2012 wanderte der Historiker und Reformpädagoge Thomas Nitschke zum ersten Mal auf dem Jakobsweg quer durch Sachsen. Das kann man nämlich auch tun, wenn man ganz und gar nicht gläubig ist und es auch nicht bis Santiago de Compostela schaffen will. Nitschke machte sich deshalb auch nicht ganz auf Hape Kerkelings Spuren, der sein Buch „Ich bin dann mal weg“ 2006 veröffentlicht hat. Nitschke nannte sein Buch nicht grundlos „Ich bleib lieber hier“.
Hapes Buch hatte er dann auch im Rucksack, als er sich damals auf die Socken machte und nach Görlitz fuhr, wo er seine Wanderung quer durch Sachsen auf dem hier 200 Kilometer langen Stück Jakobsweg begann. Und er wollte auch nicht „weg“ sein, in keiner Beziehung. Nicht um sich zu suchen oder ein anderer Mensch zu werden oder sich von dem Stress eines Jobs im Rampenlicht zu erholen. Eher war es ein – intellektueller – Versuch einer Erdung.
Die damals mit dem Mystiker Jakob Böhme begann, dessen Haus im polnischen Teil von Görlitz, in Zgorzelec, heute ein Museum ist. Und natürlich der ideale Ausgangspunkt, wenn man auf dem sächsischen Jakobsweg auch die Gedankenwelten bereisen will, die so am Wegesrand liegen. Von den meisten Menschen unbeachtet, wie Nitschke nur zu gut wusste. In Sachsen regieren keine Philosophen. Und die Leute, die regieren, sind meistens unbelesen und auf enge Horizonte fixiert. Sie wandern auch zu wenig. Das merkt man an der Kurzatmigkeit ihrer Politik.
Ein seelenloser Markt, der gar nichts regelt
Das fand auch Nitschke beklemmend. An seiner Diagnose für 2012 hat sich nichts geändert. Sie stimmt nach wie vor: „Liberales Denken und kapitalistische Handeln sind en vogue: Gepriesen wird wirtschaftliches Wachstum. Und auch der damit verbundene technische Fortschritt wird eindimensional gedeutet – nämlich wie vor einhundert Jahren, naturwissenschaftlich-positivistisch.“
2022 hat Nitschke dieselbe Zwei-Wochen-Tour noch einmal abgelaufen, diesmal schon mit der Frage, wie sehr sich die sächsischen Provinzen durch das Aufkommen völkischer Tendenzen seither verändert haben. Immerhin ein Thema, mit dem er sich als Historiker intensiv beschäftigt hat, denn auch vor dem Aufkommen der Nationalsozialisten gab es in Deutschland schon völkische Bewegungen, die ganz ähnlich agierten wie ihre heutigen Nachfolger. Eigentlich kennen wir das Ende. Aber die meisten Menschen sind vergesslich. Oder historisch regelrecht blind, was der Historiker auch aus der Perspektive des Lehrers bestätigen kann. Der Geschichtsunterricht gehört zu den Stiefkindern der sächsischen Bildungspolitik, die ihrerseits Ergebnis einer stockkonservativen politischen Agenda ist, die seit 1990 in Sachsen regiert. Auch das vergessen die meisten Leute.
So eine Politik prägt auch das Denken. Und 2012 war das in Sachsen schon längst ausgeprägt – die wachsende Kluft zwischen den prosperierenden Großstädten und dem sich entleerenden Land. Und der tief sitzende Egoismus einer entfesselten Marktwirtschaft, in der die Gesetze des Neoliberalismus gelten, jenes völlig verengten Freiheitsbegriffs, der Freiheit (völlig anders als bei Jakob Böhme) nur noch in der Freiheit des Konsumierens und Besitzen sieht. Und damit in einem immer härteten Wettbewerb aller gegen alle, der die tatsächlichen Grundkonflikte der Gesellschaft völlig ausblendet. Eine Gesellschaft, in der Gleichberechtigung und Teilhabe für viele Menschen zur leeren Worthülse geworden sind. Auch für viele Sachsen.
