Am 22. April jährt sich der Geburtstag von Immanuel Kant zum 300. Mal. Doch während man bei vielen seiner einst berühmten Zeitgenossen erst überlegen muss, wofür sie eigentlich mal bekannt waren, erfreut sich der Philosoph aus Königsberg noch immer bester Bekanntheit. Tatsächlich ist er noch berühmter als zu seinen Lebzeiten, denn gelesen und diskutiert wird er heute weltweit. In einigen Weltregionen sogar intensiver als in Deutschland.

„Kosmopolit digital im postkolonialen Zeitalter“ hat Wolfgang Schmale deshalb sein Buch über die digitale Existenz Kants im heutigen World Wide Web untertitelt. Darin geht es mal nicht um die Deutung seines Werkes, wie es Omri Boehm und Daniel Kehlmann in ihrem Buch „Der bestirnte Himmel über mir“ so schön intensiv getan haben.

Ihm geht es um die tatsächliche Beschäftigung der Neugierigen weltweit mit diesem Burschen aus Königsberg, der seine Heimatstadt praktisch nie verlassen hat. Und der sich eine Aufgabe gestellt hat, die sich selbst die großen Denker vor ihm nie wirklich zugetraut haben: die Grundlagen unseres Denkens bis auf den Grund zu erkunden. Und damit auch die Frage zu stellen: Wie verhalten wir uns eigentlich als moralische Wesen?

Fragen, die im Jahr 2024 so aktuell sind wie zu Kants Zeit. In einem Kapitel merkt Schmale fast beiläufig an, dass „die Aufklärung“ eben (leider) nicht gesiegt hat. Sie ist bis heute eine Herausforderung geblieben, denn Unwissenheit, Lügen, Ichsucht, Denkfaulheit, Machtgelüste und simple Gier sorgen noch immer dafür, dass die Welt genauso grausam und unvernünftig ist wie zu Kants Zeiten.

Unvernünftig im Sinne Kants, der ja gerade das, was einige Leute für gesunden Menschenverstand halten, gründlich und nachhaltig demontiert hat. Sodass seine drei großen Kritiken bis heute gelesen und rezipiert werden – in Afrika genauso wie in Indien und in Südamerika.

Welche Aufklärung bitte?

Manchmal staunt Schmale selbst, dass auf dem Ursprungskontinent der Aufklärung die Würdigung Kants mit WWW-Beiträgen, Youtube-Clips oder Wikipedia-Bearbeitungen geringer zu sein scheint als in den Ländern des Südens. Denn genau das erfasst er in seinem Buch möglichst systematisch für den Zeitraum von 2015 bis 2022. Dabei nimmt er immer wieder auch ein Ensemble weiterer prägender Denker der Aufklärung zum Vergleich.

Denn natürlich ist anzunehmen, dass Kant nicht der einzige Philosoph ist, der aus dieser Epoche heute weltweit wahrgenommen und zitiert wird.

Dabei können zwei Franzosen – Voltaire und Rousseau – durchaus mithalten. Mal kommen auch John und Adam Smith zu einer ähnlichen Wahrnehmung. Schon an den Namen merkt man ja, dass es „die Aufklärung“ so nie gab. Worauf Schmale am Ende des Buches noch einmal intensiv eingeht, weil selbst in akademischen Diskursen mittlerweile Vorstellungen über „die Aufklärung“ etabliert zu sein scheinen, die mit deren Wahrnehmung in den Augen der Zeitgenossen nichts zu tun haben.

Während Kant selbst schon einen heute berühmten Aufsatz mit dem Titel „Was ist Aufklärung?“ schrieb, etablierten sich die Bezeichnungen für diese Epoche tatsächlich erst 100 Jahre später. Und die deutsche Aufklärung unterschied sich dabei signifikant von dem französischen Lumières und dem englischen Enlightenment.

Auch die Inhalte unterschieden sich. Aber die Stoßrichtung war dieselbe, wie Schmale betont: Es ging immer gegen die erstarrten Kirchen, Aberglauben und die feudalen Machtstrukturen. Die bis heute bekannten Denker dieser Zeit schufen erst die geistigen Grundlagen, mit denen sich unser modernes Verständnis von Menschenwürde und Menschenrechten etablieren konnte.

„Für die Zeitgenoss*innen des 18. und meistens auch noch des 19. Jahrhunderts erschütterten die Aufklärer*innen vor allem die traditionellen Mächte, die Kirche und die mehr oder weniger absolutistische Monarchie, die über Körper, Seelen und Vermögen der Menschen bestimmen“, schreibt Schmale.

Ein fehlbarer Philosoph

Wer dann freilich einen Kant auch noch für Kolonialismus und Rassismus verantwortlich macht, verfehlt das Thema völlig. Auch dazu schreibt Schmale einen ganzen Abschnitt, weil er davon ausgehen muss, dass viele Diskussionsteilnehmer über die Ursprünge von Rassismus und Kolonialismus (die übrigens die beiden Seiten einer einzigen Medaille sind) nichts wissen.

Denn dann muss man etwas über den europäischen Kolonialismus wissen, der mit den großen „Entdeckungsfahrten“ Ende des 15. Jahrhundert begann und der Unterdrückung der Völker in den von Europäern eroberten Gebieten seine traurigen Gipfel erreichte. Doch beides war zu Kants Zeiten schon voll ausgeprägt. Kant wuchs hinein in diese Zeit. Dass er in seinen späteren Arbeiten ein völlig anderes Menschenbild entwarf, gehört einfach mit dazu.

