaum eine Chance gegen flimmernde Videowände. Heute ist die Verdunkelung nicht mehr optisch, sondern kognitiv und freiwillig.“
Aha. „Kognitiv und freiwillig“ erfolgt die selbst verantwortete „Verdunkelung“? Das sollte genauer betrachtet werden. Womit hängt dieser Umstand, sollte er denn stimmen, zusammen? Dazu lohnt es sich in jedem Fall, Bloms Gedanken auf den insgesamt 224 Seiten konzentriert zu folgen. Diese sind im besten aufklärerischen Sinne auch wirklich erhellend, spürt man doch Bloms Verständnis für historische Entwicklungen, Analogien und Herrschaftsverhältnisse unterschiedlicher Epochen.
War die Aufklärung vor der Französischen Revolution eine politische Forderung nach rechtlicher Gleichheit („Die Menschen sind frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“ – Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 26. August 1789), wurde im 19. Jahrhundert die „Egalité“ wichtiger, von geradezu existenzieller Bedeutung. Während es heute zuvörderst um gleiche Teilhabechancen geht. Dem Zugang zu … Weniger die Befreiung von … Blom beschreibt, welchen Begriffswandel und Perspektivwechsel der Aufklärungsterminus durchlaufen hat. Bisweilen wird er als ideologischer Kampfbegriff verfremdet und missbraucht, wenn er im Zusammenhang mit der angeblichen kulturellen Überlegenheit des okzidentalen „Abendlandes“ verwendet wird.
Das 19. Jahrhundert brachte den Durchbruch der juristischen Gleichheit in Europa – theoretisch zumindest. Nicht ganz konsequent und „pünktlich“, was die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter betraf, war Europa dort nicht unbedingt ein Vorbild. In Deutschland kam das Frauenwahlrecht mit der Weimarer Verfassung erst 1919, die Engländer brauchten noch knapp 10 Jahre länger bis zum vollständig gleichberechtigten Wahlrecht, die Schweiz „ließ sich Zeit“ bis 1972. Auch in der Gegenwart ist die rechtliche Gleichstellung noch nicht überall eine Selbstverständlichkeit, stellt nach Blom auch nur einen Teil der aufgeklärten „Wahrheit“ dar.
Aufklärung als philosophisches Theorem ist – will man sie in soziale Wirklichkeit überführen – natürlich eng verbunden mit dem Begriff der Freiheit. Blom: „Wer über Aufklärung spricht, muss auch über Freiheit sprechen. Immer wieder wird heute von Freiheit gesprochen, Freiheit gefordert, meistens im Zorn und sehr oft ohne die leiseste Ahnung, was damit gemeint ist.“
Gut. Was ist denn damit gemeint? (Verzeihen Sie bitte, dass ich an dieser Stelle nicht ausführlich antworten kann. Lesen Sie selbst.) Autor Blom stellt klar, dass diese Begriffe (Aufklärung/Freiheit) in der Gegenwart eine politisch-instrumentelle Konnotation verbindet. Freiheit. „In ihrem Namen wird das Capitol gestürmt, für sie gehen hunderttausende Menschen gegen Impfungen auf die Straße, für sie kämpfen und sterben aber auch Menschen in der Ukraine, auf dem Tiananmen-Platz in Peking und im brasilianischen Regenwald.“ Eigene Ergänzung: Selbst bei der Kaufentscheidung für eine Automarke und anschließender Probefahrt ist nach Aussagen der Hersteller ein Freiheitsgefühl vorhanden.
„Und was bedeutet Freiheit überhaupt in einem materiellen und kausalen Universum?“, fragt Blom auf den folgenden Seiten. Deutet an und erklärt es näher, dass es die herrschenden ökonomischen Macht– und dementsprechend auch Ohn-machtverhältnisse sind, die Freiheit als persönliche oder neu-aristokratische Gewinnsteigerung verstehen bzw. sie dahingehend als eingeschränkt kritisieren.
Diese Machtverhältnisse entscheiden durch eine fremdbestimmte Begriffsfüllung, was als „aufgeklärt“ und „freiheitlich“ zu gelten hat. Verbunden mit einer westlich beanspruchten Diskurshoheit, da man sich ob der theoretischen Gleichstellung überlegen wähnt. Gleiches gilt für den Vernunft-Begriff, der teilweise noch abenteuerlicher verfremdet wird und zur Herrschaftssicherung gebraucht wird. Vernünftig ist, wer zuerst an sich denkt?
Bloms Auswege und Antworten gehen in die richtige Richtung. Ich wurde beim Lesen an einen Adorno-Aufsatz aus dem Jahre 1966 erinnert. „Erziehung nach Auschwitz“. Dort skizziert der Neomarxist Adorno ein Haltungskonstrukt, gewissermaßen eine humanistische „Firewall“ gegen die Wiederholung großer Menschheitsverbrechen. „Autonomie, die Kraft zur Selbstreflexion, zum Nicht-Mitmachen.“ Bei Blom hört es sich ähnlich an. Vor dem Hintergrund einer bedrohlichen und „dunklen“ Weltverfassung. Da fallen Begriffe wie „ökologische Katastrophe“ oder „existenzielle Bedrohung“ wie auch „Kriege“ und „moralischer Verantwortlichkeit, die oft als Aggression wahrgenommen wird“.
Natur. Lautet für Blom das schlichte, wiederzuentdeckende (Lösungs-)Wort für eine neue zu entwickelnde Ordnung eines Gemeinsinns und Gemeinwohlsystems. Aufklärung und Autonomie sind hier nicht als Zielmarkierung für eine egoistische Selbstverwirklichung zu sehen, sondern als Rückbesinnung auf die „Natur des Menschen“. Der einerseits mit der Natur verbunden sein sollte. Und auch als ihr Teil verstanden werden will und muss. Das macht den unvergleichlichen Charakter unserer Spezies aus. Mit der Natur in wechselnder Verbindung zu stehen und es zu bleiben. So sollte es sein.
Phillipp Blom, Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung, Brandstätter-Verlag, 2023, 224. S.
¹ Diese Fußnoten gibt es bei Blom zuhauf, um sie im Anschluss auf mehreren Seiten zu erläutern. Unter dieser ersten gibt es bei Blom eine Deutung und Kritik der Lichtmetaphorik, mit welcher der Begriff der „Aufklärung“ verbunden wahr und ist. Vergleichbar mit der Übersetzung aus anderen Sprachen. (Bsp. „enlightenment“)
² Blom verweist in dieser Fußnote auf die problematische Attribuierung der Unmündigkeit als „selbst verschuldet“.
„Überm Schreibtisch links: Klarheit in einer neuen Aufklärung“ erschien erstmals im am 02.02.2024 fertiggestellten ePaper LZ 121 der LEIPZIGER ZEITUNG.
Sie wollen zukünftig einmal im Monat unser neues ePaper erhalten? Hier können Sie es buchen
Keine Kommentare bisher