Die Enttäuschung Robert Blums
Und das gibt genug Nährboden für all den Unwillen, der sich in Sachsen dann mit Pegida und AfD entfalten konnte. Aber Nitschkes Horizont ist viel weiter. Was er selbst beim letzten Abschnitt seiner Wanderung von 2012 deutlich machte, die ihn natürlich in seine Wahlheimatstadt Leipzig führte (seine Geburtsheimatstadt ist Dresden). Denn da fiel ihm dann natürlich das Schicksal von Robert Blum ein, der Leipzig einst in der Deutschen Nationalversammlung vertrat, aber dort schon erlebte, welche deprimierenden Spiele die konservativen Politiker spielen – damals so wie heute. Nitschke: „In der Paulskirche jedoch habe Blum erfahren, was es heißt, sich in das Haifischbecken der modernen Politik zu begeben. Er, der voller Zuversicht als linksliberaler Abgeordneter nach Frankfurt gefahren war, habe hier, im Parlament, die politische Ohnmacht gegenüber der selbstgefälligen Arroganz und Ignoranz der konservativ und national gesinnten Abgeordneten erfahren. Diese – sich ihrer parlamentarischen Mehrheit bewusst – lehnten radikal-demokratische Ideen aus Prinzip ab und amüsierten sich über ihn, den Idealisten.“
An der Stelle hatte Nitschke unterwegs schon dutzende – geistige Begegnungen – mit Denkerinnen und Denkern, die nicht nur für das krisenhafte 20. Jahrhundert wichtig waren, sondern deren Gedanken noch heute bemerkenswert sind – wenn man sie denn noch bemerkt und liest und sich nicht dem auf simplen technischen Fortschritt und die falsche Freiheit des Konsumierens beschränkt. Wenn man eben auch seine äußeren Horizonte weitet und sich immer wieder neu die Frage stellt, was menschlicher Freiheit also ausmacht – in diesem Fall mit Leuten wie Fromm, Popper, Rousseau, aber auch den Sachsen Lessing und Nietzsche. Dazu etliche kritische Dichter wie Volker Braun, Karel Capek, Durs Grünbein, Ringelnatz und Seume.
Und einigen davon kann man an der Strecke ja auch begegnen. Wobei Nitschke immer auch die Gegenwart reflektiert – den Umgang mit den Sorben in der Lausitz, die Angst vor den Wölfen, die Gier der Konzerne nach sächsischen Rohstoffen oder die verlogenen Träume der Immobilienentwickler, die das Land mit tristen Eigenheimsiedlungen zupflastern und diese dann auch noch „Gartenstadt“ nennen, obwohl sie mit dem großen Vorbild Hellerau, wo Nitschke aufgewachsen ist, nichts zu tun haben.
BĂĽcher im Kopf
Und auch auf seiner nachfolgenden Tour im Jahr 2022 – kurz nach dem Abflauen der Corona-Welle – zeigt Nitschke, das das Wandern bzw. Pilgern natürlich mehr anregt als das Gefühl, endlich einmal ein paar Tage frei zu sein von den Mühen des Alltags, sich wieder mit der prachtvollen Landschaft eins zu fühlen und sich ganz dem Schweifen der eigene Gedanken überlassen zu können.
Gedanken, die dann bei Nitschke natĂĽrlich auch wieder im Kosmos der von ihm gelesenen BĂĽcher landen. Der ja kein weltabgewandter Kosmos ist. Das glauben nur die Leute, die BĂĽcher fĂĽr eine Zumutung halten. Denn die tatsächlichen Streitgespräche unserer Zeit werden in BĂĽchern gefĂĽhrt, eben leider nicht im Fernsehen und auch nicht in Zeitungen. Sonst wĂĽrden viele Diskussionen nämlich anders laufen – auch im Bewusstsein der Gefahren, die in einer Gesellschaft stecken, die sich darauf verlässt, dass ein entfesselter Kapitalismus auch eine lebendige Demokratie mit sich bringt. Doch das ist ein Trugschluss. Denn wer alles dem entfesselten Markt ĂĽberlässt, schafft am Ende nur die heute ĂĽberall sichtbar aufklaffende Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Profiteuren („einer privilegierten Oberschicht“) und Abgehängten. Und damit, wie Nitschke bei Karl Polanyi lesen konnte, den Keim fĂĽr eine faschistoide Entwicklung, bei der die Ressentiments der Benachteiligten sich in Ausgrenzung und Radikalisierung austoben.