Dieser Philosoph war lernfähig. „Dass Kant in seiner über die Jahrzehnte ausgebreiteten Lehre über die Verschiedenheit der Menschen (Anthropologie) irrte und sich als fehlbar erwies, rückt ihn meistens nur näher an uns heran“, schreibt Schmale, „insoweit die Distanz zwischen dem ‚Great Thinker‘, der in der modernen Philosophie die ‚Kopernikanische Revolution‘ bewerkstelligte, und uns kleiner wird: Der Revolutionär der Philosophie war nicht perfekt, schon gar nicht unfehlbar! Die immense digitale Präsenz Kants signalisiert: Er ist für uns da, wir brauchen nicht zu fürchten, ihn nicht zu verstehen, wir dürfen ihn daher auch kritisieren.“

Denn mindestens mit seiner Schrift zur Aufklärung und dem längst zum Schlagwort gewordenen „Kategorischen Imperativ“ steht Kant bis heute auf Seiten der Humanität, der Freiheit und der Emanzipation. Selbst da, wo er und seine (meist männlichen) Gesprächspartner überhaupt nicht daran gedacht haben, dass das auch für Frauen, Besitzlose und Menschen in anderen Ländern gelten würde.

Doch Kants Sätze sind so prägnant, dass sie auch in Brasilien und Indien mit Hochachtung wahrgenommen werden. Selbst wenn man dort die Aufklärung als durchaus europäisches Thema begreift, andererseits aber auch deutlicher als hierzulande sieht, dass die Aufklärer auch das kritisierten, was der Kolonialismus weltweit an Grauen verursachte.

Also nicht den seltsamen Trugschluss vollbringen, die Aufklärung geradezu verantwortlich für Kolonialismus und Rassismus zu machen.

Welcher Fortschritt ist gemeint?

Was mit dem oft unverstandenen Begriff „Fortschritt“ zu tun hat, den Schmale natürlich auch diskutiert. Doch ein Fortschritt in Ausbeutung, Eroberung und Waffentechnik ist ein völlig anderer Fortschritt, als ihn die europäischen Aufklärer mit ihren Schriften zu Gesellschaft und Menschenwürde im Sinn hatten. Ganz zu schweigen von der Verankerung von Menschenrechten in der Gesetzgebung, die bei Kant eine ganz wichtige Rolle spielt.

Und die heute weltweit ebenso rezipiert wird, denn autoritäre Krawallmacher, die Macht und Recht an sich reißen, tauchen seit geraumer Zeit überall in der Welt wieder auf. Meist mit der verlogenen Botschaft, sie allein hätten die Mittel, alles in Ordnung zu bringen. Während sie nichts anderes im Sinn haben, als Menschen wieder zu entrechten, Minderheiten auszugrenzen oder gar zu verfolgen.

Und ansonsten bevorzugen, dass ihre mit Parolen aufgeheizte Gefolgschaft nur ja nicht beginnt, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen.

Denn Aufklärung kann man zwar geschichtlich als eine Epoche beschreiben. Aber tatsächlich ist sie eine fortwährende Herausforderung. Und genau das zeigen Schmales statistische Erhebungen zur Kant-Rezeption in der Welt. Kants Gedanken sind so aktuell wie zu seinen Lebzeiten. Doch der Kreis derer, die sich dadurch angesprochen fühlen, hat sich dramatisch erweitert.

Ein digitaler Kosmopolit

Wolfgang Schmale bringt es so auf den Punkt: „Das heißt also nicht, dass dieselben Texte damals schon so verstanden wurden, wie sie heute verstanden werden können. (…) Sie können heute wie eine allgemeine Erkenntnislehre des Menschen gelesen werden, bei der es keine Rolle spielt, welches Geschlecht oder welche Hautfarbe ein Mensch besitzt. Der Mensch erkennt so und nicht anders – so kann man ‘Die Kritik der reinen Vernunft’ lesen. Aber Kant muss es selbst deshalb nicht genau so verstanden haben.“

Und gerade das ist das Fruchtbare an seiner Philosophie: Indem der Philosoph versuchte, dem menschlichen Denken ohne Vorurteile und völlig rational auf den Grund zu gehen, hat er die Tore himmelweit aufgerissen, dass sich auch alle Menschen, die zu Kants Zeit nicht mitgemeint waren, eben darin wiedererkennen können. Und daraus ihre Forderungen nach Menschenwürde und Menschenrechten ableiten können.

Kants Sätze sind Maßstab für heutige Diskussionen, in denen längst Menschen zu Wort kommen und gehört werden wollen, an die Kant beim besten Willen nicht gedacht hat. Auch wenn er in späteren Jahren begriff, dass es nur ein Menschsein gibt, das für alle Menschen gilt. Ausnahmslos.

Und Schmales Blick in die Online-Präsenzen von Immanuel Kant zeigt, dass der Königsberger genau so wahrgenommen wird – in manchen Ländern stärker und intensiver als in anderen. Aber seine Gedanken haben nichts an Aktualität eingebüßt. Sie zeigen erst dadurch, dass Kant derart zum digitalen Kosmopoliten wurde, dass sie den Kern des Menschseins treffen. Und dass man auf Kant zurückgreifen kann, wenn man mit heutiger Unvernunft, Demagogie und Entrechtung konfrontiert wird.

Wolfgang Schmale „#ImmanuelKant“ Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024, 16 Euro.

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