Mit โDer rote Judasโ ging es 2020 los, mit โEvas Racheโ endet Thomas Ziebulas Zeitreise ins Leipzig in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, wo Kriminalinspektor Paul Stainer in den รผbelsten Mordfรคllen der Stadt ermitteln muss. Dabei plagen ihn selbst die Albtrรคume des Krieges, wie so viele der Mรคnner, die im Leipzig der Nachkriegszeit wieder Tritt zu fassen versuchen. Doch einige sind im Krieg auch zu Bestien geworden.
Als Thomas Ziebula 2020 seine Krimi-Serie um Inspektor Stainer zu verรถffentlichen begann, war noch nicht absehbar, dass ein neuer Krieg die Schreckensbilder des Ersten Weltkriegs wieder wachrufen wรผrde. Und Inspektor Stainers letzten Fall so aktuell wirken lassen wรผrde. Nicht nur, weil Stainer lรคngst schon mit seiner Arbeit in der Leipziger Wรคchterburg hadert und zunehmend die Geister in seinem Kopf mit Alkohol zu betรคuben versucht.
Die nie aufgearbeitete Gewalt, welche die deutschen Soldaten in den Gemetzelns des Krieges erlebt haben, bestimmte auch das Klima in der noch jungen Weimarer Republik. Nicht nur der Staat reagierte mit Gewalt auf Entwicklungen, die das junge Staatswesen zu gefรคhrden schienen. Die Operationen der Truppe von General Maercker sind im Leipzig des Jahres 1922 noch in frischer Erinnerung.
Die Albtrรคume der jungen Republik
Aber lรคngst formieren sich die Verbรคnde und Parteien, welche die junge Republik zutiefst verachten und blutige Rachefeldzรผge gegen ungeliebte Politiker begehen. Ihr jรผngstes Opfer ist der im Juni 1922 ermordete Reichsauรenminister Walther Rathenau.
Und diese Typen, die keine Skrupel kennen bei der Durchsetzung ihrer Absichten, tauchen selbst im Dienstbereich von Stainer auf. Der schon in frรผheren Bรคnden dieser Reihe unangenehm und รผberheblich agierende Kommissar Heinze ist ganz offensichtlich Mitgrรผnder des sรคchsischen Ablegers der NSDAP geworden.
Und es kann passieren, dass der Mann, der schon mehrfach Stainers Arbeit gestรถrt hat, nun gar zu seinem Chef aufsteigt, wenn die bislang in stรคdtischer Regie agierende Polizei nun in die sรคchsische Landespolizei eingegliedert wird.
Dass Stainers SPD-Genosse Heinrich Fleiรner 1923 Polizeiprรคsident werden kรถnnte, weiร Stainer zwar.
Aber das hilft ihm nicht viel. Denn auf der Jagd nach der โBestie von Leipzigโ hat er sich mit einem hochdekorierten Weltkriegs- โHeldenโ angelegt. Der Mann trรคgt den hรถchsten Kriegsorden des Kaiserreiches, den โPour le Mรฉriteโ. Dass Stainer ihn festnehmen lรคsst, nachdem er mit seinem Motorrad eine junge Frau angefahren hat, nehmen ihm die Rรผckwรคrtsgewandten รผbel und initiieren eine regelrechte Zeitungskampagne gegen den Ermittler.
Zwischen Messe und Inflation
Dass der rasende Kriegsheld nicht die โBestie von Leipzigโ ist, die die Leipziger jetzt seit Wochen erschreckt, stellt sich dann wie nebenbei in der Ermittlung heraus, bei der es auch um eine verschwundene junge Frau geht. Um eben jene Eva, die es diesmal in den Titel geschafft hat. Doch es sind ganz andere Bestien, die es auf sie abgesehen haben.
Stoff genug fรผr Thomas Ziebula, der eigentlich in Unkel am Rhein lebt, fรผr den Leipzig aber seine Lieblingsstadt in Deutschland ist, die Atmosphรคre dieses vierten Nachkriegsjahres zu zeichnen.
Das Leipzig der Jahre 1920 bis 1922, in denen er seine vier Stainer-Krimis spielen lรคsst, hat es ihm angetan. Er legt viel Wert auf eine mรถglichst authentische Kulisse, was nicht so ganz einfach ist. Dazu hat er sich auch kompetente historische Hilfe direkt aus Leipzig geholt, sodass es ihm mรถglich ist, eine Stadt zu rekonstruieren, die knapp vier Jahre nach dem Krieg wieder versucht, an das Leben und die Erfolge von vor dem Krieg anzuknรผpfen.
Zur Messezeit ist die Stadt wieder voller Geschรคftsleute. Fรผr die diversen motorisierten Gefรคhrte, mit denen Ziebula seine Polizeitruppe durch die Stadt jagen lรคsst, um mรถglichst das Schlimmste zu verhindern, ist kaum ein Durchkommen.
Doch schon kรผndigt sich das nรคchste Drama an: die Inflation, die das Geld der Deutschen komplett entwerten wรผrde. Auch das ein Kriegseffekt, denn auch den Weltkrieg hatte Deutschland letztlich auf Pump finanziert. Wie eigentlich jeder Krieg finanziert wird. Solange die Rรผstungsindustrie auf Hochtouren lรคuft und genug Mรคnner zum Verrecken an die Front geschickt werden kรถnnen, funktioniert dieses Spiel der Mรคchtigen.
Da kann man das Volk noch mit Siegesparolen und Kriegsbegeisterung fรผr dumm verkaufen. Die Rechnung gibtโs spรคter mit einer massiven Geldentwertung.