Und keineswegs überraschend macht er sich dann im Vorwort zum neuen Pilgerweg eine Menge Gedanken darüber, welche Rolle eigentlich der marginalisierte Osten im Selbstbild des Westens spielt. Hier kommt auch der Topos vom „Kleinen Mann“ nach der Definition von Wilhelm Reich ins Spiel, der „kleine Mann“, der nicht merken will, wie er am Nasenring durch die Manege geführt wird. Kein optimistischer Start für die 200 Kilometer von Görlitz über Arnsdorf, Bautzen, Crostewitz, Königsbrück und Schönfeld / Großenhain, bis die Tour wieder nach Leipzig und am Ende nach Klein Liebenau führt, wo Nitschke ein zweites Mal in der Kirche übernachten darf. Denn der Pilgerweg wird zwar eifrig genutzt – aber einige Stationen, die Nitschke noch 2012 gastfreundlich empfingen, sind verschwunden, geschlossen, dem „freien Wüten des Marktes“ zu Opfer gefallen.
Schiller, Hölderlin und die Freundschaft
Und so findet er auch einige kritische Worte zu seinem Leipzig, dessen marktkompatibler Geist mit einem Retorten-Fußballverein ihn doch sehr bedenklich stimmt. Auch weil er hier den liberalen Geist findet, der sich manchmal sehr hochmütig von den Leuten da draußen in Lande absondert. Und gleichzeitig ist es die Stadt, deren Freiheitswillen sie auch heute noch deutlich unterscheidet – auch vom konservativen Dresden. Hier findet er Schillers Freundschaftsdenken, landet letztlich aber bei Hölderlin: „wo aber Gefahr, wächst das Rettende auch.“ Was aber leider auch sein Gegenteil einschließt: Wo das Rettende sichtbar wird, ist auch die Gefahr nicht weit, dass die Sache wieder schiefgeht.
Aber im Grunde bestärkt Nitschke, was auch so viele Wanderer vor ihm festgestellt haben: Wandern bringt die Gedanken in Bewegung. Und wenn man auch noch neugierig ist auf Land und Leute unterwegs, entdeckt man oft Seiten an vorbeurteilten Landschaften, die man so nicht erwartet hätte. Und das Erstaunliche: Den größten Dissens auf dieser zweiten Tour erlebt der Lehrer aus Leipzig ausgerechnet mit einem Lehrer aus dem Westen, den er unterwegs auf dem Jakobsweg trifft, der nichts besseres zu tun weiß, als alle seine westdeutschen Vorurteile über den Wanderer aus dem Osten auszukübeln und ihn in den Zustand tiefster Beschämung zu versetzen.
Was bleibt? Der Trotz diverser Lessing-Preisträger und eine Ermutigung Hannah Arendts, die in einer Lessingrede 1959 darauf hinwies, „das Freundschaften im Sinne der Vita activa – des tätigen Lebens – stets auch eine politische Dimension haben, und dass sie Menschen mit einem gemeinsamen Interesse fĂĽr die Welt dazu befähigt, ‘in finsteren Zeiten’ wachsam und den Freuneden gegenĂĽber aufgeschlossen zu sein.“
Man sollte sich also Weggefährten suchen, mit denen das Pilgern Mut macht und Horizonte öffnet. Und mit denen der Weg zu gemeinsamen Zielen leichter fällt, weil man sich nicht gegenseitig runterzieht, sondern bestärkt und ermutigt. Auch das ist ein Sinn des Jakobsweges, den längst schon viele Menschen wandern, die gar nicht auf mystische Erweckungen warten, sondern auf das Gefühl, ein Mensch auf dem richtigen Weg zu sein. Mit Zielen, die sich alle erlaufen lassen, wenn man nur erst den ersten Schritt aus der Pilgerherberge getan hat.
Thomas Nitschke „Kulturphilosophisch Wandern. Essays auf dem Jakobsweg in Sachsen“, Thelem Universitätsverlag, Dresden und München 2024, 24,80 Euro
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