Und mit Millionen Mรคnnern, die den Krieg in den Knochen und im Kopf haben. Eben wie Paul Stainer, der eigentlich keine verstรผmmelten Leichen mehr sehen will, schon gar nicht die von brutal zugerichteten jungen Frauen. Sein Vorgesetzter schรคtzt ihn zwar, kann aber nur wenig ausrichten gegen die gut vernetzten Leute, die lรคngst schon wieder ihre verlogenen Heldenlieder singen und auf Rache sinnen.
Und auf jede Menge Unterstรผtzung im konservativen Verwaltungsapparat rechnen kรถnnen. Das kommende Verhรคngnis kรผndigt sich an.
Leipzig zwischen den Welten
Aber noch feiert Leipzig. Und Stainers gute Bekannte, der er nur zรถgerlich einen anderen Platz in seinem Leben zuschreiben mรถchte, feiert als Malerin Erfolge. Auch dieses neue, moderne und lebensatmende Leipzig wird stรผckweise sichtbar. Es existiert geradezu parallel zu dem alten, konservativen und bierseligen Leipzig, in dem der Revanchismus sich lรคngst wieder lautstark zu Wort meldet.
Man spรผrt, warum Ziebula gerade dieses Leipzig zwischen den Welten so aufregend findet und zum Schauplatz seiner vier Stainer-Romane gemacht hat. Und so recht mag man gar nicht glauben, dass er nach diesem vierten Band einfach aufhรถrt. Den Fall um die entfรผhrte Eva hat er natรผrlich gelรถst. Aber das ging nicht ohne Blessuren ab. Sein bester Freund wurde dabei lebensgefรคhrlich verletzt. Etliche Akteure liegen in ihrem Blut und verschaffen dem schwergewichtigen Dr. Prollman eine Menge Arbeit.
Aber Ziebula geht es gar nicht um undurchsichtige oder besonders clevere Kriminalfรคlle. Die Fรคlle, mit denen es Stainer zu tun bekommt, erweisen sich als zutiefst trivial, zeugen von Gier, รberschรคtzung und Rachsucht, zeigen letztlich das Kleinliche und Missbrauchbare im Menschen. Da spielt dann auch ein russischer Geheimdienstagent seine finstere Rolle. Einer von den vielen Agenten, die das 20. Jahrhundert zu einem Tummelplatz der Erpresser, Peiniger und Verfolger machen sollten.
Genug von all der Grausamkeit
Die menschliche Grausamkeit macht Stainer das Leben und die Arbeit bitter. Man versteht den Mann, dessen Haar bei all dem Entsetzen lรคngst schlohweiร geworden ist, nur zu gut. Rosa will ihn zwar trรถsten und seine Suspendierung vom Dienst nicht fรผr endgรผltig ansehen. Aber Stainer selbst hat schon lange innerlich abgeschlossen: โWeiterhin im Scheiรdreck wรผhlen, den unsere Gattung Tag fรผr Tag verzapft? Das kรถnnen andere besser als ichโ, behauptet er.
Obwohl man ja an dieser Stelle schon 47 Kapitel lang miterlebt hat, wie er seine Fรคlle bearbeitet und dass es eigentlich genau solche Typen braucht, den Dreck anderer Leute aufzuklรคren und aufzurรคumen. Ermittler, die sich nicht durch politische Groรmรคuler in ihre Arbeit hineinreden lassen und auch die hochdekorierten Kriegshelden nicht verschonen, wenn die auf Abwegen erwischt werden.
So ganz unvertraut ist einem ja dieses Leipzig von 1922 nicht. Die Leute, die glauben, durch Amt und Orden frei von jeder Rechenschaft zu sein, gibt es schon lange wieder. Und โBestienโ, die sich an Schwรคcheren vergreifen, ebenfalls. Da wรผnscht man sich eigentlich, dass die Polizei nicht immer wieder politisch instrumentalisiert wird. Aber manch zustรคndiger Politiker scheint es nicht verstehen zu wollen.
Der Traum vom Fliegen
Die im Titel erwรคhnte Eva bekommt am Ende ihre Rache โ aber nicht ganz so, wie sie sich das anfangs vorgestellt hat. Und dabei muss sie selbst eine Tortur รผber sich ergehen lassen, die sie sich in ihren schlimmsten Trรคumen nicht ausgemalt hat. In ihren Trรคumen dominiert eigentlich das Fliegen. Auch als Sinnbild einer Befreiung aus der braven Mรคdchenrolle an der Seite eines erfolgreichen Mannes, der Frauen tatsรคchlich nur wie kleine dumme Anhรคngsel betrachtet.
Womit Ziebula eben auch eine weitere Facette der Frauenemanzipation behandelt.
Durchaus kritisch, denn aus den ersten drei Bรคnden weiร man ja auch, dass er selbstbewusste und kluge Frauen bevorzugt โ genauso wie sein Inspektor Paul Stainer, der ganz offensichtlich auch unter diesem Zwiespalt leidet, in einem Land zu leben, das sich auch in der Beziehung der Geschlechter zueinander gerade modernisiert.
Und gleichzeitig treten die Mรคchte des Alten zunehmend rรผcksichtsloser und brutaler auf.
Auch das sehr gegenwรคrtig, wie man merkt. Es sind sehr heutige Phรคnomene, die Ziebula in Szene setzt, wenn er Stainer und seine jรผngeren Ermittlerkollegen losschickt, die โBestie von Leipzigโ zu finden.
Thomas Ziebula โEvas Racheโ Wunderlich/Rowohlt Verlag, Hamburg 2024, 24 Euro.
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